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Mitten im Herzen der Bretagne liegt das malerische Dörfchen Faouët. Dort fuhr an einem schönen Maimorgen ein Wagen ein, dessen Insassin eine Dame von so großer Schönheit und so vollkommener Anmut war, daß auch die weite graue Reisekleidung und der dichte Schleier, der das ganze Gesicht bedeckte, diesen Eindruck nicht verwischen konnte.
Die Dame frühstückte in aller Eile in dem besten Gasthaus des Dorfes. Gegen Mittag bat sie den Wirt, ihren Koffer aufzubewahren, ließ sich einige Auskünfte über die Gegend geben und ging, nachdem sie das Dorf durchquert hatte, auf die Felder hinaus.
Bald zweigten von der Straße zwei Wege ab, der eine führte nach Quimperlé, der andere nach Quimper. Sie wählte den letzteren, stieg eine Talsenkung hinunter, dann wieder hinauf und bemerkte zu ihrer Rechten am Anfang eines Feldweges einen Wegweiser mit der Aufschrift: Locriff 3 km.
»Das ist der Ort«, sagte sie.
Nachdem sie genaue Umschau gehalten hatte, bemerkte sie nichts von allem, wonach sie suchte. Hatte sie die Angaben, die man ihr gemacht hatte, falsch verstanden?
Ringsumher war niemand zu sehen, keine Menschenseele soweit der Blick auch über die bretonische Erde schweifte, über die von Bäumen eingefaßten Wiesen und die welligen Hügel. Unweit des Dorfes erblickte sie die von jungem Frühlingsgrün umsproßte Front eines Schlößchens, dessen Fenster sämtlich geschlossen waren. Es schlug zwölf und das Angelusläuten zitterte durch die Luft. Dann wieder lautlose Stille und tiefer Friede.
Die Dame setzte sich auf eine frischgemähte Böschung und zog einen Brief aus ihrer Tasche, dessen zahlreiche Blätter sie entfaltete.
Die erste Seite zeigte oben folgenden Firmenaufdruck:
»Agentur Dutreillis
Detektivbüro
Vertrauliche Auskunft
Diskretion.«
dann darunter folgende Adresse:
»An Frau Veronika, Modehaus, Besançon.«
Sie las:
»Sehr geehrte gnädige Frau!
Sie ahnen nicht, mit welchem Vergnügen ich mich des doppelten Auftrages entledigt habe, den Sie mir mit Ihrem Geehrten vom Mai des Jahres 1917 erteilt haben. Ich habe niemals vergessen, unter welchen Umständen es mir möglich war, Ihnen vor vierzehn Jahren wirksame Dienste zu leisten, gelegentlich der peinlichen Ereignisse, die so dunkle Schatten auf Ihr Dasein warfen. Ich war es in der Tat, dem es gelang, völlige Gewißheit über den Tod Ihres lieben und ehrenwerten Vaters, des Herrn Anton von Hergemont, und Ihres heißgeliebten Sohnes Franz zu verschaffen. Das war der erste Sieg einer Laufbahn, die noch andere glänzende Erfolge zeitigen sollte.
Ich war es gleichfalls, vergessen Sie dies nicht, der auf Ihre Bitte hin und in der Einsicht wie nützlich es sei, Sie dem Haß und -- sprechen wir es ruhig aus -- der Liebe Ihres Gatten zu entziehen, die ersten Schritte getan hat, um Ihren Eintritt in das Karmeliterinnen-Kloster zu ermöglichen. Endlich war auch ich es, der, nachdem Ihre Zurückgezogenheit im Kloster Ihnen gezeigt hatte, daß dieses Leben der Frömmigkeit Ihrer Natur widersprach, Ihnen jene bescheidene Stellung als Modistin in Besançon verschafft hat, fern von den Stätten, wo sich die Jahre Ihrer Kindheit und die Wochen Ihrer Ehe abgespielt hatten. Sie hatten Geschmack, hatten das Bedürfnis nach Arbeit, um zu leben und zu vergessen. Es mußte Ihnen gelingen und es ist Ihnen gelungen.
Kommen wir zur Sache, zu der doppelten Tatsache, die uns beschäftigt.
Zunächst die erste Frage.
Was ist im Strudel der Ereignisse aus Ihrem Gatten, dem Herrn Alexis Vorski, nach seinen Papieren Pole von Geburt, nach seinen Reden Sohn eines Königs, geworden? Ich werde mich kurz fassen. Politisch verdächtigt, seit Beginn des Krieges in einem Konzentrationslager gefangen gehalten, ist Herr Vorski eines Tages entflohen, in die Schweiz entwichen und schließlich nach Frankreich zurückgekehrt. Hier wurde er festgenommen und der Spionage überführt. Das Todesurteil war unvermeidlich. Er entwich zum zweiten Male. Seine Spuren verloren sich im Walde von Fontainebleau, wo er schließlich, man wußte nicht recht von wem, durch einen Dolchstich ermordet wurde.
Ich erzähle Ihnen dies ganz schonungslos, gnädige Frau, weiß ich doch, welche Verachtung Sie für dieses Wesen empfinden, das Sie so abscheulich verraten hat, und dann ist mir ja auch bekannt, daß Sie aus den Zeitungen schon die meisten von diesen Tatsachen wußten, ohne daß Sie indessen ihre absolute Zuverlässigkeit hätten feststellen können.
Doch die Beweise sind da. Ich habe sie gesehen. Es gibt keinen Zweifel mehr. Alexis Vorski ist in Fontainebleau begraben.
Im Anschlusse an diese Mitteilung erlaube ich mir, Sie, gnädige Frau, auf die seltsamen Umstände dieses Todes aufmerksam zu machen. Sie erinnern sich wohl noch der merkwürdigen Prophezeiung, von der Sie mir sprachen und die Herrn Vorski betraf. Herr Vorski, dessen angeborene Intelligenz und ungewöhnliche Energie durch Unklarheit und Hang zum Aberglauben beeinträchtigt wurden und den Halluzinationen und Angstzustände peinigten, war von dieser Weissagung sehr beunruhigt. Sie lastete auf seinem Leben -- sie war ihm von verschiedenen Leuten gemacht worden, die in okkulten Wissenschaften bewandert waren.
›Vorski, Sohn des Königs, du wirst von der Hand eines Freundes sterben und deine Frau wird ans Kreuz geschlagen werden.‹ Gnädige Frau, während ich diese letzten Worte schreibe, lache ich! Das ist denn doch eine Strafe, die ein wenig außer Mode gekommen ist, und in bezug auf Ihre Person bin ich beruhigt! Aber, was denken Sie über den Dolchstoß, den Herr Vorski nach den geheimnisvollen Weisungen des Schicksals bekommen hat?
Aber genug von diesen Betrachtungen. Es handelt sich jetzt darum ...«
Veronika ließ einen Augenblick den Brief in ihren Schoß sinken. Die anmaßende Schreibweise, die vertraulichen Scherze des Herrn Dutreillis verletzten ihr Zartgefühl. Auch hielt das tragische Schicksal von Alexis Vorski sie im Bann. Ein Schauer durchlief sie bei der schrecklichen Erinnerung an diesen Menschen. Sie faßte sich und begann von neuem zu lesen.
»Gnädige Frau, es handelt sich nunmehr um eine zweite Mission, die wichtigere in Ihren Augen, da alles übrige nur noch der Vergangenheit angehört.
Stellen wir einmal die Tatsachen fest. Es war vor drei Wochen, als Sie an einem Donnerstag abends ausnahmsweise die strenge Einförmigkeit Ihres Daseins unterbrachen und mit Ihren Angestellten ins Kino gingen. Hier begegnete Ihnen etwas höchst Seltsames. Der Hauptfilm, ›Die bretonische Legende‹ genannt, stellte im Verlauf einer Wallfahrt eine Szene dar, die sich an einem Wege vor einer kleinen verlassenen Hütte abspielte, die mit der Handlung durchaus nichts zu tun hatte. Diese Hütte stand offenbar rein zufällig da, aber etwas wahrhaft Ungewöhnliches lenkte Ihre Aufmerksamkeit auf sie. Auf den geteerten Brettern der alten Tür standen mit der Hand geschrieben folgende drei Buchstaben: ›V. v. H.‹ und diese drei Buchstaben waren ganz einfach die Anfangsbuchstaben Ihres Mädchennamens, wie Sie sie früher in Ihren Familienbriefen gebraucht hatten und wie Sie sie seit 14 Jahren nicht ein einziges Mal mehr angewandt haben! Veronika von Hergemont! Kein Irrtum möglich. Zwei große Buchstaben, getrennt durch das kleine v, und was noch besonders auffällig war, der Querstrich des Buchstabens H war unterhalb der drei Buchstaben nach rückwärts gezogen, gleichsam einen Schnörkel bildend, genau so wie Sie es früher getan haben. Der Schrecken über dieses seltsame Zusammentreffen veranlaßte Sie, meine Hilfe in Anspruch zu nehmen. Sie war Ihnen von vornherein sicher, und Sie wußten, daß sie wirksam sein würde.
Wie Sie wohl erwarten dürften, bin ich zum Ziel gelangt.
Meiner Gewohnheit gemäß werde ich mich weiter kurz fassen.
Gnädige Frau, nehmen Sie in Paris den Abendzug, der Sie am folgenden Morgen nach Quimperlé bringen wird. Von da mieten Sie einen Wagen bis nach Faouët. Dann gehen Sie zu Fuß auf der Straße nach Quimper weiter. Nach dem ersten Hügel, ein wenig vor dem Feldweg, der nach Locriff führt, steht auf einer im Halbrund von Bäumen eingefaßten Anhöhe die verlassene Hütte, die jene Inschrift trägt. Nichts Bemerkenswertes ist an ihr zu sehen. Das Innere ist nichts als ein leerer Raum. Ein verfaultes Brett dient als Bank. Als Dach ein Rahmen aus Holz, durch den es hindurchregnet. Ich wiederhole, es steht außer Zweifel, daß nur der Zufall diese Hütte in den Gesichtskreis des aufnehmenden Kinematographen gebracht hat. Ich will noch hinzufügen, daß der Film ›Die bretonische Legende‹ im verflossenen September aufgenommen wurde, daß mithin die Inschrift also mindestens acht Monate zurückdatiert werden muß.
Soweit der Tatbestand, gnädige Frau. Meine doppelte Aufgabe ist beendet. Ich bin zu bescheiden, um Ihnen zu sagen, nach welchen Anstrengungen und durch welche sinnreiche Mittel ich sie in so kurzer Zeit habe erledigen können. Sie würden sonst die Summe von 500 Frank, auf die ich das Honorar meiner Bemühungen bestimmte, wirklich etwas lächerlich finden. Genehmigen Sie, gnädige Frau ...«
Veronika faltete den Brief wieder zusammen und überließ sich einige Minuten dem Eindruck, den diese Lektüre in ihr hervorgerufen hatte. Ein sehr schmerzhaftes Gefühl war es, wie alles, was ihr die gräßlichen Tage ihrer Ehe in die Erinnerung zurückrief. Ein Eindruck besonders war in ihr ebenso wach geblieben wie am Tage, da sie, um sich ihm zu entziehen, in den Schatten eines Klosters verschwunden war. Es war das Gefühl, die Gewißheit sogar, daß all ihr Unglück, daß der Tod ihres Vaters, der Tod ihres Sohnes, alles von der Schuld herrührte, die sie durch ihre Liebe zu Vorski auf sich geladen hatte. Gewiß, sie hatte sich gegen die Liebe dieses Mannes gewehrt, sie hatte sich nur gezwungen zu der Heirat entschlossen, rein aus Verzweiflung und um Herrn von Hergemont der Rache Vorskis zu entziehen. Aber trotz alledem hatte sie ihn geliebt, diesen Mann. Trotz alledem war sie im Anfang erbleicht unter seinem Blick und von allem, was ihr heute eine unverzeihliche Feigheit schien, blieb in ihr ein Gefühl der Reue, das die Zeit nicht gemildert hatte.
»Vorwärts,« murmelte sie, »genug geträumt, ich bin nicht hierher gekommen, um zu weinen.«
Die Neugierde, die sie aus ihrer Zurückgezogenheit in Besançon herausgelockt hatte, erwachte von neuem, und -- zum Handeln entschlossen -- stand sie auf.
»Ein wenig vor dem Feldweg, der nach Locriff führt, auf einer im Halbrund von Bäumen eingefaßten Anhöhe« besagte der Brief des Herrn von Dutreillis. Sie war also schon an dem Ort vorüber. In großer Eile ging sie zurück und bemerkte alsbald zu ihrer Rechten die Baumgruppe, welche die Hütte ihren Blicken entzogen hatte. Als sie näher hinzukam, konnte sie die Hütte sehen.
Es war eine Art Schutzhütte für einen Hirten oder einen Chaussee-Arbeiter, die unter dem Einfluß der Witterung schon baufällig geworden war. Veronika trat näher und stellte fest, daß die Inschrift, die durch Sonne und Regen schon gelitten hatte, weit weniger deutlich zu sehen war als auf dem Film; aber die drei Buchstaben waren gut zu erkennen, ebenso der Schnörkel. Und sie entdeckte sogar darunter etwas, was Herr Dutreillis nicht festgestellt hatte, nämlich einen Pfeil und eine Nummer, die Nummer 9.
Ihre Erregung wuchs. Obwohl man in keiner Weise versucht hatte, ihre Handschrift nachzuahmen, war es doch die Unterschrift ihres Mädchennamens. Wer hatte hier in der Bretagne, wo sie niemals gewesen war, auf einer verlassenen Hütte diese Buchstaben anbringen können?
Veronika kannte auf der Welt keinen Menschen, mehr. Durch eine Folge von Umständen war mit dem Tode aller derer, die sie geliebt und gekannt hatte, ihre ganze Vergangenheit versunken. Wie war es also möglich, daß die Erinnerung an ihren Namenszug außer in ihr und denen, die nicht mehr lebten, noch fortbestand? Und dann vor allem: was sollte diese Inschrift hier an diesem Orte? Was bedeutete sie?
Veronika ging um die Hütte herum. Weder hier noch auf den Bäumen ringsum fand sie ein anderes Zeichen. Sie erinnerte sich, daß Herr Dutreillis die Hütte geöffnet und auch im Innern nichts entdeckt hatte. Trotzdem wollte sie sich selbst vergewissern, ob er sich nicht getäuscht habe.
Die Tür war durch einen einfachen hölzernen Riegel verschlossen. Sie hob diesen Riegel, und merkwürdig genug, sie mußte sich unerklärlicherweise einen zwar nicht körperlichen, so doch seelischen Zwang antun und ihre ganze Willenskraft aufwenden, um diesen Riegel zu heben. Es schien, als ob sie mit dieser Bewegung in eine Welt von Geschehnissen und Tatsachen einträte, vor der sie unbewußt zurückschreckte.
»Was soll das?« sagte sie zu sich selbst, »was hält mich zurück?« und sie öffnete hastig. Ein Schrei des Entsetzens entfuhr ihr. In der Hütte lag der Leichnam eines Mannes, und in dem gleichen Augenblick, wo sie den Leichnam sah, bemerkte sie auch das besondere Merkmal dieses Toten: die eine Hand fehlte.
Es war ein Greis, dessen Bart fächerartig auseinanderfiel und dessen langes weißes Haar ihm bis zum Halse herabhing. Die schwärzlichen Lippen, eine gewisse fleckige Farbe der Haut brachten Veronika auf den Gedanken, daß er vielleicht vergiftet worden sei, denn sein Körper zeigte keine Spur einer Verwundung, mit Ausnahme der klaffenden Wunde am Arm, oberhalb des Handgelenkes, die schon einige Tage alt sein mochte. Seine Kleidung war die eines bretonischen Bauern, sauber, aber sehr abgetragen. Die Leiche lag in sitzender Stellung auf dem Boden, den Kopf an die Bank gelehnt und die Beine eingezogen.
Alle diese Feststellungen machte Veronika halb unbewußt. Erst später sollten sie ihr zum Bewußtsein kommen, denn im Augenblick blieb sie zitternd, mit starrem Blick, wie angewurzelt stehen und stammelte:
»Ein Leichnam, ein Leichnam ...«
Plötzlich kam ihr der Gedanke, daß sie sich vielleicht täusche, und daß dieser Mann vielleicht nicht tot sei. Als sie aber seine Stirne berührte, erschauerte sie bei der Berührung dieser eiskalten Haut.
Diese Bewegung riß sie aus ihrer Starrheit. Sie beschloß zu handeln, und da ringsum niemand zu sehen war, wollte sie nach Faouët zurückkehren, um die Behörde zu benachrichtigen. Vorher aber betrachtete sie sorgfältig den Leichnam, um zu sehen, ob nicht ein Anhaltspunkt für seine Identität zu finden wäre.
Die Taschen waren leer. Wäsche und Kleider waren nicht gezeichnet. Als sie aber, um ihre Nachforschungen auszuführen, den Leichnam ein wenig beiseite schob, neigte sich der Kopf nach vorn, der Oberkörper sank vorn über die Beine, und der Raum unter der Bank wurde sichtbar.
Unter der Bank entdeckte sie ein zusammengerolltes Papier mit einer fast verwischten Zeichnung. Es war zerknittert, gleichsam mit Gewalt zerrieben und zusammengedreht. Sie hob es auf und faltete es auseinander. Aber kaum hatte sie dies getan, als ihre Hände zu zittern begannen, und sie stammelte: »O mein Gott ... O mein Gott!« Mit aller Willenskraft wollte sie sich zur Ruhe zwingen und mit Augen schauen, die ruhig prüften, und mit einem Gehirn arbeiten, das die Dinge erfaßte.
Dies gelang ihr für höchstens einige Sekunden, aber während dieser Sekunden unterschied sie durch einen immer dichter werdenden Nebel hindurch, der ihr Auge zu verschleiern drohte, eine rote Zeichnung, die vier an vier Bäumen gekreuzigte Frauen darstellte.
Und als erste sah sie auf dieser Zeichnung im Mittelpunkt des Bildes eine verschleierte, schon erstarrte Gestalt, deren Züge trotz der entsetzlichen Qualen noch deutlich zu erkennen waren. Diese gekreuzigte Frau war sie selbst. Kein Zweifel, sie war es, sie selbst, Veronika von Hergemont. Auch befand sich oberhalb des Hauptes, nach antikem Muster, ein Schild mit einer stark hervortretenden Inschrift.
Es war der Namenszug: V. v. H. Veronika von Hergemont.
Ein krampfartiges Zittern durchlief sie. Sie richtete sich auf, tastete schwindelnd nach der Tür und sank ohnmächtig in das Gras.
Veronika war eine gesunde, große und kräftige Frau von bewundernswertem Gleichgewicht, deren seelische Harmonie niemals durch die Prüfungen, die sie erduldet hatte, erschüttert wurde. Es bedurfte schon außergewöhnlicher, unvorhergesehener Erlebnisse, wie diese im Verein mit zwei im Zug verbrachten Nächten, um ihre Nerven und ihre Willenskraft völlig zu erschüttern.
Diese Schwäche dauerte übrigens nur zwei bis drei Minuten, dann wurden ihre Gedanken wieder klar, und sie fand ihren Mut wieder.
Sie erhob sich, trat noch einmal in die Hütte, ergriff das Papier und las es, wenn auch mit unsagbarer Herzensangst, so doch mit Augen, die ruhig prüften, und mit einem Gehirn, das die Dinge erfaßte.
Zuerst die Einzelheiten, die unbedeutend schienen oder deren Bedeutung ihr zunächst nicht klar ward. Links eine schmale Spalte von ungefähr vierzehn Zeilen, die keine Worte enthielten, sondern nur aus Buchstaben bestanden, aus immer gleichen Strichen, die nur zum Ausfüllen bestimmt zu sein schienen.
An verschiedenen Stellen waren immerhin einige Worte zu lesen und Veronika entzifferte:
»Vier Frauen am Kreuz«,
weiter unten:
»Dreißig Särge«
und am Schluß eine ganze folgendermaßen lautende Zeile:
»Stein Gottes, der Tod oder Leben gibt.«
Diese ganze Spalte war von zwei regelmäßig geführten Linien eingerahmt. Die eine mit roter, die andere mit schwarzer Tinte gezogen. Oben, gleichfalls rot, sah man eine Darstellung zweier von einem Mispelzweig umschlungener Sicheln, und darunter den Schattenriß eines Sarges.
Der rechte, bei weitem wichtigste Teil des Bildes war ganz ausgefüllt durch die blutfarbene Zeichnung, die der ganzen Seite mit der danebenstehenden Erklärung das Aussehen einer Buchseite gab oder vielmehr der Nachahmung einer Buchseite -- das Blatt sah aus wie das eines großen mit Bilderschmuck versehenen altertümlichen Buches -- worin die Gegenstände ein wenig naiv, in völliger Unkenntnis der Gesetze der Perspektive dargestellt sind.
Es waren vier Frauen an Kreuzen. Drei von ihnen füllten, immer kleiner werdend, den Hintergrund. Sie trugen bretonische Tracht und auf dem Kopf eine bretonische Haube von besonderer Art, die nur an bestimmten Orten üblich war, mit breiter, schwarzer, nach Elsässer Art geknoteter Schleife. In der Mitte der Seite aber befand sich das Schreckliche, von dem Veronika ihren entsetzten Blick nicht loslösen konnte: Das Hauptkreuz, an dem rechts und links die Arme der Frau herunterhingen.
Hände und Füße waren nicht durch Nägel gehalten, sondern durch einen Strick, der bis zu den Schultern und bis hinauf zur Gabelung der Beine reichte. An Stelle der bretonischen Tracht trug dieses Opfer eine Art Schultertuch, das fast bis zur Erde reichte und den durch die Marterung abgemagerten Körper noch magerer erscheinen ließ.
Der Ausdruck des Gesichtes war herzzerreißend. Es war ein Ausdruck schmerzlicher Ergebenheit. Es war das Gesicht Veronikas, so wie sie sich erinnerte, als Zwanzigjährige ausgesehen zu haben, wenn sie in trüben Stunden mit hoffnungslosen Augen und tränenüberströmt in den Spiegel gesehen hatte.
Und da war auch die dichte Flut ihres Haares, das in gleichmäßigen Wellen bis auf den Gürtel herabfiel.
Und oben die Inschrift V. v. H.
Veronika blieb lange in Nachdenken versunken, sie befragte ihre Vergangenheit und versuchte in dem Dunkel eine Verbindung herzustellen zwischen den Ereignissen von jetzt und den Erinnerungen ihrer Kindheit; aber ihr Geist konnte es zu keiner Klarheit bringen. Die Worte, die sie las, die Zeichnung, die sie sah, nichts von alldem hatte auch nur den geringsten Sinn für sie, nichts hätte zu der kleinsten Aufklärung führen können.
Mehrere Male prüfte sie das Papier, endlich zerriß sie es langsam in lauter kleine Stückchen, die der Wind forttrug. Als das letzte Stückchen davonflog, war ihr Entschluß gefaßt. Sie schloß die Tür und entfernte sich eiligst in der Richtung nach dem Dorfe, um diesem Geschehnis den gerichtlichen Abschluß zu geben, der im Augenblick allein möglich war.
Als sie aber eine Stunde später mit dem Bürgermeister von Faouët, dem Feldhüter und einer Anzahl Neugieriger, die durch ihre Erzählung angelockt waren, zurückkam, war die Hütte leer.
Der Leichnam war verschwunden.
All dies war so sonderbar und Veronika wußte wohl, daß es ihr in dem Wirrwarr ihrer Gedanken unmöglich war, auf die Fragen, die man an sie richtete, zu antworten; ebensowenig gab sie sich Mühe, den Zweifel, den man vielleicht gegen ihren gesunden Verstand hegte, zu zerstreuen. Sie machte keinen Versuch, Mißdeutungen zu vermeiden. Der Wirt war auch da und so fragte sie ihn, welches das nächste Dorf sei, das auf dem Wege liege, und ob sie auf diese Weise an eine Bahnstation käme, die ihr die Rückkehr nach Paris ermöglichte.
Sie merkte sich die beiden Namen Scaër und Rosporden, bestellte einen Wagen, der mit ihrem Koffer sie unterwegs einholen sollte, und ging.
Sie reiste ab, sozusagen ins Blaue hinein. Der Weg war lang. Meilen und wieder Meilen, aber sie hatte es so eilig, diesen unbegreiflichen Ereignissen ein Ende zu machen und wieder Ruhe und Vergessen zu finden, daß sie mit großen Schritten vorwärts strebte, ohne zu bedenken, daß diese Anstrengung überflüssig war, da ja der Wagen ihr folgte.
Sie stieg bergan, dann wieder talwärts, und sie dachte an nichts mehr. Sie wehrte sich dagegen, eine Lösung zu suchen für all die Rätsel, die sich ihr darboten, und sie hatte eine fürchterliche Angst vor dieser ihrer Vergangenheit, die den Zeitraum von ihrer Entführung durch Vorski bis zu dem Tode ihres Vaters und ihres Kindes umfaßte ...
An nichts weiter wollte sie denken als an das ganz bescheidene Leben, das sie sich in Besançon geschaffen hatte. Dort gab es keinen Kummer, keine Träume, keine Erinnerungen, und sie zweifelte nicht daran, daß sie inmitten ihrer kleinen täglichen Verpflichtungen, die sie in dem bescheidenen, von ihr gewählten Beruf einhüllten, die verlassene Hütte, den verstümmelten Leichnam, die entsetzliche Zeichnung und die geheimnisvolle Inschrift vergessen würde.
Als sie aber noch vor dem Marktflecken Scaër den Hufschlag eines Pferdes hinter sich hörte, sah sie an der Stelle, wo die Landstraße nach Rosporden abbog, ein altes Gemäuer, das von einem halbeingestürzten Haus übriggeblieben war.
Und auf dieser Mauer stand über einem Pfeil und der Nummer neun mit weißer Kreide jene schicksalsschwere Inschrift: V. v. H.