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II. An der Küste des Ozeans

Veronikas seelische Verfassung schlug plötzlich um. So sehr sie mit aller Entschiedenheit vor der Gefahr zurückwich, die ihr von ihrer schlimmen Vergangenheit herzukommen schien, so sehr war sie dennoch entschlossen, den furchtbaren Weg, der sich vor ihr zeigte, bis zu Ende zu gehen.

Dieser Umschwung rührte wohl daher, daß plötzlich etwas Licht in das Dunkel zu dringen schien. Sie verstand plötzlich, um was es sich handelte. Um eine ganz einfache Sache übrigens, daß nämlich der Pfeil eine Richtung anzeigte, und daß die Nummer Zehn die zehnte einer Reihe und die Markierung einer Wegstrecke bedeuten mußte.

War es ein Zeichen, das jemand einem anderen gab, um seine Schritte zu lenken? War hiermit ein Fingerzeig zur Lösung des Rätsels gegeben, inwiefern die Unterschrift aus ihrer Mädchenzeit mit all diesen tragischen Umständen verkettet war?

In diesem Augenblick erreichte sie der Wagen, der ihr von Faouët nachgeschickt war. Sie stieg ein und befahl dem Kutscher, in langsamem Tempo in der Richtung nach Rosporden zu fahren. Gegen Mittag langte sie dort an, und ihre Vorahnungen hatten sie nicht getäuscht. Zweimal sah sie, jedesmal, wenn ein Weg abzweigte, ihren Namenszug in Verbindung mit den Zahlen elf und zwölf.

Veronika verbrachte die Nacht in Rosporden, und gleich am folgenden Morgen nahm sie ihre Nachforschungen wieder auf.

Die Zahl zwölf, die sie auf einer Kirchhofmauer fand, führte sie auf die Straße von Concarneau, die sie auch erreichte, ohne daß andere Inschriften zu finden gewesen wären.

Sie nahm also an, daß sie sich getäuscht habe, kehrte um und verlor einen ganzen Tag mit unnützem Suchen.

Erst am folgenden Tag wies ihr die stark verwitterte Nummer dreizehn die Richtung nach Fouesnaut.

Endlich kam sie an den Ozean, und zwar an den weiten Strand von Beg-Meil.

Hier im Dorfe verbrachte sie zwei Nächte, ohne daß ihr auf ihre vorsichtigen Fragen eine Antwort geworden wäre. Eines Morgens endlich, nachdem sie lange Zeit bald zwischen Felsen, die halb unter Wasser sich längs der Küste hinziehen, bald an der niedrigen Felsenküste umhergeirrt war, entdeckte sie vor einem aus Erde und Zweigen gebildeten Unterschlupf, der früher einmal den Grenzbeamten gedient haben mochte, einen kleinen Menhir Man nennt Menhir die aus der Urzeit der Bretagne stammenden Denkmäler in der Form einer Säule..

Auf diesem Menhir stand jene Inschrift mit der Zahl siebzehn dahinter.

Keinerlei Pfeil diesmal ... sondern nur ein einfacher Punkt daneben. Das war alles.

In der Höhlung drei zerbrochene Flaschen und leere Konservenbüchsen.

»Hier ist das Endziel«, sagte sich Veronika. »Man hat hier gegessen, vielleicht schon auf Vorrat Lebensmittel untergebracht.«

In diesem Augenblick bemerkte sie, daß gar nicht weit von hier, am Rande einer kleinen Bucht, die sich inmitten der benachbarten Felsen wie eine Muschel rundete, ein Motorboot schaukelte.

Sie hörte Stimmen, die aus dem Dorfe herüberdrangen. Eine Männer- und eine Frauenstimme.

Von ihrem Standort aus konnte sie vorerst nur einen ziemlich bejahrten Mann sehen, der ein halbes Dutzend Säcke schleppte, die er mit folgenden Worten absetzte: »Ihr habt also eine gute Reise gehabt, Mutter Honorine?«

»Ausgezeichnet.«

»Und wo war't Ihr?«

»In Paris. Acht Tage fortgewesen. Besorgungen für meinen Herrn ...«

»Zufrieden, daß Ihr wieder da seid?«

»Na, das will ich meinen!«

»Und seht Ihr wohl, Mutter Honorine? Euer Boot liegt noch an derselben Stelle. Alle Tage habe ich danach gesehen. Heute morgen habe ich endlich das Segel eingezogen; die Schaluppe läuft noch immer gut?«

»Wunderbar.«

»Ihr versteht aber auch etwas vom Steuern, Mutter Honorine! Wer hätte je gedacht, daß Ihr einmal dieses Handwerk betreiben würdet!«

»Das macht der Krieg. Alle jungen Leute von unserer Insel sind fort, die anderen sind auf Fischfang, auch gibt es keine Schiffsverbindung wie früher alle vierzehn Tage. So mache ich eben die Besorgungen.«

»Aber das Benzin?«

»Davon haben wir genug. In der Beziehung ist nichts zu fürchten.«

»So wäre also alles in Ordnung, Mutter Honorine? Kann man geh'n oder soll ich Euch helfen, die Sachen aufladen?«

»Ist nicht nötig, Ihr habt es eilig.«

»Für heute also wäre alles in Ordnung,« wiederholte der biedere Mann, »bis aufs nächste Mal, Mutter Honorine. Ich werde die Pakete schon vorher zurecht machen«, und er ging davon, indem er im Weiterschreiten noch einmal zurückrief:

»Gebt nur acht auf die Klippen, die Eure verdammte Insel umgeben. Sie hat gerade keinen guten Ruf, Eure Insel. Nicht umsonst nennt man sie die Insel mit den dreißig Särgen. Viel Glück zur Überfahrt, Mutter Honorine!«

Er verschwand hinter einem Felsen.

Veronika war zusammengefahren. Die dreißig Särge! Die gleichen Worte, die sie am Rande der entsetzlichen Zeichnung gelesen hatte!

Sie beugte sich vor. Die alte Frau näherte sich inzwischen dem Boot, und nachdem sie andere Vorräte, die sie selbst getragen hatte, verstaut hatte, wandte sie sich um. Jetzt sah Veronika sie von vorn. Sie trug die Tracht der bretonischen Frauen und auf ihrer Haube eine große Schleife aus schwarzem Samt.

»O mein Gott«, stammelte Veronika. »Es ist dieselbe Haube wie die der drei Frauen am Kreuz!«

Die Frau mochte ungefähr vierzig Jahre sein. Ihr großes, energisches, von Wind und Wetter gebräuntes Gesicht hatte knochige Züge und war grob geschnitten, doch zwei große, schwarze und kluge Augen belebten es. Eine schwere goldene Kette hing an ihrer Brust. Sie trug ein eng anliegendes Samtmieder.

Während sie ihre Pakete in das Boot trug, wobei sie auf einen großen Stein niederknien mußte, an dem es verankert war, sang sie leise vor sich hin. Es war ein langsamer und eintöniger Sang, eine Art Wiegenlied. Während sie es sang, lächelte sie, und Veronika sah ihre schönen weißen Zähne leuchten.

Sprach die Mutter zu dem Kind:
Weine nicht und schlaf geschwind!
Wenn sie dich so weinen schaut,
Weinet auch die Himmelsbraut.
Nimm die Händchen, falte sie:
Bete lächelnd zu Marie.

Sie konnte nicht zu Ende singen, denn plötzlich stand Veronika vor ihr, ihr Gesicht war bleich und verzerrt. Bestürzt murmelte sie:

»Was ist denn?«

Mit zitternder Stimme fragte Veronika:

»Wer hat Sie dieses Lied gelehrt? ... Woher kennen Sie es? Es ist ein Lied von meiner Mutter ... Es ist aus ihrer Heimat Savoyen ... Und seit dem sie tot ist, habe ich es nie mehr gehört ... Ich möchte gern ...«

Sie verstummte. Die Frau betrachtete sie mit stummem Erstaunen, es schien, als ob auch sie Lust hätte, Fragen zu stellen.

Veronika aber wiederholte:

»Wer hat es Sie gelehrt?«

»Jemand aus der Gegend«, antwortete endlich die Frau, die man Mutter Honorine nannte.

»Von dort?«

»Ja, jemand von meiner Insel.«

Mit einer Art schauriger Ahnung unterbrach sie Veronika.

»Das ist die Insel mit den dreißig Särgen?«

»So nennt man sie, eigentlich heißt sie Sarek.«

Stumm sahen sie einander an, mit einem Blick gemischt aus Mißtrauen und Neugier, mehr zu erfahren; und plötzlich fühlten sie beide, daß sie sich nicht als Feinde gegenüberstanden.

»Verzeihen Sie, aber es gibt Dinge, die einen außer Fassung bringen!«

Die Frau nickte zustimmend mit dem Kopfe, und Veronika fuhr fort:

»Die uns so aus der Fassung bringen und so verwirren ... Wissen Sie zum Beispiel, warum ich hier an dieser Küste bin? Ich muß es Ihnen sagen, und Sie allein können mir vielleicht eine Aufklärung geben ... Der Zufall ... ein ganz unscheinbarer Zufall, von dem sich doch im Grunde alles herleitet, hat mich hierher geführt. Ich bin zum ersten Male in der Bretagne, und auf der Tür einer alten verlassenen Hütte an einem Wegrand sah ich die Anfangsbuchstaben meines Mädchennamens, den ich seit vierzehn bis fünfzehn Jahren nicht mehr führe. Als ich weiter wanderte, bemerkte ich noch mehrmals dieselbe Inschrift in Verbindung mit einer jedesmal fortlaufenden Zahl. So bin ich bis hierher an den Strand von Beg-Meil gekommen. An diesen Teil der Küste, der folglich der Endpunkt einer beabsichtigten und ausgeführten Reise ist. Von wem, das weiß ich nicht.«

»Ihr Namenszug steht da?« sagte Honorine lebhaft, »wo denn?«

»Auf jenem Stein dort oben am Eingang in die kleine Höhle.«

»Ich kann es von hier aus nicht sehen, welche Buchstaben es sind.«

»V. v. H.«

Die Bretonin unterdrückte ihre Bewegung. Sie stieß zwischen den Zähnen hervor:

»Veronika? ... Veronika von Hergemont?«

»Wie,« rief die Fremde, »Sie kennen meinen Namen, Sie kennen ihn?«

Honorine ergriff ihre beiden Hände und hielt sie fest in den ihren. Ein freundliches Lächeln zeigte sich auf ihrem strengen Gesicht. Tränen traten ihr in die Augen, und sie wiederholte:

»Fräulein Veronika ... Frau Veronika ... Sie sind es also, Veronika? ... O mein Gott! ist es denn möglich! Heilige Jungfrau, sei gebenedeit!«

In höchstem Erstaunen stammelte Veronika immer wieder:

»Sie kennen meinen Namen ... Sie wissen, wer ich bin? ... So können Sie mir also dieses ganze Rätsel erklären?«

Nach längerem Schweigen antwortete Honorine:

»Erklären kann ich Ihnen nichts ... Ich verstehe ebenfalls nicht ... aber vielleicht können wir zusammen suchen ... Wie heißt doch das bretonische Dorf?«

»Faouët.«

»Faouët ... das kenne ich ... Wo war die verlassene Hütte?«

»Zwei Kilometer von dort entfernt.«

»Sind Sie drin gewesen?« ...

»Ja, und das ist das Schrecklichste von allem ... In dieser Hütte lag ...«

»Sprechen Sie, was denn?«

»Der Leichnam eines alten Mannes in bretonischer Tracht. Er hatte langes, weißes Haar und einen grauen Bart ... O, ich werde diesen Toten nie vergessen ... Er muß wohl ermordet worden sein ... Oder vergiftet, wer weiß.«

Honorine hörte gespannt zu. Dieses Verbrechen schien ihr jedoch keinen Fingerzeig zu bieten und so sagte sie nur:

»Wer war es denn? Hat man die Sache untersucht?«

»Als ich mit den Leuten aus dem Dorf zurückkam, war der Leichnam inzwischen verschwunden.«

»Verschwunden? Wer hatte ihn denn fortgeschafft?«

»Ich weiß es nicht.«

»So wissen Sie also gar nichts?«

»Gar nichts, nein. Das erstemal hatte ich in der Hütte eine Zeichnung gefunden, die ich zerrissen habe, deren Erinnerung mir aber noch wie ein Alp auf der Brust liegt ... Ich kann diese Erinnerung nicht los werden. Hören Sie ... es war ein Blatt, auf dem man offenbar versucht hatte, ein altes Bild wiederzugeben. Das ganze stellte, o, etwas Furchtbares dar, etwas Grausiges ... Vier Frauen am Kreuz! Und die eine Frau war ich selbst, sie trug meinen Namen ... die anderen drei trugen Hauben wie Sie.«

Honorine hielt Veronikas Hände krampfhaft umschlossen.

»Was sagen Sie, vier Frauen am Kreuz?«

»Ja, es war noch die Rede von dreißig Särgen, und das bezog sich folglich auf Ihre Insel.«

Die Frau legte Veronika die Hand auf den Mund.

»Schweigen Sie, schweigen Sie. Sie dürfen davon nicht sprechen. Nein, sprechen Sie nicht davon ... Es gibt teuflische Dinge! Davon zu sprechen ... ist Gotteslästerung ... Wir wollen nicht davon sprechen ... Später werden wir sehen ... Nächstes Jahr vielleicht ... Später ... Später ...«

Sie schien von Schrecken geschüttelt wie von einem Gewittersturm, der die Bäume peitscht und die ganze Natur in Aufruhr bringt. Plötzlich kniete sie auf den Felsen nieder und betete, tief gebeugt, den Kopf in die Hände vergraben, so ganz dem Gebet hingegeben, daß Veronika keine Frage weiter stellte. Endlich stand sie auf und fuhr fort:

»Ja, all dies ist schrecklich, aber ich sehe nicht ein, was dies an unserer Pflicht ändern könnte. Wir dürfen nicht zögern.«

In tiefem Ernst fuhr sie dann fort:

»Sie müssen mit mir dort hinüber.«

»Dort hinüber auf Ihre Insel?« erwiderte Veronika, ohne ihr Entsetzen davor zu verbergen.

Honorine ergriff von neuem ihre Hände, und in demselben etwas feierlichen Tone, der Veronika voll geheimer unausgesprochener Gedanken schien, fuhr sie fort:

»Sie heißen wirklich Veronika von Hergemont?«

»Ja.«

»Und Ihr Vater hieß?«

»Anton von Hergemont.«

»Sie haben einen angeblichen Polen mit Namen Vorski geheiratet?«

»Ja, Alexis Vorski.«

»Sie haben ihn geheiratet nach einer aufsehenerregenden Entführung und nach einem Bruch mit Ihrem Vater?«

»Ja.«

»Sie haben ein Kind von ihm?«

»Ja, einen Sohn Franz.«

»Den Sie sozusagen nicht gekannt haben, denn er war Ihnen von Ihrem Vater weggenommen worden?«

»Ja.«

»Und alle beide, Ihr Vater und Ihr Sohn, sind bei einem Schiffbruch ums Leben gekommen?«

»Ja, sie sind tot.«

»Wie können Sie das wissen?«

Veronika, ohne sich über diese Frage zu wundern, antwortete:

»Die Nachforschungen, die ich angestellt habe, und die gerichtliche Untersuchung stützen sich beide auf das unanfechtbare Zeugnis der vier Matrosen.«

»Und wer sagt Ihnen, daß sie nicht gelogen haben?«

»Warum hätten sie lügen sollen?« rief Veronika erstaunt.

»Ihre Aussage kann erkauft worden sein ...«

»Von wem?«

»Von Ihrem Vater.«

»Welch ein Einfall! Und wie denn ...? Mein Vater war doch tot.«

»Ich frage Sie noch einmal: Wie können Sie das wissen?«

Jetzt schien Veronika zu stutzen.

»Was wollen Sie damit sagen?« murmelte sie.

»Einen Augenblick. Kennen Sie die Namen jener vier Matrosen?«

»Ich kannte sie, aber ich erinnere mich ihrer nicht mehr.«

»Sie erinnern sich nicht, daß es bretonische Namen waren?«

»Doch, aber ich begreife nicht ...«

Wenn Sie selbst niemals in der Bretagne waren, so ist doch Ihr Vater oft hier gewesen, schon seiner Studien wegen. Zu Lebzeiten Ihrer Mutter hat er sogar hier gewohnt. Dadurch kam er in Verbindung mit Leuten aus dem Volk. Setzen wir also den Fall, daß er die vier Matrosen seit langem kannte, daß diese Leute ihm ergeben waren, oder daß er sie bezahlt und sie für seine Zwecke eigens gedungen hatte. Nehmen wir an, daß sie zuerst Ihren Vater und dann Ihren Sohn in einem kleinen italienischen Hafen an Land gesetzt haben, daß dann alle vier, gute Schwimmer wie sie waren, angesichts der Küste die Jacht zum Scheitern gebracht haben. Nehmen wir an ...«

»So leben diese Leute noch!« rief Veronika mit immer steigender Erregung. »Man könnte sie also befragen?«

»Zwei sind eines natürlichen Todes gestorben, schon vor Jahren. Der dritte ist ein gewisser Maguennoc, ein alter Mann, den Sie in Sarek finden werden. Den vierten haben Sie vielleicht eben selbst gesehen. Mit dem Geld, das diese Angelegenheit ihm einbrachte, hat er in Beg-Meil einen Krämerladen aufgemacht.«

»Ach, der war es. Den kann ich also gleich sprechen«, sagte Veronika zitternd vor Erregung. »Gehen wir gleich zu ihm.«

»Weshalb, ich weiß mehr von der Sache als er.«

»Sie wissen etwas?«

»Ich weiß alles, was Sie nicht wissen. Ich kann Ihnen alle Ihre Fragen beantworten. Fragen Sie nur.«

Veronika jedoch wagte nicht die wichtigste Frage an sie zu stellen. Sie fürchtete sich vor einer Wahrheit, die sie immerhin als möglich erkannte und die sie dunkel ahnte. In schmerzlichem Tone stammelte sie:

»Ich begreife nicht ... Warum sollte denn mein Vater so gehandelt haben? Warum sollte er gewollt haben, daß man an seinen und meines unglücklichen Kindes Tod glaubte?«

»Ihr Vater hat geschworen sich zu rächen.«

»An Vorski wohl, aber an mir?« ...

»An seiner Tochter ... Und auf diese Weise. Sie liebten Ihren Gatten. Sie standen unter seinem Einfluß, und anstatt ihn zu fliehen, haben Sie eingewilligt, ihn zu heiraten. Außerdem war die Beleidigung eine öffentliche gewesen, und Sie kannten Ihren Vater als aufbrausenden, rachsüchtigen Charakter.

»Aber seither? ...«

»Seither, ja, seither! ... Seither hat sich mit zunehmendem Alter auch die Reue eingestellt. Er liebte das Kind, und so hat er Sie überall suchen lassen ... Was habe ich nicht für Reisen gemacht! Zuerst nach Chartres zu den Karmeliterinnen, aber dort waren Sie schon lange nicht mehr ... und wo, wo nur sollte ich Sie finden?«

»Weshalb haben Sie nicht einen Aufruf in die Zeitung gesetzt?«

»Er hat es getan, aber diese Anzeige war sehr vorsichtig gehalten, schon wegen des damaligen Skandals. Es hat sich auch jemand gemeldet. Es wurde eine Zusammenkunft vereinbart, und wissen Sie, wer sich einstellte? Vorski! Vorski suchte Sie auch, er liebte Sie noch immer und haßte Sie auch. Ihr Vater wurde ängstlich und hat nicht mehr gewagt, öffentlich Schritte zu tun.«

Veronika schwieg, sie drohte umzusinken und setzte sich auf den Stein. Hier blieb sie mit gesenktem Kopf sitzen.

»Sie sprechen von meinem Vater, als ob er noch lebte«, murmelte sie.

»Er lebt.«

»Und als ob Sie ihn häufig sähen ...«

»Jeden Tag sehe ich ihn ...«

Aber Veronika sprach leiser: »Aber Sie reden kein Wort von meinem Sohn ... Ich zittere bei dem Gedanken ... Ist er nicht gerettet worden? ... Ist er etwa gestorben? Sprechen Sie darum nicht von ihm?«

Mühsam wandte sie Honorine ihr Gesicht zu. Diese lächelte.

»Oh, ich flehe Sie an, sagen Sie mir die Wahrheit, es ist entsetzlich, sich Hoffnungen hinzugeben, die ... Ich flehe Sie an ...«

Honorine legte ihr den Arm um den Hals.

»Aber meine liebe, gute Dame, würde ich Ihnen dies alles erzählt haben, wenn er nicht lebte, mein lieber, kleiner Franz?«

»Er lebt, er lebt?« rief Veronika wie von Sinnen.

»Aber gewiß, und es geht ihm gut. Oh, es ist ein kräftiger Junge, er steht fest auf seinen Beinen und ich kann mit Recht stolz auf ihn sein, denn ich bin es, die ihn erzogen hat, Ihren Franz.«

Unter der Wucht ihrer Gefühle, die ebensoviel Schmerz wie Freude in sich bargen, lehnte sich Veronika an Honorine, die ihr freundlich zusprach.

»Weinen Sie nur, meine Liebe, das wird Ihnen wohltun. Diese Tränen sind besser als die früheren, nicht wahr? Weinen Sie nur, damit Sie all Ihr Elend vergessen. Ich gehe jetzt ins Dorf. Sie haben sicher noch einen Koffer dort? Man kennt mich. Ich hole ihn, und wir fahren ab.«

Als Honorine eine halbe Stunde später zurückkam, sah sie Veronika aufrecht im Boot stehen, die ihr zuwinkte und rief:

»Schnell doch, wie langsam Sie sind! Wir haben keine Minute zu verlieren.«

Honorine ging aber trotzdem nicht schneller, sie antwortete nicht. Kein Lächeln zeigte sich auf ihrem strengen Gesicht.

»Fahren wir denn nicht ab?« rief Veronika, »weshalb zögern wir, was hindert uns? Sie scheinen mir verändert.«

»Aber ja, aber ja ...«

»Beeilen wir uns also.«

Zusammen trugen sie den Koffer und die Säcke mit Vorräten in das Schiff. Plötzlich aber trat Honorine dicht an Veronika heran und sagte:

»Sind Sie wirklich sicher, daß die Frau auf dem Kreuz Sie selbst darstellte?«

»Vollkommen sicher; außerdem stand mein Namenszug darüber! ...«

»Wie seltsam«, murmelte Honorine, »und wie beunruhigend.«

»Wieso? ... Irgend jemand, der mich vielleicht kannte, hat sich ein Vergnügen daraus gemacht ... Ein bloßer Zufall, ein rätselhaftes Zusammentreffen hat Vergangenes heraufbeschworen.«

»Ach, nicht die Vergangenheit ist es, die mir Sorgen macht, es ist die Zukunft.«

»Die Zukunft?«

»Erinnern Sie sich an die Prophezeiung?«

»Sie kennen sie?«

»Ja, ich kenne sie, und es ist gräßlich, daran und an andere Dinge zu denken, die Sie nicht wissen und die noch viel entsetzlicher sind.«

Veronika brach in Lachen aus.

»Und deshalb zögern Sie, mich mitzunehmen? ... Denn darum handelt es sich doch?«

»Lachen Sie nicht! Wenn man die Hölle vor sich sieht, vergeht einem das Lachen!«

Bei diesen Worten schloß Honorine die Augen und bekreuzigte sich, dann fuhr sie fort:

»Es scheint, daß Sie sich über mich lustig machen! Sie glauben, ich bin eine Frau, die wie andere in der Bretagne abergläubisch ist, an Gespenster und Irrlichter glaubt. Ich leugne es nicht durchaus, aber es gibt noch ganz andere Dinge. Sie können mit Maguennoc darüber sprechen, wenn Sie sein Vertrauen gewinnen.«

»Maguennoc?«

»Der eine von den vier Matrosen. Er ist ein alter Freund Ihres Sohnes, er hat ihn erzogen, Maguennoc weiß mehr als alle Gelehrten, mehr als Ihr Vater.«

»Ja, ja ... aber ...?«

»Maguennoc hat das Schicksal herausfordern wollen und hat das erfahren wollen, was man kein Recht hat zu wissen.«

»Was hat er denn getan?«

»Er wollte mit eigener Hand, wie er mir selbst gesagt hat, an das Dunkle rühren.«

»Und was geschah?« rief Veronika, die, obwohl sie dagegen ankämpfte, ein Angstgefühl überkam.

»Seine Hand verbrannte in den Flammen. Er trägt eine furchtbare Wunde, die er mir selbst gezeigt hat, die ich mit eigenen Augen gesehen habe, ähnlich einer Krebswunde. Und er litt derartig, daß ... daß er mit seiner linken Hand zur Axt greifen mußte und sich damit selbst die rechte Hand abschlug.«

Veronika verstummte voll Entsetzen. Die Erinnerung an den Leichnam in Faouët tauchte auf, und sie stammelte:

»Seine rechte Hand! Sie behaupten, daß Maguennoc sich die rechte Hand abgeschlagen hat?«

»Ja, mit der Axt. Es sind jetzt zehn Tage her, gerade kurz vor meiner Abreise. Ich habe ihn damals gepflegt ... Warum fragen Sie danach?«

»Weil dem Toten, dem alten Mann, den ich in der verlassenen Hütte fand und der dann verschwunden war, die rechte Hand fehlte, sie war frisch abgeschlagen.«

Honorine fuhr zusammen. Auf ihrem Gesicht malte sich starrer Schrecken, der zu der gewöhnlichen Ruhe ihrer Züge im Gegensatz stand.

»Sind Sie sicher?« stieß sie hervor. »Ja, Sie haben recht, er ist es, Maguennoc, er hat lange weiße Haare, nicht wahr, und einen breiten Bart ...«

Sie hielt inne und blickte sich um, als fürchte sie, zu laut gesprochen zu haben. Von neuem bekreuzigte sie sich und sagte langsam, wie zu sich selbst:

»Er ist der erste von denen, die sterben müssen ... Er hatte es mir vorausgesagt ... Und die Augen des alten Maguennoc lasen so gut im Buch der Zukunft, wie in dem der Vergangenheit. Er sah auch das, was wir nicht sehen. Das erste Opfer werde ich sein, sagte er ... und wenn der Diener nicht mehr sein wird, wird einige Tage später sein Herr an die Reihe kommen.«

»Und wer ist sein Herr ...« stieß Veronika tonlos hervor.

Honorine richtete sich auf und ballte energisch die Fäuste. »Ich werde ihn verteidigen,« rief sie, »ich werde ihn retten. Ihr Vater soll nicht das zweite Opfer werden. Nein, nein, ich werde schon noch rechtzeitig hinkommen. Lassen Sie mich abfahren.«

»Wir fahren zusammen«, sagte Veronika entschlossen.

»Ich beschwöre Sie, geben Sie den Gedanken auf«, flehte Honorine. »Lassen Sie mich machen, noch vor dem Abend bringe ich Ihren Vater und Ihren Sohn hierher ...«

»Aber weshalb?«

»Dort ist die Gefahr zu groß ... für Ihren Vater und besonders für Sie. Denken Sie an die vier Kreuze! Dort werden sie aufgerichtet werden. Ach, Sie dürfen nicht hingehen, die Insel ist verflucht.«

»Und mein Sohn?«

»Sie werden ihn heute noch sehen, in wenigen Stunden schon.«

Veronika lachte heiser auf.

»In wenigen Stunden! Aber das ist Wahnsinn! Seit vierzehn Jahren habe ich schon keinen Sohn mehr! Plötzlich höre ich, daß er lebt, und da soll ich warten, bis ich ihn in meine Arme schließen kann?! Keine Stunde warte ich! Lieber will ich mich tausendmal in Todesgefahr begeben als diesen Augenblick aufschieben.«

Honorine sah sie an und schien zu begreifen, daß man Veronikas Entschluß vergebens bekämpfen würde. Sie gab nach. Zum dritten Male bekreuzigte sie sich und sagte einfach:

»Gottes Wille geschehe.«

Beide Frauen setzten sich neben die Gepäckstücke, die das enge Deck des Schiffes beinahe ausfüllten.

Honorine setzte den Motor in Bewegung, ergriff das Steuer und lenkte das Boot mit großer Sicherheit zwischen den bis an die Oberfläche des Meeres ragenden Klippen hindurch.


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