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Veronika war allein auf der Insel der dreißig Särge zurückgeblieben. Sie rührte sich nicht, bis die Sonne zwischen den Wolken, die auf dem Meer zu ruhen schienen, unterging. Gebrochen lag sie am Fenster, ihr Kopf ruhte auf ihren Armen, die sie auf das Fensterbrett stützte. Die Wirklichkeit tauchte aus dem Dunkel ihres Bewußtseins auf wie ein Bild, das sie nicht sehen wollte, das aber für Augenblicke so klar und deutlich wurde, als erlebe sie die grausigen Szenen noch einmal.
Noch immer suchte sie nach keiner Erklärung, gab sich keinen Vermutungen hin, die Licht in dieses Drama hätten bringen können. Sie nahm vielmehr an, daß Franz und Stephan Maroux wahnsinnig geworden seien, denn einen anderen Beweggrund zu solchem Tun konnte sie nicht finden.
Der Wahnsinn Honorines ließ sie auch alle Ereignisse auf eine Geistesstörung zurückführen, die alle Bewohner von Sarek erfaßt hätte. Sie selbst fühlte, wie sich in gewissen Augenblicken ihre Gedanken verwirrten und im Nebel verschwanden. Unsichtbare Gespenster mochten wohl hier umgehen.
Sie sank in einen Halbschlaf, der von so furchtbaren Bildern erfüllt war, daß sie verzweifelt zu schluchzen begann. Es schien ihr, als hörte sie ein leises Geräusch, das in ihrem dumpfen Bewußtsein sofort eine schlimme Bedeutung bekam. Feinde näherten sich. Sie schlug die Augen auf.
Vor ihr, drei Schritte entfernt, saß auf seinen Hinterbeinen ein drolliges Tier mit langen hellbraunen Haaren, dessen Vorderpfoten wie Arme über der Brust gekreuzt waren.
Es war ein Hund. Und sogleich erinnerte sie sich an den Hund, von dem Honorine ihr erzählt hatte, als von einem guten, treuen und spaßigen Tier. Sogar der Name fiel ihr ein, »Allesgut«.
Als sie halblaut den Namen aussprach, kam es wie Zorn über sie, und schon wollte sie das Tier mit dem trügerischen Namen davonjagen. Allesgut! Sie dachte an alle Opfer der grausigen Katastrophe, an alle Toten von Sarek, an ihren ermordeten Vater, an Honorine, die sich ins Meer gestürzt hatte, und an Franz, der wahnsinnig geworden war.
Alles gut!
Der Hund rührte sich nicht. Er machte schön, so wie Honorine es beschrieben hatte. Der Kopf hing ein wenig vornüber, ein Auge hatte er geschlossen, die Schnauze machte er breit bis zu den Ohren, hielt die Pfoten verschränkt, und aus seinem Gesicht sprach etwas wie ein Lächeln.
Veronika erinnerte sich an alles. So zeigte Allesgut den Menschen, die Kummer hatten, sein Mitgefühl.
Allesgut konnte keine Tränen sehen. Sobald jemand weinte, machte er so lange schön, bis man lächeln mußte und ihn streichelte.
Veronika lächelte nicht, aber sie zog ihn an sich und sagte zu ihm:
»Nein, mein kleiner Freund, Sorgen habe ich schon, ganz gewiß, aber wenn auch, man muß leben, nicht wahr, und man darf nicht wie die anderen wahnsinnig werden.«
Aber es galt zu handeln. Sie ging in die Küche hinunter, fand einige Vorräte, von denen sie dem Hund einen guten Teil abgab, und ging dann wieder hinauf.
Es war Nacht geworden. Im ersten Stockwerk öffnete sie die Tür zu einem Zimmer, das wohl für gewöhnlich leer gestanden hatte. Die Anstrengungen und furchtbaren Aufregungen, die hinter ihr lagen, hatten sie grenzenlos erschöpft, und sie schlief sofort ein. Allesgut wachte an ihrem Bett.
Sie erwachte erst gegen Morgen. Ein eigentümliches Gefühl von Ruhe und Frieden war über sie gekommen. Ihr jetziges Leben rief ihr die ruhigen und sanften Tage von Besançon wieder ins Gedächtnis. Die Schreckenstage, die sie durchlebt hatte, wichen zurück wie entfernte Ereignisse, deren Wiederkehr nicht zu befürchten war. Die der großen Katastrophe zum Opfer gefallenen Menschen waren für sie gleichsam Fremde, denen man einmal begegnet ist und die man nicht mehr wiedersieht. Ihr Herz trauerte nicht um sie. Der Schmerz drang nicht bis in ihr Innerstes.
Ruhe kam über sie, tröstliche Einsamkeit, das tat ihr so wohl, daß sie, als ein Dampfer auf der Unglücksstelle erschien, ihm keinerlei Zeichen gab. Zweifellos hatte man am Vorabend von der Küste aus das Aufblitzen der Schüsse und den Knall bemerkt. Veronika rührte sich nicht.
Sie sah, wie ein Boot vom Dampfer herabgelassen wurde, und sie vermutete mit Recht, daß man an der Insel anlegen und das Dorf durchsuchen würde. Sie fürchtete eine Untersuchung, in die ihr Sohn hineingezogen werden konnte. Außerdem wollte sie vermeiden, daß man sie fand, daß man sie ausfragte, ihren Namen erfuhr, ihre Geschichte aufdeckte und daß man sie dann wieder in den Kreislauf der höllischen Ereignisse zurückreißen würde, denen sie kaum entgangen war.
Niemand jedoch drang bis zur Abtei vor. Der Dampfer fuhr ab. Nun störte nichts mehr die einsam zurückgebliebene Frau.
So verbrachte sie drei Tage. Das Schicksal schien nichts Schlimmes mehr gegen sie im Schilde zu führen. Sie war allein und konnte über sich bestimmen. Sogar Allesgut, dessen Gegenwart ihr so tröstlich war, verschwand.
Das Gebiet der Abtei umfaßt die ganze äußerste Spitze der Insel. Früher befand sich hier ein Benediktinerkloster, das seit dem fünfzehnten Jahrhundert, von den Mönchen verlassen, nach und nach verfallen war.
Das jetzige Gebäude, das im achtzehnten Jahrhundert von einem reichen bretonischen Schiffsreeder aus den Trümmern der alten Kapelle errichtet worden war, bot nichts Besonderes, weder in der Bauart noch in der Einrichtung des Hauses. Außerdem wagte Veronika nicht, in irgendeines der Zimmer einzudringen. Die Erinnerung an ihren Vater und an ihren Sohn hielt sie von den verschlossenen Türen zurück.
Am zweiten Tag aber, verlockt durch den hellen Frühlingssonnenschein, durchstreifte sie den Park. Er reichte bis zur Spitze der Insel und war wie der vor dem Haus liegende Rasen mit Trümmern und Efeuranken bedeckt. Sie bemerkte, daß alle Wege zu einem hohen, ins Meer hinausragenden Felsen hinführten, auf dem einige uralte Eichen standen. Als sie dort ankam, entdeckte sie, daß diese Eichen eine Lichtung umgaben, die sich im Halbkreis auf das Meer zu öffnete. In der Mitte dieser Lichtung erhebt sich ein Dolmen, dessen längliche und ziemlich kurze Steinplatte auf zwei fast viereckigen Felsvorsprüngen ruht. Der Eindruck ist von gewaltiger Feierlichkeit. Der Blick schweift ins Unendliche.
Das ist der Dolmen, von dem Honorine sprach, dachte sie. Es ist gewiß von hier nicht weit zu dem blühenden Kalvarienberg und zu Maguennocs Blumen.
Sie ging um das Denkmal herum. Auf der inneren Fläche der beiden Felsen waren einige unlesbare Zeichen eingegraben, aber auf der äußeren, dem Meere zugewandten Seite, die eine für eine Inschrift bestimmte glatte Fläche bildete, entdeckte sie etwas, das ihr Herz vor Angst erbeben ließ.
Rechts sah sie, tief in den Stein eingegraben, die ungeschickte und naive Darstellung von vier Kreuzen, an denen die Gestalten von vier Frauen hingen. Links sah sie mehrere Zeilen von Schriftzeichen, die nur grob in den Stein geritzt, durch die Unbill des Wetters fast verwischt oder vielleicht absichtlich von Menschenhand zerstört worden waren. Einige Worte nur waren noch lesbar. Es waren dieselben Worte, die Veronika auf der neben Maguennocs Leiche gefundenen Zeichnung gelesen hatte.
»Vier Frauen am Kreuz ... Dreißig Särge ... Stein Gottes, der Leben oder Tod gibt.«
Veronika taumelte zurück. Wieder stand sie vor dem Geheimnis, wie überall auf der Insel. Aber sie wollte nichts mehr davon wissen, bis zu dem Augenblick, wo sie Sarek verlassen konnte.
Neben der letzten Eiche rechts, die vom Blitz getroffen schien und von der nur noch ein Teil des Stammes und einige abgestorbene Zweige übrig geblieben waren, führte ein Fußweg aus der Lichtung heraus.
Auf diesem gelangte Veronika durch einige Steinstufen hinab auf eine kleine Wiese, wo vier Reihen Menhirs nebeneinander standen. Mit ersticktem Schrei hielt sie plötzlich inne, voll Staunen und Verwunderung über den Anblick, der sich ihr bot.
»Maguennocs Blumen«, sagte sie leise. Die beiden letzten Menhirs der Reihe, die sie durchschritt, bildeten die Eingangspforte zu dem unerhörtesten Schauspiel. Es war ein rechteckiger, höchstens fünfzig Meter langer Platz, zu dem einige Stufen hinabführten und der wie von Tempelsäulen von zwei Reihen gleichhoher und in regelmäßigen Abständen sich folgender Menhirs begrenzt wurde. Das Schiff und die Seitengänge dieses Tempels waren mit großen, regelmäßigen und geborstenen Granitquadern ausgelegt. Das Gras, das in den Spalten wuchs, umrandete sie wie die Bleieinfassung großer Kirchenfenster.
In der Mitte sah Veronika ein etwas kleineres Quadrat. Hier drängte sich um ein steinernes altes Christusbild, das in der Mitte stand, eine Fülle von Blumen. Aber was für Blumen! Blumen, wie keine Phantasie sie sich ausmalen konnte, phantastische Blumen, von denen man träumt.
Veronika erkannte sie wieder. Dennoch stand sie wie betäubt vor diesem Glanz und dieser Größe. Es waren Blumen vieler Arten, aber von jeder Sorte nur einzelne. Sie sahen aus wie ein Strauß, der alle Farben, alle Düfte und alle Schönheit in sich vereinigen wollte.
Und das Erstaunlichste war, daß diese Blumen, die für gewöhnlich nicht gleichzeitig aufbrechen, sondern von Monat zu Monat sich erschließen, hier gleichzeitig in Blüte standen! An demselben Tage blühten alle diese üppigen Blumen, deren Blütezeit sonst zwei oder drei Wochen umfaßt. Ihre schweren, prächtigen, leuchtenden Blüten standen in großer Masse stolz auf den kräftigen Stielen.
Und über all diesen Blüten -- ach, wie erschrak die junge Frau -- über diesem leuchtenden Blumenkorb standen etwas erhöht auf einem schmalen Beet um den Sockel des Kruzifixes, zu dem ihre blauen Blüten hinaufzustreben schienen, eine Fülle blauer, weißer und lila Veronika ...
Vor Erregung drohte sie umzusinken. Auf einer kleinen Tafel, die an dem Sockel befestigt war, las sie die wenigen Worte:
»Mutters Blumen.«
Veronika glaubte nicht an Wunder, sie sah wohl, daß diese übernatürlichen Blumen den Blumen unseres Landes nicht vergleichbar waren. Aber sie wollte nicht glauben, daß diese Besonderheit nur von übernatürlichen Kräften oder von den Mitteln und Zauberformeln herrührte, deren Geheimnis Maguennoc gekannt hatte. Nein, es war da noch ein anderer Grund, der vielleicht sehr einfach war und in den die Ereignisse bald Klarheit bringen würden.
In dieser heidnischen Umgebung, mitten in diesem Wundergarten, den Christus durch seine Gegenwart geschaffen zu haben schien, erhob sich ein Bild aus der Fülle der Blumen, die ihm ihre Farben und ihre Düfte darboten. Veronika kniete nieder.
An den beiden folgenden Tagen ging sie wieder zum Kalvarienberg. Diesmal hatte das Geheimnis, das sie von allen Seiten umgab, für sie etwas ungemein Liebliches und ihr Sohn spielte darin eine Rolle, denn beim Anblick der blauen Veronika vermochte sie ohne Haß und ohne Verzweiflung von ihm zu träumen.
Am fünften Tage aber bemerkte sie, daß ihre Vorräte zur Neige gingen und am Nachmittag stieg sie ins Dorf hinunter.
Dort unten fand sie die meisten Häuser offen, so sehr hatten sich ihre Bewohner beim Weggehen darauf verlassen, daß sie wiederkommen und bei ihrer zweiten Fahrt alles Notwendige mitnehmen würden. Beklommenen Herzens, wagte sie nicht über die Schwelle zu treten. Auf dem Fenstersims standen Geranien. In den leeren Zimmern zeigten große Standuhren mit Kupferpendeln nach wie vor die Zeit an. Veronika entfernte sich wieder.
Da bemerkte sie nicht weit vom Hafen unter einem Schuppen die Säcke und Kisten, die Honorine in ihrem Boot mitgebracht hatte.
»Nun also«, sagte sie sich. »Ich werde nicht Hungers sterben. Da liegt genug für Wochen, und dann ...«
Sie legte sich Schokolade, Zwieback, einige Konservenbüchsen, Reis und Streichhölzer in ein Körbchen und wollte gerade in die Abtei zurückgehen, als sie auf den Gedanken kam, ihren Gang bis ans andere Ende der Insel auszudehnen. Auf dem Rückweg würde sie dann den Korb mitnehmen.
Ein schattiger Weg führte zu dem Plateau hinauf. Die Landschaft schien unverändert zu sein. Dieselbe Ebene, dieselbe Heidelandschaft, unbebaut und ohne Viehherden. Hier und da eine Gruppe alter Eichen. Auch hier verengte sich die Insel und nichts hinderte den Ausblick auf die andere Seite, so daß man weithin die Küste der Bretagne übersehen konnte.
Sie entdeckte eine Hecke, die sich von einem Felsen zum anderen hinzog und die ein Besitztum begrenzte. Ein Besitztum von jämmerlichem Aussehen, mit langgestrecktem, halbzerfallenem Gemäuer. Die Dächer der Nebengebäude waren geborsten, der Hof war schmutzig gehalten. Altes Eisen und Holz lagen herum.
Schon war Veronika im Begriff zu gehen, als sie erstaunt halt machte. Sie glaubte ein Stöhnen gehört zu haben und lauschte in die Stille hinaus. Da vernahm sie von neuem denselben, jetzt deutlicheren Laut. Es war eine weibliche Stimme, die klagend um Hilfe rief. So waren also nicht alle Bewohner fort? Bei dem Gedanken, nicht allein in Sarek zu sein, überkam sie ein Gefühl der Freude und zugleich des Schreckens.
Soviel Veronika beurteilen konnte, kam das Geräusch nicht aus dem Hause her, sondern aus einem Nebengebäude rechts vom Hof. Dieser Hof war durch ein einfaches Holzgitter abgeschlossen. Sie öffnete es. Der hölzerne Riegel knirschte.
Jetzt wurden die Rufe lauter. Sicher hatte man sie kommen hören. Veronika beschleunigte den Schritt.
Wenn auch das Dach des Gebäudes schadhaft war, so waren doch die Mauern dick und fest, mit alten gewölbten Türen, die durch Eisenstangen gesichert waren. Gegen eine dieser Türen wurde von innen mit den Fäusten geschlagen, während die Hilferufe immer dringender wurden.
»Zu Hilfe! ... Zu Hilfe! ...«
Hinter der Tür kämpften zwei Menschen miteinander und eine andere weniger schrille Stimme kreischte:
»Ruhig doch, Clementine, sie sind es vielleicht.«
»Nein, nein, Gertrud, sie sind es nicht! Man hört sie nicht! ... Mach doch auf, der Schlüssel steckt!«
In der Tat sah Veronika, die hineinzugelangen versuchte, einen großen Schlüssel im Schloß stecken. Sie brauchte ihn nur umzudrehen und die Tür ging auf.
Sie erkannte sofort die Schwestern Archignat mit ihren alten Hexengesichtern, nur notdürftig bekleidet und halb verhungert. Der Raum war ein mit allerlei Gerät angefülltes Waschhaus; im Hintergrunde bemerkte Veronika auf einem Strohlager eine dritte Frau, die mit erlöschender Stimme vor sich hinstöhnte und die die dritte Schwester zu sein schien.
In diesem Augenblick sank die eine der beiden Schwestern ohnmächtig um. Die andere aber, deren Augen im Fieber glänzten, ergriff ihren Arm und keuchte:
»Haben Sie sie gesehen? Wie? ... Sind sie da? ... Wie sind Sie ihnen entgangen? Seitdem die anderen geflohen sind, sind sie Herrscher auf Sarek und bald werden wir ... Seit sechs Tagen sind wir hier eingeschlossen ... Am Morgen der Abfahrt ... Wir packten gerade und wollten zu den Booten herab ... Wir wollten alle drei hier aus dem Waschhaus unsere Wäsche holen, da kamen sie ... Wir hörten sie nicht ... Man hört sie nie ... Und plötzlich wurde die Tür hinter uns verschlossen ... Wir hörten sie ins Schloß fallen, der Schlüssel wurde umgedreht und wir waren gefangen ... Wir hatten Äpfel und Brot und auch Branntwein. Not haben wir nicht gelitten ... Aber werden sie nicht wiederkommen und uns totschlagen? Ach, liebe gute Frau, wie haben wir auf jedes Geräusch gelauscht und was für eine Angst haben wir ausgestanden! Die älteste von uns ist wahnsinnig geworden ... Hören Sie nur, sie redet irre ... Clementine ist am Ende ... Und ich ... ich ... Gertrud ...«
Sie hatte noch Kraft, denn sie packte Veronika fest am Arm.
»Corréjou ist doch wieder zurückgekommen, nicht wahr? Und wieder abgefahren? Warum hat er uns nicht abgeholt? Es war nicht schwer, uns zu finden ... Man wußte ja, wo wir waren, und beim geringsten Geräusch riefen wir um Hilfe ... Was ist denn geschehen? ...«
Veronika zögerte mit der Antwort. Weshalb aber sollte sie die Wahrheit verbergen?
»Die beiden Boote sind untergegangen«, sagte sie dann.
»Wie?«
»Nicht weit von Sarek sind beide Boote gescheitert. Alle sind ertrunken ... Das Unglück passierte bei der Durchfahrt am Teufelsfelsen, der Abtei gegenüber.«
Mehr sagte Veronika nicht. Sie vermied es, Franz und seinen Lehrer zu erwähnen und davon zu sprechen, daß sie die Schuld an dem Untergang trugen.
Clementine hatte sich aufgerichtet. Mit verstörtem Gesicht kniete sie neben der Tür.
»Und Honorine? ...« flüsterte Gertrud.
»Honorine ist tot.«
»Tot?« Beide Schwestern hatten es gleichzeitig ausgerufen, dann schwiegen sie und blickten einander an. Derselbe Gedanke kam ihnen. Sie schienen zu überlegen. Gertrud bewegte die Finger, als ob sie zählte. Das Entsetzen auf beiden Gesichtern wurde zusehends größer.
Gertrud, die den Blick fest auf Veronika richtete, stieß wie von Angst gewürgt leise hervor:
»Es stimmt ... Es stimmt ... Wissen Sie, wieviel auf dem Boot waren, ohne mich und meine Schwestern? Wissen Sie das? Zwanzig, dazu Maguennoc, der als erster starb ... dann Herr Anton als zweiter, dazu Franz und Herr Stephan, die verschwunden und sicher auch tot sind, dann Honorine und Marie le Goff, beide tot ... Zählen Sie einmal nach ... das macht sechsundzwanzig ... Sechsundzwanzig, die Rechnung stimmt, nicht wahr? Sechsundzwanzig ab von dreißig, Sie verstehen mich doch, nicht wahr? Die dreißig müssen voll werden, sechsundzwanzig ab von dreißig, bleiben vier, nicht wahr?«
Sie konnte nicht weiter sprechen. Ihre Lippen versagten. Ihr Mund aber stieß trotzdem schreckliche Worte hervor. Sie stammelte:
»Sie verstehen mich? ... Wie, es bleiben vier ... Wir vier, die drei Schwestern Archignat, die man hier eingeschlossen hat, und Sie, stimmt doch, nicht wahr? Vier Kreuze ... Denken Sie daran, vier gekreuzigte Frauen, die Rechnung stimmt ... Wir sind also die vier ... Wir sind allein noch auf der Insel übrig, wir vier Frauen ...«
Schweigend hörte Veronika zu. Leichter Schweiß bedeckte ihre Stirn. Mit einem Achselzucken sagte sie dann:
»Was wollen Sie damit sagen, wenn nur vier auf der Insel sind? Was fürchten Sie denn?«
»Die anderen fürchte ich, die anderen.«
»Sie sind doch alle fort«, wiederholte Veronika ungeduldig.
»Sprechen Sie leise, wenn man Sie hörte«, sagte Gertrud ängstlich.
»Wer sollte mich denn hören?«
»Die anderen, die von früher ...«
»Die von früher?«
»Ja, die, die ihren Göttern Männer und Frauen opferten ...«
»Aber das ist längst vorbei! Druiden gibt es nicht mehr.«
»Sprechen Sie leise, sprechen Sie leise! Es gibt noch welche, es gibt böse Geister ...«
»Gespenster meinen Sie wohl«, sagte Veronika, die einen solchen Aberglauben verabscheute.
»Ja, Gespenster, aber Gespenster aus Fleisch und Blut ... die Türen zuschlagen und einen einsperren ... böse Geister, die Boote zum Scheitern bringen, dieselben, die Herrn Anton getötet haben und Marie le Goff und die anderen ... alle sechsundzwanzig ...«
Veronika antwortete nicht ... Was sollte sie antworten ... Sie wußte, wer Herrn von Hergemont, Marie le Goff und die anderen getötet und die beiden Boote zum Scheitern gebracht hatte.
»Wann hat man Sie hier eingeschlossen?« fragte sie.
»Um halb elf Uhr ... Um elf wollten wir Corréjou und die andern im Dorf treffen.«
Veronika dachte nach. Es war kaum möglich, daß Franz und Stephan um halb elf hätten hier sein können und eine Stunde später schon hinter dem Felsen waren, von dem aus sie die beiden Boote dann angegriffen. Also konnte man annehmen, daß auf der Insel der eine oder der andere ihrer Helfer zurückgeblieben war.
»Wie dem auch sei,« sagte sie, »auf jeden Fall müssen wir einen Entschluß fassen. In diesem Zustand können Sie nicht bleiben. Sie müssen sich ausruhen und kräftigen.«
Die zweite Schwester war aufgestanden, in demselben dumpfen und leidenschaftlichen Ton wie ihre Schwester sagte sie:
»Vor allem müssen wir uns verbergen, um uns gegen sie verteidigen zu können.«
»Aber wie«, fragte Veronika, die unwillkürlich auch den Wunsch empfand, sich gegen einen unbekannten Feind zu schützen.
»Wie? Das kann ich Ihnen gleich sagen. Wir haben viel auf der Insel davon gesprochen, besonders in diesem Jahr, und Maguennoc hatte beschlossen, daß nach dem ersten Angriff sich alle in die Abtei flüchten sollten.«
»Weshalb in die Abtei?«
»Weil man sich dort verteidigen kann. Dort gehen die Felsen senkrecht ins Meer. Von allen Seiten ist man gedeckt.«
»Und die Brücke?«
»Maguennoc und Honorine hatten an alles gedacht. Links von der Brücke steht eine kleine Hütte, dort wollten sie ihren Brennstoff aufbewahren. Der Inhalt von zwei oder drei Blechkannen und einem Streichholz hätte genügt, um die Brücke in Brand zu setzen. Man ist ganz sicher, und eine Verbindung oder irgendein Angriff ist dann nicht mehr möglich.«
»Warum sind die Leute dann nicht auf die Abtei gekommen, anstatt in den Booten zu fliehen?«
»Die Flucht auf den Booten war klüger, aber jetzt haben wir keine andere Wahl mehr.«
»Wollen wir also aufbrechen!«
»Sofort, es ist noch hell, und da ist es besser als bei Nacht.«
»Aber Ihre Schwester, die dort liegt?«
»Wir haben einen Karren, auf dem wir sie fahren können. Es führt ein direkter Weg nach der Abtei, der das Dorf nicht berührt.«
So unangenehm Veronika auch die Aussicht war, mit den Schwestern Archignat zusammen zu hausen, so gab sie unter dem Druck einer unbezwinglichen Angst doch nach.
»Gut«, sagte sie. »Gehen wir also. Ich begleite Sie in die Abtei und gehe dann noch einmal ins Dorf, um Vorräte zu holen.«
»Das ist kaum nötig«, warf eine der Schwestern ein. »Sobald die Brücke gesprengt ist, zünden wir auf der Anhöhe beim Feendolmen ein Feuer an und dann wird man uns von der Küste einen Dampfer schicken. Heute ist es nebelig, aber morgen ...«
Veronika hatte nichts einzuwenden. Sie fand sich mit dem Gedanken ab, Sarek zu verlassen. Selbst auf die Gefahr hin, daß ihr Name in eine Untersuchung hineingezogen würde.
Nachdem die beiden Schwestern ein Glas Branntwein getrunken hatten, machten sie sich auf. Die auf dem Karren hockende Wahnsinnige lachte leise und sprach abgerissene Worte vor sich hin, als wollte sie Veronika auch zum Lachen bringen.
»Wir treffen sie noch nicht ... Sie bereiten sich noch vor.«
»Schweig, du Närrin!« befahl Gertrud. »Du bringst uns noch Unglück.«
»Ja, ja, es wird lustig werden ... Am Hals werde ich ein goldenes Kreuz tragen ... Und ein zweites, mit einer Schere in die Haut geschnitten, in der Hand ... Seht nur, überall Kreuze ... Es muß gut sein auf einem Kreuz, dort schläft man ruhig.«
»Willst du wohl schweigen, du alte Närrin!« wiederholte Gertrud und gab ihr eine Ohrfeige.
»Schon gut, schon gut, bald kriegst auch du eine. Ich sehe schon, wie sie sich verstecken.«
Der erst etwas steile Fußweg mündete jetzt auf der Hochfläche, die von den westlichen Felsen getragen wurde und die weniger steil und weniger zerklüftet war. Dort standen weniger Bäume, und die Eichen waren durch den von der offenen See kommenden Wind gekrümmt und zerzaust.
»Jetzt kommen wir an die Heide, die man die schwarze Heide nennt«, erklärte Clementine. »Hier unten hausen sie.«
Von neuem zuckte Veronika die Achseln.
»Woher wissen Sie das?«
»Wir wissen mehr als die anderen. Man nennt uns Hexen und daran ist etwas Wahres ... Sogar Maguennoc, der doch etwas davon verstand, fragte uns um Rat bei allen Heilmitteln, über Glückssteine und alle möglichen Kräuter ...«
»Beifuß und Verbenen«, höhnte die Wahnsinnige. »Man pflückt sie bei Sonnenuntergang.« »Er sprach auch mit uns über die alten Geschichten«, fuhr Gertrud fort, »wir wissen, was man sich seit Jahrhunderten auf der Insel erzählt. Man spricht von einer ganzen Stadt, die hier unten liegt. Einer Stadt mit Straßen, in denen Menschen lebten und noch heute leben dort welche ... Ich habe welche gesehen, ich selbst ...«
Veronika antwortete nicht.
»Ja, ich und meine Schwestern haben welche gesehen. Zweimal am sechsten Tage nach Vollmond im Juni. Er trug ein weißes Gewand ... Er stieg auf die große Eiche, um mit einer goldenen Sichel den heiligen Mistelzweig zu schneiden ... Das Gold leuchtete im Mondenschein ... Ich habe ihn gesehen ... Glauben Sie mir, auch andere haben ihn gesehen ... Und es gibt auch noch mehr. Mehrere sind noch da und hüten den Schatz, ja, ich sage: den Schatz ... Man spricht von einem wundertätigen Stein, der tödlich ist, sobald man ihn berührt und der, wenn man sich darauf legt, lebendig macht ... Alles das ist wahr. Maguennoc hat es uns gesagt. Die von damals hüten den Stein ... den Gottesstein ... Und in diesem Jahr müssen wir alle geopfert werden. Wir alle, dreißig Tote, für die dreißig Särge ...«
»Vier Frauen am Kreuz«, summte die Wahnsinnige.
»Und bald wird es geschehen. Sechs Tage nach Vollmond, bevor sie auf die große Eiche steigen, um den Mistelzweig zu schneiden, müssen wir fort sein. Sehen Sie dort die große Eiche. Man kann sie von hier aus sehen. Sie steht drüben im Eichwald vor der Brücke ... Sie ist größer als alle andern.«
»Dahinter halten sie sich versteckt«, sagte die Wahnsinnige, die sich auf ihrem Karren umgedreht hatte. »Sie warten auf uns.«
»Jetzt ist es genug, sitz still. Den Baum also sehen Sie von hier, dort drüben hinter der letzten Heide? Er ist größer als ...«
Sie hatte den Karren losgelassen und vollendete den Satz nicht.
»Was hast du denn?« fragte Clementine.
»Ich habe etwas gesehen«, stammelte Gertrud, »etwas Weißes, das sich bewegt.«
»Etwas Weißes? Was redest du? Sie zeigen sich doch nicht bei Tag. Du faselst wohl?«
Beide spähten einen Augenblick zur Eiche hinüber. Dann gingen sie weiter. Bald war die große Eiche nicht mehr zu sehen.
Die Heide, durch die sie schritten, machte einen düsteren Eindruck. Der Boden war uneben, bedeckt mit Steinen, die wie Grabsteine alle in einer Reihe lagen.
»Da haben sie ihren Friedhof«, flüsterte Gertrud.
Jetzt sprachen sie nicht mehr. Mehrmals mußte Gertrud sich ausruhen. Clementine hatte nicht Kraft genug, den Karren zu schieben. Beide taumelten vorwärts und spähten unruhig ins Dunkel hinaus. Der Pfad führte abwärts, dann wieder bergan, und so kamen sie auf den Weg, den Veronika am Tag ihrer Ankunft mit Honorine gegangen war. Man war in dem Wald vor der Brücke.
An der wachsenden Erregung der Schwestern Archignat merkte Veronika, daß man sich der großen Eiche näherte, und sie bemerkte, daß die in der Tat mächtiger war als die anderen Bäume. Sie stand wie auf einem Sockel von Steinen und Wurzeln und ein ziemlich großer Zwischenraum trennte sie von den übrigen. Sie konnte sich des Gedankens nicht erwehren, daß hinter diesem dicken Stamm mehrere Menschen sich verbergen könnten, und daß auch vielleicht welche dahinterstanden.
Trotz ihrer Angst fuhren die Schwestern schneller und vermieden es, nach dem gefährlichen Baum hinüber zu sehen.
Jetzt war man vorbei und Veronika atmete auf. Die Gefahr war vorüber und eben wollte sie die Schwestern Archignat auslachen, als eine von ihnen, Clementine, sich mit einem Klagelaut herumwarf und zu Boden stürzte.
Gleichzeitig fiel ein Gegenstand auf die Erde. Dieser hatte sie in den Rücken getroffen. Es war eine Axt, eine steinerne Axt.
»Es ist die Feueraxt«, schrie Gertrud. Sie hob den Kopf, als ob, wie das Volk glaubte, die Axt wirklich vom Himmel gefallen und von einem Donnerschlag geschleudert sei.
In demselben Augenblick machte die Wahnsinnige einen Satz und fiel kopfüber auf den Boden. Ein zweiter Gegenstand war durch die Luft gesaust. Die Wahnsinnige wand sich vor Schmerzen und Gertrud und Veronika bemerkten einen Pfeil, der in ihrer Schulter steckte, in der er noch zitterte. Heulend stürzte Gertrud davon. Veronika aber zögerte. Clementine und die Wahnsinnige wanden sich am Boden.
»Da hinter der Eiche! Sie verstecken sich da ... Ich sehe sie«, lachte die Wahnsinnige, während Clementine stammelte:
»Zu Hilfe, retten Sie mich, bringen Sie mich fort, ich fürchte mich.«
Ein zweiter Pfeil durchflog pfeifend die Luft.
Nun floh Veronika auch. Sie erreichte die letzten Bäume und stürmte den zur Brücke führenden Abhang hinunter. Sie lief wie gehetzt. Weniger von Angst getrieben, als von dem Wunsch beseelt, eine Waffe zu finden und sich zu verteidigen. Es fiel ihr ein, daß im Arbeitszimmer ihres Vaters ein Schrank stand, in dem Gewehre und Revolver lagen, die alle den Vermerk: »Geladen« trugen. Eine dieser Waffen wollte sie holen, um sich dem Feind entgegenzustellen. Sie wandte sich nicht einmal um. Sie wollte nicht wissen, ob man sie verfolgte. Sie lief dem einzigen rettenden Ziel entgegen.
Bald holte sie Gertrud ein.
»Die Brücke,« keuchte diese, »wir wollen sie verbrennen, das Petroleum liegt im Schuppen ...«
Veronika antwortete nicht. Für sie kam die Zerstörung der Brücke in zweiter Linie. Diese Zerstörung wäre sogar ihrem Vorsatz, sich mit der Flinte dem Feind entgegenzuwerfen, hinderlich gewesen.
Als sie aber an der Brücke ankamen, machte Gertrud eine Drehung um sich selbst und stürzte beinahe in den Abgrund. Ein Pfeil hatte sie in den Rücken getroffen.
»Helfen Sie mir ...«, stieß sie hervor, »verlassen Sie mich nicht.«
»Ich komme gleich wieder,« rief Veronika ihr zu, die den Pfeil nicht gesehen hatte und glaubte, daß Gertrud nur gestrauchelt sei. »Ich komme wieder und bringe zwei Flinten ... Kommen Sie mir nach!«
Ihr Plan war, sobald sie beide Waffen hätten, in den Wald zurückzukehren und die beiden Schwestern zu befreien. Sie spannte alle Kräfte an, eilte über die Brücke, kam an die Grenzmauer der Abtei, lief über den Rasen und stürzte ins Arbeitszimmer ihres Vaters hinauf. Atemlos blieb sie dort stehen, und als sie die beiden Flinten an sich genommen hatte, schlug ihr Herz so heftig, daß sie langsamer gehen mußte.
Es wunderte sie, Gertrud nicht mehr zu sehen. Sie rief nach ihr. Niemand antwortete. Erst jetzt kam ihr der Gedanke, daß die Bretonin vielleicht wie ihre Schwestern verwundet worden sei. Sie begann von neuem zu laufen. Als sie aber in die Nähe der Brücke kam, hörte sie trotz des Sausens in ihren Ohren schrille Klagelaute und als sie an den steilen Abhang gelangte, der sich bis zu dem Eichwald hinzog, sah sie ...
Beim Anblick, der sich ihr bot, blieb sie wie angewurzelt vor der Brücke stehen. An der anderen Seite wälzte sich Gertrud am Boden, sie klammerte sich an die Baumwurzeln fest und grub ihre verkrampften Finger ins Gras. Noch wehrte sie sich, aber unaufhaltsam, unmerklich wurde sie von oben langsam den Abhang emporgeschleift.
Und Veronika begriff, daß um die Arme und um den Leib der Unglücklichen ein Strick geschlungen war, mittels dessen sie wie eine leblose Beute von unsichtbarer Hand hochgezogen wurde.
Veronika legte an. Aber auf wen sollte sie zielen? Gegen wen sollte sie kämpfen? Wer verbarg sich hinter den Bäumen und hinter den Steinen, die den Hügel wie einen Wall umgaben? Zwischen diesen Steinen und zwischen diesen Baumstämmen wurde Gertruds Körper hin und her geschleift. Sie schrie nicht mehr. Sie hatte wohl die Besinnung verloren und bald sah man nichts mehr von ihr.
Veronika hatte sich nicht gerührt. Sie sah ein, wie vergeblich es wäre, sich zu wehren. Wenn sie sich in einen Kampf einließ, in dem sie unterliegen mußte, konnte sie die Schwestern Archignat nicht befreien. Sie hätte sich nur selbst dem Sieger als letztes Opfer dargebracht.
Überdies hatte sie Furcht. Alles geschah nach der unerbittlichen Logik von Tatsachen, deren Sinn sie nicht erfaßte, die aber in Wirklichkeit wie die Ringe einer Kette miteinander verbunden schienen. Sie fürchtete sich vor diesen Wesen, diesen Geistern, fürchtete sich unbewußt und unwillkürlich, ganz wie die Schwestern Archignat, wie Honorine, wie alle die andern Opfer der entsetzlichen Katastrophe.
Um nicht von der großen Eiche aus gesehen zu werden, bückte sie sich; gedeckt von Gebüsch und Dorngestrüpp, gelangte sie an den kleinen Schuppen, von dem sie mit den Schwestern Archignat gesprochen hatte. Es war ein runder Bau mit einem spitzen Dach und farbigen Fliesen. Dieser Schuppen war zur Hälfte mit Benzinbehältern angefüllt. Von hier aus beherrschte sie die Brücke, die niemand betreten konnte, ohne von ihr gesehen zu werden. Niemand aber kam aus dem Wald heraus.
Die Nacht brach herein. Eine nebelige Nacht, schwach erhellt von silbernem Mondlicht, so daß Veronika kaum den Wald drüben erkennen konnte.
Nach einer Stunde hatte sie sich genügend beruhigt, um zum ersten Male mit zwei Kannen zur Brücke zu gehen, deren Inhalt sie auf die äußeren Balken der Brücke goß. Zehnmal wiederholte sie diesen Gang, immer auf der Lauer, das Gewehr zur Hand, zur Verteidigung bereit. Aufs Geratewohl goß sie das Benzin auf die Brücke, suchte tastend die Stellen, wo das Holz ihr am trockensten schien.
Sie hatte eine Schachtel Streichhölzer bei sich, die einzige, die sie im Hause hatte finden können. Sie zog ein Streichholz heraus und zögerte einen Augenblick, als fürchte sie sich vor der großen Helligkeit, die sie entfachen würde.
»Wenn man das Feuer doch wenigstens von der Küste aus sähe«, dachte sie ... »Aber bei diesem Nebel ...«
Rasch strich sie das Streichholz an und steckte ein Stück Papier in Brand, das sie mit der Flüssigkeit getränkt hatte.
Eine helle Flamme leuchtete auf und verbrannte ihr fast die Finger. Nun warf sie das Papier in eine Benzinpfütze, die sich in einer Vertiefung gebildet hatte, und floh in den Schuppen zurück. In einem Augenblick stand die Brücke in Flammen, und das Feuer erfaßte im Nu den Teil der Brücke, den sie mit Benzin getränkt hatte.
Die Felsen der beiden Inseln, der spitze Felsgrat, der sie verband, die großen Bäume ringsumher, der Hügel, der Eichwald und tief unten das Meer, alles wurde grell beleuchtet.
»Jetzt wissen sie, wo ich bin ... Sie können den Schuppen sehen, in dem ich mich verberge«, dachte Veronika, die keinen Blick von der großen Eiche wandte.
Aber nichts regte sich in dem Wald. Kein Laut drang zu ihr. Jene Wesen, die sich dort verborgen hielten, verließen ihr undurchdringliches Versteck nicht.
Einige Minuten später stürzte die eine Hälfte der Brücke krachend ein. Nach allen Seiten stoben die Funken. Die andere Hälfte aber verbrannte langsam. Von Zeit zu Zeit fiel ein Balken in den Abgrund und erhellte das tiefe Dunkel.
Jedesmal fühlte Veronika sich erleichtert. Ihre überreizten Nerven beruhigten sich. Ein Gefühl der Sicherheit kam über sie, das immer stärker wurde, je größer der Abgrund zwischen ihr und ihren Feinden wurde. Sie blieb jedoch in ihrem Schuppen, wo sie den Morgen erwarten wollte, um sich zu überzeugen, daß jetzt keine Verbindung mehr zwischen ihr und der Insel möglich war.
Der Nebel war dichter geworden, alles versank im Dunkel. Gegen Mitternacht hörte sie drüben, auf der Spitze des Hügels, wie es ihr schien, ein Geräusch. Es klang, als wenn ein Baum abgeschlagen würde. Mit regelmäßigen Schlägen fiel eine Axt in einen Baum, dessen Äste abbrachen.
Veronika kam auf die Vermutung -- diese war, wie sie selbst wußte, lächerlich --, daß jemand vielleicht einen Steg zurechtzimmerte, sie umspannte ihre Flinte fester.
Eine Stunde später hörte sie ein schwaches Stöhnen und einen erstickten Schrei, dann vernahm sie längere Zeit nichts als das Rascheln von Laub und ein beständiges Kommen und Gehen. Dann hörte auch dieses auf. Von neuem senkte sich jenes tiefe Schweigen über sie, in dem alles versinkt, was sich bewegt, alles, was leidet, alles, was zittert und alles, was im Raume lebt.
Veronika war so von Hunger und Müdigkeit erschöpft, daß sie keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Dunkel erinnerte sie sich, daß sie keinerlei Vorräte hatte mitbringen können und nichts mehr zu essen hatte. Das bekümmerte sie indes nicht, denn sie war entschlossen, sobald der Nebel sich zerstreuen würde, mit Hilfe der Benzinvorräte ein großes Feuer anzuzünden. Sie erwog sogar, daß der beste Ort dazu die Spitze der Insel sein würde, wo der Feen-Dolmen stand.
Plötzlich aber durchzuckte sie ein furchtbarer Gedanke. Hatte sie ihre Streichhölzer auf der Brücke liegen lassen? Sie suchte sie in ihrer Tasche und fand sie nicht.
Doch das brachte sie nicht aus der Fassung. Für den Augenblick erfüllte sie die Vorstellung, den Feinden entronnen zu sein, mit solcher Freude, daß es ihr schien, als müßten alle Schwierigkeiten sich von selbst lösen.
So vergingen lange Stunden, die der durchdringende Nebel und die Kälte vor Anbruch des Tages noch unangenehmer machten.
Der Himmel überzog sich jetzt mit einem fahlen Schein. Die Gegenstände traten aus dem Dunkel heraus und nahmen ihre gewöhnliche Gestalt an. Nun sah Veronika, daß die Brücke in ihrer ganzen Länge eingestürzt war. Ein Zwischenraum von fünfzig Metern trennte die beiden Inseln, die nur noch durch den spitzen und nicht gangbaren Felsgrat verbunden waren.
Sie war gerettet.
Als sie aber ihre Blicke auf den gegenüberliegenden Hügel richtete, sah sie auf dem Abhang ein Schauspiel, das ihr einen Ruf des Grauens entlockte. Drei von den Bäumen auf dem Hügel waren ihrer unteren Äste beraubt worden. Auf ihren kahlen Stämmen reckten sich, die Arme nach rückwärts gebunden, die Beine unter den zerlumpten Röcken verschnürt, mit einem Strick um den Hals, über dem die fahlen Gesichter unter den schwarzen Flügelschleifen ihrer Hauben kaum zu sehen waren, die drei Schwestern Archignat.
Sie waren gekreuzigt worden ...