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Unschlüssig und am ganzen Körper zitternd lauschte Veronika, bis der letzte Schritt verklungen war. Was sollte sie tun? Stephans Tod hatte ihre Gedanken einen Augenblick von Franz' Schicksal abgelenkt. Jetzt aber befiel sie von neuem die Angst: Was war aus ihrem Sohn geworden? Sollte sie in der Abtei suchen und gegen die Gefahren, die ihn dort umlauerten, schützen? Mut, sagte sie, ich verliere die Überlegung ... Ich will nachdenken ... Vor ein paar Stunden war Franz noch hinter diesen Mauern und sprach mit mir ... Denn es war bestimmt Franz, der meine Hand ergriff und sie mit Küssen bedeckte ... Eine Mutter täuscht sich nicht. Mein ganzes Herz floß über von Zärtlichkeit und Liebe für ihn ... Aber hat er seit heute morgen nicht vielleicht sein Gefängnis verlassen?
Nachdenklich hielt sie inne, dann überlegte sie weiter:
So ist es, so hat sich alles zugetragen ... Stephan und ich wurden in der unteren Höhle überrascht. Darauf schritten die Feinde zum Angriff. Dieses Ungeheuer, Vorskis zweiter Sohn, ist eigens hinaufgestiegen, um Franz hier zu überwachen. Er hat das Verlies leer gefunden, und da er die Öffnung hier sah, ist er bis hierhin vorgedrungen.
So muß es gewesen sein. Auf welchem anderen Weg hätte er sonst hierher gelangen sollen? Als er das Fenster sah, kam ihm gleich der Gedanke, daß es sicher aufs Meer hinaus ginge, und daß Franz es zu seiner Flucht benutzt habe. Er sah dann die Haken der Leiter, und als er hinunterblickte, entdeckte er mich. Er erkannte mich und rief mir zu ... Jetzt läuft er nach der Abtei, wo er unweigerlich Franz treffen wird.
Einer inneren Stimme gehorchend, regte sich Veronika nicht; sie hatte das Gefühl, daß nicht in der Abtei, sondern hier, in diesen Gängen, Gefahr lauere. Sie fragte sich, ob Franz wirklich hatte entkommen können, und ob er nicht, ehe er fertig geworden war, von den Feinden überrascht und angegriffen worden sei.
Eine entsetzliche Ahnung quälte sie. Hastig duckte sie sich, und da sie merkte, daß die Öffnung vergrößert worden war, wollte sie hindurchsteigen. Aber der Ausgang, der höchstens für ein Kind genügte, war für sie zu eng. Ihre Schultern kamen nicht hindurch. Sie ließ nicht nach und, obgleich ihre Kleider zerrissen und ihre Haut an dem rauhen Gestein wund gerieben wurde, gelang es ihr endlich nach langer Geduld und vieler Mühe, sich hindurchzuzwängen.
Die Zelle war leer. Aber die Tür nach dem entgegengesetzten Gang stand offen, und Veronika schien es, als ob durch diese geöffnete Tür irgend jemand hinausschliche. Das, was sie sah, genügte jedoch, um Veronika die Gewißheit zu geben, daß es eine Frau war, die sich im Gang verborgen hielt, und die durch ihr unerwartetes Eindringen überrascht worden war.
»Sie gehört sicher zu ihm«, dachte Veronika. »Sie ist mit dem Knaben, der Stephan getötet hat, heraufgekommen, und gewiß hat sie Franz fortgeschleppt. Vielleicht ist sogar Franz noch hier, ganz in meiner Nähe, und sie beobachtet mich.«
Die Augen Veronikas aber, die sich langsam an das Halbdunkel gewöhnt hatten, unterschieden jetzt deutlich am Türgriff die Hand einer Frau, die sie zuziehen wollte.
»Warum schließt sie die Tür nicht ganz«, fragte sich Veronika, »da sie doch offenbar diese Absicht hat.«
Die Antwort konnte sich Veronika selbst geben. Sie hörte, daß die Tür an einen kleinen Stein stieß, der sich dazwischen geklemmt hatte. Sobald dieses Hindernis entfernt war, würde die Tür zugehen. Mit plötzlichem Entschluß ergriff Veronika den eisernen Türgriff und zog die Tür zurück. Die Hand verschwand, aber von der anderen Seite mußte auch ein Türgriff sein, denn der Widerstand blieb bestehen.
Sie hörte einen Pfiff. Die Frau schlug Lärm.
Fast gleichzeitig hörte man im Gang draußen, nicht weit von der Frau entfernt, eine Stimme:
»Mutter, Mutter.«
Ach, welche Gefühle löste dieser Ruf in ihr aus. Ihr Sohn, ihr wirklicher Sohn, rief nach ihr. Er war gefangen, er lebte noch! Welch eine unfaßbare Freude!
»Hier bin ich, mein Kind.«
»Eile dich, Mutter, sie haben mich gebunden. Der Pfiff war ihr Signal, gleich werden sie kommen.«
»Hier bin ich, ich rette dich!«
Sie zweifelte nicht mehr an dem Ausgang. Es schien ihr, als habe sie grenzenlose Kräfte und als könnte nichts der verzweifelten Anspannung ihres Willens widerstehen. In der Tat wurde der Widerstand schwächer, und Veronika gewann an Boden.
Die Tür sprang auf, Veronika konnte hindurch. Die Frau draußen lief schon den Gang entlang. Sie zog den Knaben an einem Strick hinter sich her, um ihn trotz seiner Fesseln zu zwingen, ihr zu folgen. Aber vergeblich. Sie gab den Versuch bald auf. Veronika stand vor ihr, mit dem Revolver in der Hand.
Die Frau ließ das Kind los. Hellbeleuchtet von dem durch die offene Zelle eindringenden Licht, stand sie da. Sie trug ein weißes Gewand mit einem Strick als Gürtel. Ihre Arme waren nackt. Das noch junge Gesicht war verblüht, mager und runzelig. In ihrem blonden Haar zeigten sich weiße Strähnen. Ihre Augen blickten zornig und haßerfüllt.
Schweigend sahen die beiden Frauen einander an, wie zwei Feinde, die ihre Kräfte gemessen haben und zum Schlag ausholen.
»Wenn Sie meinem Sohn auch nur ein Haar krümmen, schieße ich.«
Die Frau schien keine Angst zu haben. Sie horchte auf, anscheinend in der Hoffnung auf Hilfe. Nichts rührte sich; dann blickte sie auf Franz nieder und machte eine Bewegung, als ob sie sich wieder auf ihre Beute stürzen wollte.
»Rühren Sie ihn nicht an!« wiederholte Veronika heftig. »Rühren Sie ihn nicht an, oder ich schieße.«
Die Frau zuckte nur mit den Schultern und sagte:
»Du brauchst nicht zu drohen. Wenn ich deinen Sohn hätte töten wollen, so wäre es schon geschehen. Seine Stunde ist noch nicht gekommen, und nicht von meiner Hand wird er sterben.«
Bebend unterbrach sie Veronika: »Und durch wen soll er sterben?«
»Von der Hand meines Sohnes, den du eben gesehen hast.«
»So ist also das Ungeheuer, der Mörder, dein Sohn?«
»Es ist der Sohn ...«
»Schweigen Sie, schweigen Sie«, befahl Veronika. Sie begriff, daß diese Frau die Geliebte Vorskis gewesen war und fürchtete, daß sie in Franz' Gegenwart etwas darüber sagen würde. »Schweigen Sie, ich will diesen Namen nicht hören.«
»Du wirst ihn hören, wenn es nötig ist«, sagte die Frau. »Wenn ich deinetwegen gelitten habe, Veronika, so ist jetzt die Reihe an dir!«
»Geh«, schrie Veronika, die noch immer den erhobenen Revolver in der Hand hielt.
»Geh, oder ich schieße, das schwöre ich dir beim Leben meines Sohnes.«
Ängstlich wich die Frau zurück, dann wurde sie von neuer Wut ergriffen. Unfähig, sich zu wehren, erhob sie ihre beiden Fäuste gegen Veronika, und mit rauher, abgerissener Stimme zischte sie:
»Ich werde mich rächen ... du wirst es erleben ... das Kreuz ... weißt du, ist schon aufgerichtet ... du bist die vierte ... ach, welch eine Rache ...«
Sie schüttelte wild ihre Fäuste.
»Oh, wie ich dich hasse«, fuhr sie fort. »Fünfzehn Jahre hasse ich dich schon, aber das Kreuz wird meine Rache sein. Ich selbst werde dich dort oben anbinden. Das Kreuz steht schon da, warte nur ...«
Hoch aufgerichtet, wich sie langsam vor dem drohend erhobenen Revolver zurück.
»Töte sie nicht, Mutter«, flehte Franz, der ahnte, welch ein Kampf sich in der Seele seiner Mutter abspielte.
Veronika schien wie aus einem Traum zu erwachen und antwortete:
»Nein, du brauchst nichts zu fürchten. Besser wäre vielleicht ...«
»Ach, ich bitte dich, laß sie gehen, und wir wollen so schnell wie möglich fliehen.«
Noch bevor die Frau verschwunden war, hielt sie ihn schon in ihren Armen, drückte ihn an sich und trug ihn in die Zelle zurück, als ob er noch ein Kind wäre.
»Mutter, Mutter«, wiederholte er.
»Ja, Kind, ich bin es, und jetzt wird dich mir niemand mehr entreißen, das schwöre ich dir.«
Ohne Rücksicht auf die rauhen Steine glitt sie dann schnell durch die von Franz vergrößerte Öffnung, zog das Kind nach sich, und erst jetzt nahm sie sich die Zeit, die Stricke zu durchschneiden.
»Hier sind wir außer Gefahr, wenigstens für den Augenblick, denn nur durch die Zelle hindurch kann man uns angreifen, und diesen Zugang werde ich zu verteidigen wissen.«
Innig hielten sie sich umschlungen.
»Ach, wie schön du bist«, sagte Veronika.
Nichts erinnerte sie an den Mörder, an das andere Kind, und sie wunderte sich, daß Honorine die beiden hatte verwechseln können. Sie wurde nicht müde, sein edles, offenes und sanftes Gesicht zu bewundern.
»Und du, Mutter, glaubst du, ich hätte mir vorstellen können, wie schön du bist? Selbst im Traume nicht, wenn du mir in der Gestalt einer Fee erschienst. Und doch hat Stephan mir oft erzählt ...«
»Beeilen wir uns, Liebling«, unterbrach sie ihn. »Wir müssen uns vor ihrer Verfolgung schützen. Wir müssen suchen fortzukommen.«
»Ja,« sagte er, »und Sarek müssen wir verlassen. Ich habe einen Fluchtplan entworfen, der auf jeden Fall Erfolg haben muß. Aber sag mir vor allem, was aus Stephan geworden ist.«
Ohne auf seine Frage zu antworten, zog sie ihn bei der Hand mit fort.
»Ich habe dir vieles zu sagen, Liebling, traurige Dinge, die du doch wissen mußt, aber jetzt im Augenblick ... müssen wir daran denken, uns in die Abtei zu flüchten. Jene Frau wird Hilfe holen und uns verfolgen.«
»Aber sie war nicht allein, als sie plötzlich in die Zelle trat und mich dabei überraschte, wie ich die Mauer durchbrach. Jemand war bei ihr, ein Bursche.«
»In deinem Alter?«
»Ich konnte ihn kaum sehen. Sie haben sich auf mich gestürzt und haben mich gebunden und in den Gang geschleppt; dann hat die Frau uns einen Augenblick allein gelassen, und er ging wieder in die Zelle zurück. Er kennt also jetzt diesen Weg und weiß, daß ein Ausgang bis zur Abtei führt.«
»Ja, allerdings, aber wir werden schon mit ihm fertig werden und diesen Ausgang versperren.«
»Aber dann bleibt doch noch die Brücke, die die beiden Inseln verbindet«, warf Franz ein.
»Die Brücke habe ich verbrannt«, sagte sie. »Die Abtei ist vollkommen abgeschnitten.«
Sie eilten schleunigst vorwärts.
»Ja«, sagte er. »Ich weiß, daß vieles geschehen ist, was ich nicht weiß und was du mir nicht sagst, um mich nicht zu erschrecken. Mutter, die Brücke, die du in Brand gesteckt hast ... mit dem schon bereitliegenden Benzin, nicht wahr, genau so, wie es mit Maguennoc vereinbart war für den Fall, daß Gefahr drohen würde ... Man hat also auch dich bedroht ... Und der Kampf begann zuerst gegen dich, Mutter? Und die Worte, die diese Frau mit solchem Haß aussprach, und dann ... vor allem eins, sage mir, was ist aus Stephan geworden? In meiner Zelle haben sie eben von ihm gesprochen, aber ganz leise ... All dies quält mich ... Ich sehe auch die Leiter nicht mehr, die du gebracht hattest.«
»Ich flehe dich an, Liebling, verlieren wir keine Zeit. Die Frau hat inzwischen sicher jemanden gefunden. Man ist uns auf der Spur.«
Das Kind horchte plötzlich auf.
»Hörst du etwas?«
»Ich höre Schritte.«
»Bist du sicher?«
»Schritte, die sich uns nähern ...«
»Oh,« stöhnte sie dumpf, »es ist der Mörder, der aus der Abtei zurückkommt.«
Zum äußersten entschlossen, faßte sie nach ihrem Revolver. Plötzlich aber stieß sie Franz in einen dunkeln Winkel, der sich rechts von ihr auftat. »Hier, hierhin«, rief sie. »Hier wird er uns nicht sehen.«
Die Schritte kamen näher.
»Duck dich«, sagte sie. »Und rühr dich nicht.«
Das Kind aber sagte:
»Du hast ja deinen Revolver in der Hand, Mutter, du wirst doch nicht schießen?«
»Ich müßte es wohl tun ...«, sagte Veronika. »Es ist ein solches Ungeheuer ... und ich hätte eigentlich ... Wir werden es vielleicht später einmal bereuen.«
Und fast, ohne es zu wollen, fügte sie hinzu:
»Er hat deinen Großvater erschossen.«
»Ach Mutter, Mutter!« Sie mußte ihn stützen, damit er nicht umsank. In der tiefen Stille ringsum hörte sie das Schluchzen des Kindes, das an ihrer Brust weinte und stammelte:
»Dennoch, töte ihn nicht.«
»Da ist er, mein Liebling, sei ruhig. Da ist er, siehst du ihn?«
Der andere ging vorüber. Langsam, etwas vorgebeugt, angestrengt lauschend. Jetzt erschien er Veronika von gleicher Größe wie ihr Sohn. Als sie ihn jetzt genauer ansah, wunderte sie sich nicht mehr, daß Honorine und Herr von Hergemont sich hatten täuschen lassen, denn es bestand in Wirklichkeit eine gewisse Ähnlichkeit, die durch die rote Mütze sicher noch erhöht worden war.
Er entfernte sich.
»Kennst du ihn«, fragte Veronika.
»Nein, Mutter.«
»Bist du sicher, ihn früher nie gesehen zu haben?«
»Ganz sicher.«
»Und er war es, der sich in der Zelle gemeinsam mit der Frau auf dich warf?«
»Ich bin ganz sicher, er hat mich sogar mit einem wahren Haß, ohne jeden Grund, ins Gesicht geschlagen.«
»Ach,« sagte sie, »all das ist unbegreiflich. Wann endlich werden wir aus diesem wüsten Traum erwachen?«
»Schnell, Mutter, der Weg ist frei, nützen wir die Gelegenheit.«
Jetzt, bei dem einfallenden Licht, gewahrte sie, daß er sehr bleich war, und seine Hand, die in der ihren lag, war eiskalt. Dennoch lächelte er ihr beglückt zu. Sie eilten weiter, durchschritten den in den Fels gehauenen Verbindungsgang, stiegen die Treppe hinauf und gelangten rechts von Maguennocs Garten ins Freie.
Die Sonne war im Untergehen.
»Jetzt sind wir gerettet«, sagte Veronika.
»Ja,« sagte das Kind, »aber nur, wenn wir nicht auf demselben Wege eingeholt werden. Wir müssen also den Ausgang versperren.«
»Wie das?«
»Warte auf mich, ich hole Werkzeug aus der Abtei.«
»Nein, wir wollen uns lieber nicht trennen, Franz.«
»Dann gehen wir zusammen hin, Mutter.«
»Wenn aber inzwischen der Feind käme?«
»Du hast recht, wir müssen ihn hier erwarten.«
»Hilf mir also, Mutter.«
Nach kurzer Prüfung stellten sie fest, daß der eine der beiden Steine, die sich über dem Eingang wölbten, nicht festhielt. Es war ihnen ein leichtes, ihn zu lockern und ihn dann hinabzustoßen. Der Stein rollte auf die Treppe, und Erde, Schutt und Mörtel fielen mit herunter, so daß die Öffnung, wenn nicht ganz unzugänglich, so doch schwer zu benutzen war.
»Dies wird genügen,« meinte Franz, »bis wir meinen Plan ausführen können. Sei ganz ruhig, Mutter, der Plan ist gut, und wir sind bald am Ziel.«
Nun erst erkannten sie, daß sie sich beide ausruhen mußten. Sie waren erschöpft.
»Leg dich nieder, Mutter, komm hierher. Hier unter dem vorspringenden Felsen, der eine Grotte bildet, ist der Boden mit weichem Moos bedeckt. Hier kannst du ruhen wie eine Königin.«
»Ach, geliebtes Kind«, flüsterte Veronika überglücklich.
Jetzt schien die Stunde gekommen, ihm alles zu erklären, und Veronika zögerte nicht mehr. Die Freude, seine Mutter wiedergefunden zu haben, würde ihn trösten über den Tod aller derer, die er gekannt und geliebt hatte. Sie erzählte ihm also rückhaltlos alles, während sie ihn an sich preßte und seine Tränen trocknete. Sie wußte wohl, daß ihre Liebe die Liebe und Freundschaft aller ersetzen konnte. Der Tod Stephans traf ihn besonders schwer.
»Bist du aber sicher, daß er tot ist«, fragte er. »Nichts beweist, daß er ertrunken ist. Stephan schwimmt doch ausgezeichnet ... und so ... sicher, Mutter, sicher, wir müssen hoffen. Siehst du, da kommt gerade ein Freund, der immer in den trübsten Stunden auftaucht, um daran zu erinnern, daß nicht alles verloren ist.«
Und wirklich kam Allesgut. Der Anblick seines Herrn schien ihn nicht zu überraschen. Allesgut war niemals überrascht. Er ließ sich durch nichts in seinen Gewohnheiten oder in seinen Unternehmungen stören. Nur Tränen schienen ihm einer besonderen Aufmerksamkeit wert zu sein. Veronika aber und Franz weinten nicht.
»Siehst du, Mutter, Allesgut ist ganz meiner Ansicht. Noch ist nichts verloren ... Aber du scheinst wahrhaftig etwas geahnt zu haben, alter Junge. Na, was hättest du wohl getan, wenn wir ohne dich die Insel verlassen hätten?«
Veronika sah ihren Sohn an.
»Die Insel verlassen?«
»Gewiß doch, und dies so schnell wie möglich. Das ist ja mein Plan, was sagst du dazu?«
»Aber wie können wir fort?«
»Mit einem Boot.«
»Ist denn hier in der Nähe ein Boot?«
»Ja, meines.«
»Wo denn?«
»Ganz nahe von hier, an der Spitze der Insel.«
»Kann man denn da hinunter? Der Fels ist doch so steil.«
»Das Boot liegt gerade da, wo er am steilsten ist, an einer Stelle, die man das Tor nennt. Gerade dieser Name gab Stephan und mir zu denken. Ein Tor kann nur einen Eingang und Ausgang bilden. Wir haben nun herausgefunden, daß im Mittelalter, als hier die Mönche noch lebten, das Gebiet der Abtei mit Wällen umgeben war. Es war also anzunehmen, daß dort ein Tor gewesen sein mußte, das den Zugang zum Meere bildete, und wirklich entdeckten wir nach einigen Erkundigungsfahrten mit Maguennoc oben auf dem Fels einen Spalt, eine Art Senkung, die mit Sand ausgefüllt war. Auf einer Treppe gelangte man zum Meere hinunter, sie führte zu einer kleinen Bucht, in die das Tor mündete. Wir haben das ganze wieder instand gesetzt. Mein Boot hängt unten am Felsen.«
Veronikas Gesicht schien wie verwandelt. »So sind wir also gerettet?«
»Ohne Zweifel.«
»Und dahin kann der Feind nicht gelangen?«
»Wie meinst du das?«
»Er hat sich das Motorboot angeeignet.«
»Wenn er das Boot noch nicht genommen hat, so beweist dies, daß er weder die Bucht noch das Tor kennt, das man vom Meer aus nicht sieht, da beides von tausend spitzigen Riffen umgeben ist.«
»Und was hindert uns, gleich aufzubrechen?«
»Die Dunkelheit, Mutter. So gut ich auch rudern kann und so genau ich alle Durchfahrten kenne, auf denen man Sarek verlassen kann, bin ich doch nicht ganz sicher, nicht an irgendeiner Klippe zu scheitern. Nein, wir müssen warten, bis es hell ist.«
»Das scheint mir endlos.«
»Nur ein paar Stunden Geduld, wir sind ja doch zusammen. Sobald es dämmert, steigen wir ins Boot und fahren um den Felsen herum bis zu der Stelle unter dem Verlies. Dort nehmen wir Stephan mit, der uns gewiß auf irgendeinem Felsen erwartet, und alle vier fahren wir davon, nicht wahr, Allesgut? Gegen Mittag sind wir in Pont-l'Abbé; das ist mein Plan.«
Veronika war außer sich vor Freude und Bewunderung. Sie hätte nie geglaubt, daß ein Kind soviel Geistesgegenwart zeigen könne.
»Dein Plan ist ausgezeichnet, Liebling, und du hast in allem recht. Allem Anschein nach hat das Glück sich zu unseren Gunsten gewendet.«
Die Nacht verlief ruhig. Nur einmal fuhren sie auf. Unter dem Schutt und den Steinen, die den Ausgang versperrten, hörte man ein Geräusch, und ein durch den Spalt dringender Lichtstrahl zwang sie, bis zum Augenblick ihrer Abfahrt Wache zu halten. Aber ihre Zuversicht wurde dadurch nicht getrübt.
»Ich bin völlig ruhig«, sagte Franz. »In dem Augenblick, als ich dich wiederfand, fühlte ich, daß es für immer war. Und bleibt uns nicht noch eine letzte Hoffnung? Hat Stephan dir davon erzählt? Vielleicht lachst du darüber, daß ich in einen Retter, den ich nie gesehen habe, soviel Vertrauen setze. Du kannst mir glauben, Mutter, daß selbst, wenn ich einen gezückten Dolch vor mir sähe, ich doch sicher wäre, völlig sicher, glaube mir, daß eine Hand den Stoß abwenden würde.«
»Ach«, seufzte sie, »diese rettende Hand hat doch alles Unglück nicht verhindert, das ich dir erzählt habe.«
»Was meine Mutter bedroht, wird sie aber zu vereiteln wissen.«
»Und dieser unbekannte Freund ist nicht einmal in Kenntnis gesetzt worden?«
»Er wird trotzdem kommen, man braucht ihn nicht zu benachrichtigen. Er weiß doch, daß die Gefahr groß ist. Er kommt, darum mußt du mir Versprechen, nie den Mut zu verlieren, was auch geschehen mag.«
»Ja, ich werde mutig sein, ich verspreche es dir.«
»Das kannst du auch,« sagte er lachend, »denn jetzt nehme ich die Sache in die Hand, und fein werde ich es machen, nicht wahr, Mutter?«
»Schon gestern machte ich mir klar, daß, um alles zum guten Ende zu führen, und damit meine Mutter weder Hunger noch Kälte erleiden müsse, falls wir uns heute nachmittag hätten einschiffen können, Decken und Lebensmittel nötig wären. Das wird uns für heute nacht zustatten kommen, denn da wir unseren Posten hier nicht verlassen dürfen, können wir auch nicht in der Abtei schlafen.«
Alle beide aßen jetzt vergnügt und mit gutem Appetit.
Dann wickelte Franz seine Mutter in die Decken, und glücklich, ohne jede Furcht, dicht aneinandergeschmiegt, schliefen sie ein.
Als die kühle Morgenluft Veronika aufweckte, sah sie am Horizont einen rosigen Lichtschein.
Franz schlief friedlich wie ein Kind, das sich beschützt und von keinem bösen Traum bedroht fühlt. Veronika betrachtete ihn lange und wurde nicht müde, ihn zu bewundern. Die Sonne stand schon hoch, als sie ihn immer noch ansah.
»Schnell ans Werk, Mutter«, sagte er, sobald er die Augen aufgeschlagen und sie umarmt hatte. »Hat sich nichts vom Gang aus gezeigt?«
»Nein.«
»Dann können wir in Ruhe den Kahn besteigen.«
Sie nahmen die Decken und Lebensmittel mit, und mit fröhlichem Schritt wandten sie sich der zum Tor führenden Treppe an der Spitze der Insel zu. An dieser Spitze lagen die Felsen wüst durcheinander, und das Meer peitschte trotz der Windstille tosend dagegen.
»Hoffentlich ist dein Boot noch da?«
»Wenn du dich ein wenig vornüberbeugst, kannst du es sehen, Mutter. Es hängt dort hinter dem Vorsprung. Wir brauchen es nur herunterzulassen und flott zu machen. Ja, alles ist gut überlegt, Mütterchen. Wir brauchen nichts zu fürchten ... wenn nur ...«
Franz vollendete den Satz nicht. Er dachte nach.
»Was hast du?«
»Ach, nichts weiter, eine kleine Verzögerung ...«
»Sag doch.«
Er lachte.
»Wahrhaftig, als Anführer dieses Unternehmens bin ich, offen gestanden, etwas unüberlegt gewesen. Stelle dir vor, daß ich die Ruder vergessen habe. Sie sind in der Abtei.«
»Wie schrecklich!« rief Veronika.
»Warum denn, ich lauf schnell in die Abtei und bin in zehn Minuten zurück.«
Von neuem wurde Veronika von bangen Ahnungen erfaßt.
»Aber was tun wir, wenn sie inzwischen durch den Gang kommen?«
»Sei ruhig, Mutter,« sagte er lachend, »du hast mir versprochen, mutig zu sein. Um den Gang freizumachen, brauchen sie mindestens eine Stunde, und man würde sie hören. Wir wollen keine Zeit verlieren, ich bin gleich wieder da, Mutter.«
Er stürmte davon.
»Franz«, rief sie ihm nach.
Er antwortete nicht.
»Ach«, dachte sie, während neue Ängste sie quälten. »Ich hatte mir geschworen, ihn keinen Augenblick mehr zu verlassen.«
Langsam ging sie ihm nach, und auf einer kleinen Erhebung zwischen dem Feen-Dolmen und dem Kalvarienberg blieb sie stehen. Von dort konnte sie den Ausgang des Tunnels beobachten und auch ihren Sohn sehen, der gerade den Rasen hinabsprang. Zuerst ging er in die Räume im Erdgeschoß, aber die Ruder schienen dort nicht zu sein, denn er kam fast sofort wieder heraus und ging nun auf den Haupteingang zu, in dem er verschwand.
»In einer Minute kann er reichlich wieder zurück sein. Die Ruder sind sicher im Vorraum ... Jedenfalls im unteren Stockwerk ... Sagen wir höchstens zwei Minuten.«
Sie zählte die Sekunden, während sie gleichzeitig den Ausgang des Tunnels im Auge behielt.
Aber drei, vier Minuten vergingen, ohne daß die Türe sich von neuem geöffnet hätte. Veronikas Mut sank. Sie sah ein, daß es töricht gewesen war, sich dem Willen eines Kindes zu unterwerfen und ihren Sohn nicht zu begleiten. Ohne sich weiter um den Ausgang des Tunnels und die von dort drohenden Gefahren zu kümmern, ging sie auf die Abtei zu.
Das uns oft im Traum quälende schreckliche Gefühl kam über sie, als sei sie selbst wie gelähmt und käme nicht vorwärts, während der Feind sich nähert und zum Angriff rüstet.
Als sie aber den Dolmen erreicht hatte, bemerkte sie etwas Seltsames, das sie sich nicht sofort erklären konnte. Um die den rechten Halbkreis umgebenden Eichen herum war der Boden mit abgeschnittenen Zweigen bedeckt. Offenbar waren diese frisch geschnitten, denn das Laub war noch grün.
Sie blickte nach oben und blieb bestürzt und voll Entsetzen stehen.
Eine einzige Eiche war ihrer Zweige beraubt worden, und auf dem ungeheuren Stamm, der bis zu einer Höhe von vier oder fünf Metern kahlgeschnitten war, war mit einem Pfeil ein Schild angeheftet mit der Inschrift: »V. v. H.«
»Es ist das vierte Kreuz, und es trägt meinen Namen! ...«
Sie bedachte, daß, da ihr Vater tot war, diese Anfangsbuchstaben ihres Mädchennamens von einem ihrer Feinde, und wahrscheinlich dem Hauptanführer, geschrieben sein müßten, und zum ersten Male -- in Gedanken an das kürzlich Erlebte, an die Frau und das Kind, die sie verfolgten -- gab sie, fast unbewußt, diesem Feind bestimmte Züge.
Es war nur eine flüchtige, unwahrscheinliche Vermutung, über die sie sich nicht einmal Rechenschaft ablegte. Eine viel schrecklichere Vorstellung erregte sie. Es war ihr plötzlich klar, daß all die Ungeheuer, die von der Heide und den unterirdischen Gängen kamen und die sie gemeinsam mit der Frau und dem Knaben verfolgten, hier waren, da hier das Kreuz errichtet war. Sicher hatten sie an Stelle der verbrannten Brücke einen Steg gebaut. Sie waren Herren der Abtei, und Franz war von neuem in ihrer Hand!
Diese Vorstellung gab ihr Kraft, und ohne innezuhalten, lief sie über die mit Trümmern bedeckte Rasenfläche vor dem Haus.
»Franz! ... Franz! ... Franz!« ... schrie sie mit herzzerreißender Stimme. So gelangte sie bis in das Haus. Der eine Türflügel war halb geöffnet. Sie stieß ihn auf und stürzte sich mit dem Schrei: »Franz, Franz!« in die Vorhalle.
Der Ruf hallte im ganzen Haus wieder, aber nichts antwortete.
»Franz, Franz!« ...
Sie eilte die Treppen hinauf, riß bald diese, bald jene Tür auf, lief in das Zimmer ihres Sohnes, in das von Stephan und Honorine. Niemand war zu sehen.
»Franz, Franz! ... Hörst du meine Stimme nicht? Tun sie dir etwas an? ... Ach Franz, ich flehe dich an ...«
Sie wandte sich wieder der Treppe zu. Ihr gegenüber lag das Arbeitszimmer ihres Vaters.
Sie sprang auf die Tür zu und wich sofort zurück, als stehe sie einer Erscheinung aus der Hölle gegenüber.
Vor ihr stand mit auf der Brust verschränkten Armen ein Mann, der auf sie zu warten schien. Es war der Mann, dessen sie sich plötzlich erinnert hatte, als sie an die Frau und den Knaben gedacht hatte. Es war das dritte Ungeheuer!
Kein Wort kam ihr über die Lippen. Mit unaussprechlichem Entsetzen stammelte sie nur den Namen:
»Vorski, Vorski!« ...