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VI. Allesgut

Veronika riß sich von diesem grausigen Anblick los und ging geradeswegs zur Abtei zurück.

Ein einziges Ziel, eine einzige Hoffnung hielt sie aufrecht: »Fort von der Insel Sarek!« Das Maß des Entsetzens war voll. Diese Qual übertraf alles Menschliche. Hier war eine Verruchtheit am Werk, eine Niedertracht, die alle Grenzen überschritt!

Sie dachte auch an sich selbst. Sie war das vierte und letzte Opfer von den dreißig. Das Schicksal schien sie dieser Lösung zuzuführen wie eine zum Tode Verurteilte, die man zum Schafott schleppt! Mußte sie nicht vor Angst erschauern? War die Wahl des Ortes für die Hinrichtung der drei Schwestern Archignat auf dem Hügel der großen Eiche nicht ein Vorzeichen für sie selbst?

»Genug, genug. Ich werde wahnsinnig!« rief sie laut vor sich hin. »Fort von hier! ... Aus dieser Hölle zu entrinnen, soll mein einziger Gedanke sein!«

Das Geschick jedoch schien immer neue Qualen für sie zu ersinnen. Beim Suchen nach Lebensmitteln entdeckte sie plötzlich in dem Arbeitszimmer ihres Vaters in einem Wandschrank ein an die Wand geheftetes Blatt mit einer Darstellung des Bildes, das sie auf dem Papier in der verlassenen Hütte bei Maguennocs Leichnam gefunden hatte.

In einem der Fächer des Schrankes stand ein Kasten mit Zeichnungen. Sie machte ihn auf. Er enthielt mehrere Skizzen zu dem Bild, die auch mit roter Tinte ausgeführt waren. Der erste der Frauenköpfe trug auf jeder die Inschrift: »V. v. H.« Die eine Zeichnung war mit dem Namen Anton von Hergemont unterzeichnet. So hatte also ihr Vater die Zeichnung auf dem vorgefundenen Blatt gemacht! Ihr eigener Vater hatte auf all diesen Entwürfen versucht, der gemarterten Frau eine immer größere Ähnlichkeit mit seiner Tochter zu geben!

»Genug, genug!« wiederholte Veronika. »Ich will nicht mehr denken ... Ich will nicht grübeln!«

Der Hunger trieb sie, weiter zu suchen, aber sie fand nichts Eßbares, auch kein Feuerzeug, mit dem sie auf der Spitze der Insel hätte ein Feuer anzünden können. Inzwischen hatte sich der Nebel zerstreut, Ihre Signale mußten vom Ufer aus bemerkt worden sein.

Sie versuchte zwei Steine aneinanderzureihen, aber sie war zu ungeschickt; es gelang ihr nicht.

Drei Tage hindurch hielt sie sich aufrecht. Wasser und wilde Erdbeeren, die sie zwischen den Steinen pflückte, waren ihre einzige Nahrung. Fiebernd, am Ende ihrer Kraft, überkam sie häufig ein unaufhaltsames Schluchzen. Dann eilte jedesmal Allesgut herbei. Aber sie war dem armen Tier fast böse, weil es diesen Namen trug, und jagte es weg. In etwas weiterer Entfernung setzte sich Allesgut wieder auf die Hinterbeine und machte schön. Sie aber jagte ihn von neuem fort, als ob sie ihm zürnte, weil er Franz gehörte.

Beim geringsten Geräusch zitterte sie vom Kopf bis zu den Füßen. Was hatten die Wesen vor, die bei der alten Eiche hausten? Von welcher Seite aus würden sie angreifen? Sie legte die Arme fest um ihren Leib, zitternd bei der Vorstellung, diesen Ungeheuern in die Hände zu fallen, und sie konnte nicht umhin, daran zu denken, daß sie schön war, und daß ihre Jugend und Schönheit sie vielleicht locken könnten.

Am vierten Tage schöpfte sie wieder Mut. In ihrer Schublade hatte sie ein ziemlich starkes Brennglas gefunden. Bei hellem Sonnenschein gelang es ihr, die Strahlen auf einem Papier zu sammeln, das in Brand geriet, so konnte sie jetzt eine Kerze anzünden.

Sie glaubte sich gerettet. Sie hatte einen ganzen Vorrat an Kerzen entdeckt, so daß sie bis zum Abend dieses kostbare Licht erhalten konnte. Gegen elf Uhr ging sie mit einer Laterne zum Schuppen, um ihn in Brand zu stecken. Die Luft war klar, und das Feuersignal konnte von der Küste aus gesehen werden.

Da sie fürchtete, mit ihrem Licht auf der Insel gesehen zu werden, und weil sie vor allem den Anblick der Schwestern Archignat vermeiden wollte, deren Todesstätte vom Mondlicht beleuchtet war, wählte sie nach Verlassen der Abtei einen anderen, mehr links liegenden Weg, der vom Buschwerk eingefaßt war. Voller Unruhe schritt sie weiter und vermied es, an Blätter oder Wurzeln zu streifen. Als sie auf freies Gelände kam, war sie -- in der Nähe des Schuppens angelangt -- so müde, daß sie sich setzen mußte. Es schien, als ob ihr Herzschlag aussetzte.

Auch von hier konnte sie die Richtstätte nicht mehr erkennen. Als aber wider ihren Willen sich ihr Blick doch dorthin verirrte, schien es ihr, als ob sie etwas Weißes sich hätte bewegen sehen. Es war mitten im Wald, am äußersten Ende einer Allee, die sich in dieser Richtung durch den Wald zog. Von neuem sah sie die Erscheinung, diesmal hell beleuchtet, und obgleich die Entfernung ziemlich groß war, stellte Veronika fest, daß dieses Wesen ein langes, weißes Gewand trug und sich in den Zweigen eines alleinstehenden Baumes versteckt hielt, der höher war als die übrigen.

Die Worte der Schwestern Archignat fielen ihr ein.

»Sobald der sechste Tag nach Vollmond gekommen ist, werden sie auf die große Eiche steigen und den heiligen Mistelzweig schneiden.«

Gleichzeitig erinnerte sie sich an Beschreibungen, die sie früher in Büchern gelesen hatte, und an Erzählungen ihres Vaters, und es schien ihr, als wäre sie Zeugin einer Zeremonie der alten Druiden, mit denen sich ihre kindliche Phantasie beschäftigt hatte. Da sie sich aber sehr schwach fühlte, war sie nicht sicher, ob ihre Sinne klar seien und ob dieses seltsame Schauspiel Wirklichkeit wäre. Vier andere weiße Gestalten standen unten am Baum und hoben die Arme, als ob sie den heiligen Zweig auffangen wollten. Oben blitzte es auf. Die goldene Sichel des Priesters hatte den Mistelzweig geschnitten. Dann stieg der Priester von der Eiche herunter, und die fünf Gestalten zogen durch die Allee weiter, machten die Runde um das Gehölz und stiegen den Hügel hinauf.

Veronika, die ihre starren Blicke nicht von diesen Wesen lösen konnte, neigte den Kopf vor und sah die drei an den Marterpfählen hängenden Leichen. Die schwarzen Schleifen der Hauben sahen von weitem aus wie die Flügel von Raben. Den Gekreuzigten gegenüber hielt der Zug inne, als wollte man irgendeinen unbegreiflichen Ritus vollziehen. Jetzt trat der erste der Priester, der in der Hand den Mistelzweig hielt, aus der Reihe der übrigen hervor, stieg den Hügel hinab und wandte sich der Stelle zu, wo der erste Brückenbalken noch stand.

Veronika wurde es schwarz vor den Augen. Ihr irrer Blick, vor dem die Gegenstände zu schwanken schienen, blieb auf der leuchtenden Sichel haften, die auf der Brust des Priesters unter seinem langen Bart hing.

Was würde er tun? Obwohl die Brücke nicht mehr vorhanden war, wurde Veronika von Angst geschüttelt. Ihre Knie trugen sie nicht mehr. Ohne von der furchtbaren Erscheinung einen Blick zu wenden, sank sie zu Boden.

Am Rande des Abgrundes blieb der Priester wieder einige Augenblicke stehen. Dann streckte er die Hand mit dem Mistelzweig vor, und durch den vorgehaltenen Zweig, wie durch einen Talisman geschützt, setzte er den Fuß über den Abgrund.

Und so schritt er, vom Mondlicht weiß umflossen, im leeren Raum dahin.

Mit geschlossenen Augen wartete sie auf etwas, was nicht eintraf und über dessen Natur sie auch nicht nachdachte. Andere wirklichere Dinge beschäftigten sie vielmehr. Das Licht in der Laterne erlosch. Sie bemerkte es, und trotzdem war es ihr unmöglich, einen Entschluß zu fassen und in die Abtei zurückzukehren. Sie machte sich klar, daß, wenn die Sonne an den nächsten Tagen nicht schien, sie kein neues Feuer entzünden könne, und daß sie dann verloren sei.

Müde ergab sie sich in ihr Schicksal. Sie wußte, daß sie in diesem ungleichen Kampfe erliegen mußte. Das einzige, was ihr unerträglich schien, war, in die Hände ihrer Verfolger zu fallen. Warum sollte sie sich nicht dem Tode ergeben, der sich ihr bot, dem Tode durch Hunger oder Erschöpfung? Wenn man leidet, kommt ein Augenblick, da das Leid aufhört und da man beinahe, ohne es zu wissen, aus dem allzu grausamen Leben in jene Bewußtlosigkeit hinübergleitet, die sie mehr und mehr ersehnte.

»Ja,« sagte sie vor sich hin, »ich will von Sarek fort oder sterben! Ich muß fort.«

Ein Rascheln im Laub ließ sie die Augen aufschlagen. Die Flamme in der Laterne flackerte zum letzten Male auf. Hinter der Laterne saß Allesgut. Er bewegte die Vorderpfoten, und Veronika sah, daß an einer Schnur um seinen Hals ein Paket Zwieback hing.

»Erzähle mir, was dir passiert ist, mein lieber Allesgut!« sagte Veronika am nächsten Morgen, nachdem sie in ihrem Zimmer der Abtei eine ruhige Nacht verbracht hatte. »Denn ich kann mir nicht denken, daß du klug genug bist, um mir Nahrung zu holen. Es war doch Zufall, nicht wahr? Du streiftest dort umher, du hörtest mich weinen, und so bist du gekommen. Wer aber hat dir dieses Paket Zwieback um den Hals gebunden? Haben wir denn in Sarek einen Freund, der sich für uns interessiert, und warum zeigt er sich nicht? Sprich, Allesgut!«

Sie drückte seinen treuen Kopf an sich und fuhr fort:

»Und für wen war dieser Zwieback bestimmt, für deinen Herrn, für Franz oder vielleicht für Honorine? Nein. Für wen denn, vielleicht für Stephan?«

Der Hund wedelte mit dem Schwanz und rannte nach der Tür. Er schien wirklich zu verstehen.

Veronika ging ihm nach bis zu dem Zimmer von Stephan Maroux. Allesgut kroch unter das Bett des Lehrers. Hier lagen drei weitere Pakete Zwieback, Schokolade und zwei Konservenbüchsen. Um jedes dieser Pakete eine Schnur mit einer Schlinge befestigt, durch die Allesgut seinen Kopf gesteckt haben mußte.

»Was bedeutet denn das?« sagte Veronika erstaunt. »Du hast sie also da versteckt? Wer hat sie dir aber gegeben? Wir haben also wirklich einen Freund auf der Insel, einen Freund, der uns und auch Stephan Maroux kennt? Kannst du mich zu diesem Freund hinführen? Er muß sich auf dieser Seite der Insel aufhalten, denn eine Verbindung besteht ja nicht mehr. Du konntest also nicht dort hinüber.«

Veronika dachte angestrengt nach. Zugleich mit den von Allesgut herbeigeschleppten Vorräten hatte sie unter dem Bett einen kleinen Handkoffer entdeckt; sie fragte sich, weshalb Stephan Maroux ihn hier versteckt haben mochte. Sie glaubte sich berechtigt, ihn, zu öffnen, um dort irgendwelche Anhaltspunkte für die Stellung des Lehrers, seinen Charakter, seine Vergangenheit, vielleicht sogar für seine Beziehungen zu Herrn von Hergemont und zu Franz zu finden.

Mit Hilfe einer großen Schere öffnete sie das kleine Schloß. Der Koffer enthielt nichts als ein versiegeltes Tagebuch. Aber kaum hatte sie den Deckel aufgeschlagen, als sie höchst erstaunt innehielt.

Auf der ersten Seite war ihr eigenes Bild als junges Mädchen. Es trug ihren vollen Namen als Unterschrift und folgende Widmung:

»Meinem Freund Stephan.«

»Das begreife ich nicht ... Das begreife ich nicht ...« flüsterte sie. »Ich erinnere mich wohl dieses Bildes ... Ich muß damals sechzehn Jahre gewesen sein. Aber wie habe ich ihm dieses Bild schenken können? Kannte ich ihn denn?«

Begierig, mehr zu erfahren, las sie die zweite Seite, eine Art Vorwort:

»Veronika, ich will unter Ihren Augen leben. Wenn ich die Erziehung Ihres Sohnes übernehme, so tue ich es, weil ich eine Hoffnung hege, die mich nicht enttäuschen kann. Der Tag wird kommen, an dem Sie wieder ab Mutter in Ihre Rechte treten werden. An diesem Tage werden Sie stolz sein auf Franz. Ich werde dann alles in ihm, was an seinen Vater erinnert, ausgelöscht und alle edlen und wertvollen Eigenschaften, die er von Ihnen geerbt hat, aufs höchste entwickelt haben. Es ist dies ein Ziel, groß genug, um sich ihm mit Leib und Seele hinzugeben. Ich tue es mit Freuden. Ihr Lächeln wird mich belohnen.«

Eine sonderbare Erregung bemächtigte sich Veronikas. Ein etwas sanfteres Licht breitete sich über ihr Leben. Dieses neue Geheimnis, das sie ebensowenig wie die anderen entschleiern konnte, war wenigstens wie Maguennocs Blumen lieblich und trostbringend.

Wie sie nun weiterblätterte, erlebte sie jeden Tag der fortschreitenden Erziehung ihres Sohnes mit Sie sah die Fortschritte des Zöglings, die Arbeitsweise des Lehrers. Der Schüler war kindlich, intelligent, fleißig, gutwillig, zärtlich und empfänglich, dabei aber auch selbständig und nachdenklich. Der Lehrer war liebevoll und geduldig.

Die folgenden Seiten der täglichen Beichte drückten eine immer steigende Begeisterung aus, die mit immer größerer Freiheit zum Ausdruck kam.

»Franz, mein geliebtes Kind -- denn so kann ich dich jetzt nennen, nicht wahr? -- in dir lebt deine Mutter wieder auf. Deine reinen Augen sind klar wie die ihren. Deine Seele ist wie ihre Seele ernst und unbefangen. Du kennst das Böse nicht und fast könnte man sagen, du kenntest auch das Gute nicht, so innig ist dieses mit deiner glücklichen Veranlagung verbunden.«

Einzelne Arbeiten des Kindes waren in dem Buch abgeschrieben. Es sprach darin von seiner Mutter mit leidenschaftlicher Liebe und mit der Hoffnung, sie bald wieder zu finden.

»Ja, wir werden sie finden, Franz«, hatte Stephan hinzugefügt, »und dann wirst du alles kennenlernen, Schönheit, Licht, Lebensfreude, das Glück zu schauen und zu bewundern.«

Dann kamen kleine Geschichten über Veronika, einzelne Züge von ihr, an die sie sich selbst nicht mehr erinnerte oder die sie nur allein zu kennen glaubte.

»Eines Tages, im Tuilerien-Garten, hat sich um sie ein Kreis von Menschen gebildet ..., von Leuten, die sie anschauten und die ihre Schönheit bewunderten. Ihre Freunde freuten sich, daß man sie so schön fand.«

»Öffne ihre rechte Hand, Franz«, hieß es. »Mitten auf der Handfläche wirst du eine lange, weiße Narbe finden. Als ganz kleines Kind hat sie sich an der eisernen Spitze eines Zaunes die Hand verletzt.«

Die letzten Seiten aber schienen nicht für den Knaben bestimmt zu sein, waren auch sicher von ihm nicht gelesen worden. Hier verbarg sich die Liebe nicht mehr unter Worten der Bewunderung. Sie zeigte sich vielmehr unverhüllt, glühend, schmerzvoll und hoffnungsbange, wenn auch immer mit dem Ausdruck der höchsten Verehrung.

Veronika schloß das Tagebuch. Sie konnte nicht mehr lesen.

Sie zog den Hund an sich.

»Zwei gute Menschen, nicht wahr, Allesgut? Weder der Schüler noch der Lehrer sind schuld an den unerhörten Verbrechen, die ich sie habe begehen sehen. Wenn sie mit unseren Feinden hier im Bunde sind, so geschieht dies gegen ihren Willen und ohne daß sie es wissen. Ich glaube nicht an Zaubertränke, an Beschwörungsformeln, auch nicht an Kräuter, die den Menschen um den Verstand bringen, und doch liegt hier etwas vor, nicht wahr, lieber Hund? Das Kind das auf dem Kalvarienberg Blumen pflanzte mit der Inschrift »Mutters Blumen«, kann nicht schuldig sein, nicht wahr? Und Honorine hatte völlig recht, als sie von einem Anfall von Wahnsinn sprach. Bald kommt er mich holen, nicht wahr? Stephan und er kommen wieder ...«

Friedliche Stunden folgten. Veronika stand nicht mehr allein im Leben. Die Gegenwart erschreckte sie nicht mehr und sie glaubte wieder an die Zukunft.

In der Frühe des folgenden Morgens sagte sie zu Allesgut, den sie, damit er nicht wieder fortlief, mit in ihr Zimmer genommen hatte:

»Jetzt, mein Freund, wirst du mich führen; wohin? Zu dem unbekannten Freunde, der Stephan Maroux Lebensmittel geschickt hat? Vorwärts!«

Allesgut hatte nur auf diese Aufforderung gewartet. Er lief auf den Rasen zu, der sich bis zu den Dolmen hinzog, und auf halbem Weg blieb er stehen. Veronika folgte ihm. Er lief nach rechts und kam auf einen Fußweg, der zwischen einem Gewirr von Steinen bis an den Rand des Felsens führte.

Hier machte er von neuem halt.

Der Hund duckte sich. Am Fuß zweier von Efeu überzogener Felsböcke sah sie ein Gewirr von Dorngestrüpp vor sich, unter dem sich eine schmale Öffnung zeigte, nicht größer als die eines Kaninchenbaues. Dort hinein zwängte sich Allesgut. Dann kam er wieder zum Vorschein, um Veronika zu holen. Diese aber mußte erst in die Abtei zurückkehren, um eine Sichel zu holen, mit der sie das Gestrüpp abhauen wollte.

Eine halbe Stunde später hatte sie die erste Stufe einer Treppe freigelegt, die sie tastend hinabschritt. Allesgut führte sie in einen langen, in den Felsen gehauenen Gang, der an der rechten Seite durch kleine Öffnungen Licht erhielt. Sie hob den Kopf und sah, daß diese Öffnungen auf das Meer hinausgingen.

So schritt sie zehn Minuten lang weiter und ging dann wieder ein paar Stufen hinab. Der Gang wurde enger. Er war jetzt von beiden Seiten erhellt, durch Öffnungen, die alle oben angebracht waren, wohl damit man von unten nicht gesehen würde. Nun begriff Veronika, wie Allesgut nach dem anderen Teil der Insel gelangen konnte. Der unterirdische Gang lief unter dem schmalen Felsgrat hin, der die Abtei mit der Insel verband. Von allen Seiten schlugen die Wogen gegen die Felswand.

Jetzt ging es wieder hinauf und Veronika befand sich auf dem Hügel der großen Eiche. Dort teilte sich der Weg. Allesgut wählte den Weg rechts, der an der Küste entlang führte. Die beiden anderen Abzweigungen zur Linken blieben dunkel. Die Insel schien durchzogen zu sein von unsichtbaren Verbindungswegen und mit beklommenem Herzen dachte Veronika, daß sie sich dem Teil der Insel näherte, den die Schwestern Archignat als Gebiet des Feindes bezeichnet hatten.

Allesgut, der sich von Zeit zu Zeit umwandte, trottete vor ihr her.

Leise sagte sie zu ihm:

»Ja, ja, mein gutes Tier. Ich komme schon, sei sicher, daß ich mich nicht fürchte. Du führst mich ja zu einem Freund, zu einem, der dort eine Zuflucht gefunden hat ... Aber warum versteckt er sich dort?«

Der Gang war überall gleich breit und oben gewölbt. Man schritt auf trockenem Granit dahin; durch die Öffnungen drang genügend frische Luft.

»Ist es hier?« fragte Veronika den Hund, der stehengeblieben war.

Der Gang war zu Ende. Er mündete in einen Raum, der durch eine schmale Öffnung schwach erhellt war.

Allesgut schien zu zögern. Mit gespitzten Ohren, die Pfoten auf die äußerste Wand des Tunnels gelegt, lauschte er. Veronika bemerkte, daß an dieser Stelle die Wand nicht durchwegs aus Granit bestand, sondern an einer Stelle von einem Haufen von ungleichgroßen, durch Zement verbundenen Steinen gebildet wurde. Diese vermauerte Stelle schien neueren Ursprungs zu sein. Man hatte, um den unterirdischen Gang zu schließen, eine Mauer gebaut, die sich auf der anderen Seite fortsetzen mußte.

Veronika hörte den erstickten Laut einer Stimme. Sie näherte sich der Mauer und erschreckt fuhr sie zusammen. Die Stimme war lauter geworden. Sie hörte ein Kind singen und unterschied die Worte:

Sprach die Mutter zu dem Kind:
Weine nicht und schlaf geschwind.
Wenn sie dich so weinen schaut,
Weinet auch die Himmelsbraut.

»Mein Lied, mein Lied«, flüsterte Veronika. Es war dasselbe, das Honorine in Beg-Meil gesummt hatte. Wer konnte dieses Lied hier singen? Ein auf der Insel zurückgebliebenes Kind? Vielleicht ein Freund von Franz? Die Stimme fuhr fort:

Nimm die Händchen, falte sie,
Bete lächelnd zu Marie.

Ein minutenlanges Schweigen folgte. Allesgut sah aus, als ob er mit wachsender Aufmerksamkeit zuhörte, als ob ein von ihm vorausgesehenes Ereignis eingetreten wäre.

In der Tat hörte man dort, wo er stand, ein leises Geräusch, als ob vorsichtig Steine entfernt würden. Aufgeregt wedelte Allesgut mit dem Schwanz und bellte leise vor sich hin, wie ein gutes Tier, um Lärm zu machen. Plötzlich hörte sie über seinem Kopf einen der Steine, den jemand auf der anderen Seite lockerte: ein ziemlich großes Loch entstand.

Mit einem einzigen Satz sprang Allesgut in diese Öffnung, kroch mühsam weiter und verschwand im Innern.

»Na ja, Allesgut«, hörte man die Stimme des Kindes. »Wie geht es uns, Herr Allesgut? Weshalb bist du denn gestern nicht gekommen, um deinen Herrn zu besuchen? Hattest du zu tun? Warst du mit Honorine spazieren? Ach, wenn du sprechen könntest, mein Alter, was hättest du nicht alles zu erzählen! Was ist denn eigentlich los?«

Zitternd war Veronika neben der Mauer auf die Knie gefallen. War es die Stimme ihres Sohnes, die zu ihr drang? Sollte sie annehmen, daß Franz zurück wäre und daß er sich verborgen hielt? Vergebens versuchte sie, etwas zu sehen. Die Mauer war dick und die Öffnung bildete einen Winkel. Aber jedes Wort, jede Veränderung im Tunnel gelangte deutlich an ihr Ohr.

»Sag«, wiederholte das Kind, »warum kommt Honorine nicht, um mich zu befreien? Warum führst du sie nicht her? Du hast mich doch gefunden ... Und der Großvater, wie muß er sich ängstigen, daß ich fort bin? Aber was ist nicht alles passiert! Bist du denn immer noch der Ansicht, daß alles gut ist, alter Freund?«

Veronika begriff nichts von all dem. Ihr Sohn, sie konnte nicht zweifeln, daß er es war, sprach, als ob er von allem Vorgefallenen nichts ahnte. Hatte er denn vergessen? ... Hatte sein Gedächtnis die Spur der im Wahnsinn vollbrachten Greuel nicht festgehalten? Ja, ein Wahnsinn war es gewesen, dachte Veronika. Ja, er muß wahnsinnig gewesen sein. Honorine hatte recht ... Er war wahnsinnig ... Und jetzt hat er seinen Verstand wieder gewonnen, ach, mein Franz ...

Gespannt und bewegt lauschte sie den Worten, die ihr unendliche Freude oder noch schlimmeren Schmerz bringen konnten. Sollte sich das Dunkel um sie her noch mehr verdichten? Oder sollte in diese Finsternis, in der sie seit fünfzehn Jahren lebte, endlich ein Licht fallen?

»Aber sicher«, fuhr das Kind fort, »wir sind ganz einig, man muß sich nicht sorgen. Nur, weißt du, wäre ich mehr beglückt, wenn du mir Beweise bringen könntest, daß ich mich nicht zu sorgen brauche. Von Großvater und Honorine bekomme ich keine Nachricht. Soviel Botschaften ich dir auch für sie mitgegeben habe, auch von Stephan kein Wort, und das beunruhigt mich am meisten. Wo ist er nur? Wo hat man ihn eingeschlossen? Muß er nicht Hunger leiden? Gib Antwort, Allesgut! Wo hast du vorgestern den Zwieback hingetragen? ... Aber was hast du denn? Du siehst sorgenvoll aus? Was suchst du dort? Willst du wieder fort? Nein? Was denn?«

Das Kind hielt inne, leiser fuhr es fort:

»Hat dich jemand begleitet? ... Ist jemand hinter der Mauer?«

Der Hund bellte leise.

Dann trat ein langes Schweigen ein. Auch Franz schien zu lauschen.

Veronikas Erregung war so groß, daß sie glaubte, Franz müßte ihr Herz schlagen hören.

»Bist du es, Honorine?« flüsterte er.

Nach einer neuen Pause begann er wieder: »Ja, du bist es, ich höre dich atmen ... Warum antwortest du mir nicht?«

Eine Ahnung durchzuckte Veronika. Seitdem sie wußte, daß Stephan gefangen war, schien sich ihr manches zu klären. Er war also wie Franz auch ein Opfer des Feindes geworden, und wirre Vermutungen tauchten in ihr auf.

Wie sollte sie dieser Stimme widerstehen? Ihr Sohn fragte! Ihr Sohn ...

»Franz, Franz«, stammelte sie.

»Ach,« sagte er, »sie antwortet ... Ich dachte mir wohl ... daß du es bist, Honorine.«

»Nein, Franz«, sagte sie.

»Ja, wer denn?«

»Eine Freundin von Honorine.«

»Ich kenne Sie aber nicht.«

»Nein, aber ich bin auch deine Freundin.«

Er zögerte und schien mißtrauisch.

»Warum ist Honorine nicht mit Ihnen gekommen?«

Auf diese Frage war Veronika nicht gefaßt, aber sie begriff, daß, wenn ihre Vermutungen stimmten, das Kind die Wahrheit noch nicht ertragen konnte.

»Honorine ist von der Reise zurück und schon wieder abgefahren«, erklärte sie.

»Um mich zu suchen?«

»Ganz recht,« sagte sie lebhaft, »sie glaubt, daß ihr beide, du und dein Lehrer, entführt seid.«

»Und der Großvater?«

»Er ist auch fort, und nach ihm alle Bewohner der Insel.«

»Noch immer die Geschichte von den Särgen und den Kreuzen?«

»Ja, sie haben angenommen, daß dein Verschwinden andere grauenhafte Ereignisse nach sich ziehen würde, und die Angst hat sie vertrieben.«

»Und Sie?«

»Ich kenne Honorine schon lange. Ich bin von Paris mit ihr hierher gekommen, um mich hier in Sarek zu erholen. Ich habe keine Veranlassung, fortzugehen. Alle diese abergläubischen Geschichten schrecken mich nicht.«

Das Kind schwieg. Es durchschaute wohl, wie unwahrscheinlich und unvollkommen ihre Antworten waren, und sein Mißtrauen wuchs. Freimütig bekannte der Knabe:

»Hören Sie, ich möchte Ihnen etwas sagen. Seit zehn Tagen bin ich hier in diesem Verließ eingeschlossen. In den ersten Tagen habe ich niemanden gesehen oder gehört, aber seit vorgestern wird jeden Morgen ein kleines Fenster in meiner Tür geöffnet. Die Hand einer Frau kommt zum Vorschein und bringt mir frisches Wasser. Die Hand einer Frau ... so ist also ...«

»Du fragst dich, ob diese Hand meine Hand ist.«

»Ja, ich muß mich das doch fragen.«

»Würdest du die Hand dieser Frau wiedererkennen?«

»Sicherlich, sie ist dürr und mager, und ihre Haut ist gelb.«

»Hier ist meine Hand«, sagte Veronika. »Ich kann sie dir durch dieselbe Öffnung hinstrecken, durch die Allesgut zu dir gelangte.«

Sie strich ihren Ärmel zurück, und wirklich konnte sie, wenn sie ihn bog, ihren rechten Arm mühelos durch die Öffnung stecken.

»O nein,« rief Franz sofort, »das war nicht die Hand, die ich gesehen habe.«

Plötzlich fühlte Veronika, daß er hastig nach ihrer Hand griff.

»Oh,« rief er aus, »ist es denn möglich!« Er hatte sie umgewandt und bog die Finger auseinander, damit er die Handfläche besser sehen Konnte. »Die Narbe«, flüsterte er ... »Da ist sie ... die weiße Narbe

Höchste Erregung bemächtigte sich Veronikas. Stephans Tagebuch fiel ihr ein und gewisse Einzelheiten, die Franz wohl gelesen hatte. Darunter war die Narbe erwähnt, die von einer früheren, ziemlich schweren Verletzung zurückgeblieben war.

Sie fühlte, wie die Lippen ihres Kindes sich auf ihre Hand preßten. Erst sanft, dann mit leidenschaftlicher Inbrunst und unter strömenden Tränen; sie hörte ihn stammeln:

»Mutter, geliebte Mutter ...«


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