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Als Eynitz sich nach seiner Begegnung mit Harda am Riesengrabe von ihr verabschiedet hatte, war er überzeugt, einen sehr richtigen Entschluß gefaßt zu haben, daß er der Einladung zu Direktor Kern nicht Folge leistete. So schritt er schnell seiner Wohnung zu. Es drängte ihn, der hochinteressanten, wissenschaftlichen Aufgabe, die ihm durch die neu entdeckte Pflanze gestellt war, sich möglichst eifrig zu widmen. Allerdings, es blieb dabei nicht zu vermeiden, sich auch mit der ersten Auffinderin des Sternentaus zu beschäftigen, aber – das konnte ja ganz objektiv geschehen – eine Gemeinsamkeit theoretischer Interessen brauchte zu nichts zu verpflichten. Das heißt, ja, verpflichtet war er durch allerlei Mitteilungen – richtig! Efeu, lebenden Efeu mußte er haben, sonst konnte er seine Ausbeute am Sternentau nicht in lebendiger Entwicklung beobachten. Hatte ihm Fräulein Kern doch gesagt, daß die Pflanze nur unter Efeu gedeihe.
Es gelang Eynitz in der Tat gleich auf dem Heimwege, trotz des schon eingetretenen Feierabends, bei einem Gärtner in seiner Nachbarschaft sich einen geeigneten Efeustock zu verschaffen, und noch ehe er sich eine hastige Abendmahlzeit gönnte, setzte er die sorgfältig am Riesengrab losgelösten Exemplare ein.
Seine Krankenbesuche erledigte er so schnell wie möglich und traf dann alle Vorbereitungen zu seiner Untersuchung. Er besaß noch von seiner Studienzeit her ein vorzügliches Mikroskop, das mit allen Apparaten zu subtilen biologischen Arbeiten versehen war. Bis spät in die Nacht hinein saß er vor seinen Präparaten, soweit dies bei Lampenlicht möglich war, und schon am frühen Morgen nahm er die Arbeit wieder auf.
Auch die nächsten Tage widmete er jede freie Stunde dem Rätsel des Sternentaus. Was er sah, spannte seine Wißbegier aufs höchste. Jeder Erfolg, der ihn vorwärts führte, stellte ihn vor neue Probleme. Technische Schwierigkeiten, neue Methoden der Färbung, der Beleuchtung waren zu versuchen, dann galt es, die erhaltenen Funde zu deuten.
Zum Glück war in den Hellbornwerken der Gesundheitszustand verhältnismäßig gut, und kein größerer Unfall erforderte seine ärztliche Tätigkeit. Sehr bald hatte er feststellen können, daß die gefundenen Glöckchen des Sternentaus, wie er vermutet, nur scheinbar Blüten waren, daß sie vielmehr die Träger von Sporangien vorstellten, die in den perlenartigen Vorsprüngen ihren Sitz hatten. Was er aber weiter an der schnell fortschreitenden Entwicklung wahrnahm, das überstieg so völlig alles bisher an Kryptogamen Beobachtete, daß er erst seinen Augen nicht trauen wollte. Es blieb indessen kein Zweifel, derselbe Prozeß wiederholte sich bei jeder Versuchsreihe, jedoch immer nur bis zu einem bestimmten Zustande. Dann wurden die Zellen während ihrer Veränderung allmählich unsichtbar, kein Mittel mehr vermochte eine Färbung hervorzurufen, das Präparat verschwand langsam unter dem Mikroskop. Die Gesamtmasse der Fäden zwar blieb an der Kapsel noch sichtbar, aber unter dem Mikroskop waren die lebenden Zellen nicht mehr wahrzunehmen. Die zu Versuchszwecken angeschnittenen Teile entwickelten sich an der Pflanze nicht weiter.
Jeden Tag dachte Eynitz daran, was er Harda zu berichten habe, was er berichten könne, und jedesmal hoffte er sicherer Entscheidendes zu erfahren, wenn er noch einen Tag warte. So war eine Woche vergangen. Es ließ sich ja nicht ändern, daß er immer wieder an jene Begegnung am Riesengrab zurückdachte. Dafür sorgte schon das Problem des Sternentaus. Da er nur die notwendigsten Wege machte, war er auch Harda nicht zufällig begegnet, nur einmal glaubte er sie von ferne in ihrem Wagen gesehen zu haben.
Da kam das flüchtige Zusammentreffen bei dem Unfall im neuen Maschinenhaus. Es war ja wirklich keine Zeit zu einer Unterhaltung, aber schließlich erschien er sich doch recht ungeschickt – steckte nicht eine Art Verlegenheit dahinter, daß er so schnell vorübergelaufen war? Nachträglich betraf er sich manchmal bei einem Bedauern, daß er nicht die Gelegenheit jener Einladung benutzt hatte, der Familie näher zu treten. Und jetzt, als er wieder daran dachte, schlug er sich symbolisch mit der Hand vor den Kopf – ganz in sein Problem versunken hatte er ja die einfachste gesellige Höflichkeit außer Acht gelassen, er hatte noch nicht einmal seinen Dankbesuch für die Einladung abgestattet.
Trotzdem nahmen ihn die Untersuchungen so in Anspruch, daß er drei weitere Tage versäumte. Am Samstag Abend fiel ihm das wieder ein. Heute war's schon zu spät. Aber morgen wollte er bestimmt hingehen. Überhaupt morgen, Sonntag, das war ja der richtige Tag dazu. Einen gewissen Abschluß hatte er erreicht. In so kurzer Zeit ließ sich eben mehr nicht feststellen; er bedurfte jetzt, um weiter zu kommen, ganz neuer Studien, über die noch Monate hingehen mochten.
Spät in der Nacht setzte sich Eynitz noch über ein neues Präparat. Er hatte zum ersten Male beobachtet, daß bei zwei seiner Sporenbecher die Entwicklung der Fäden sich auffallend beschleunigte. Um diese Phase zu studieren, entnahm er dem einen Pflänzchen ein Stückchen der wachsenden Substanz und brachte einen seinen Schnitt davon unter das Mikroskop; aber hier mußte er bald bemerken, daß sie ebenfalls seinen Augen entschwand.
Da ging die Klingel, er wurde zu einem Kranken gerufen; er wußte, daß hier Gefahr im geringsten Verzuge war, ließ alles stehen und liegen und lief fort.
Als er nach einer Stunde zurückkehrend sich durch den dunkeln Korridor getastet hatte und die Tür seines Zimmers öffnete, sah er an dem offenen Fenster einen unbestimmten Lichtschimmer, als zöge dort ein etwa handgroßer, leicht phosphoreszierender Gegenstand hinaus. Er eilte an das Fenster, konnte aber hier im Dämmer der Sommernacht nichts Bestimmtes erkennen. Es war wohl eine Täuschung gewesen, vielleicht irgend ein subjektives Nachbild.
Schnell warf er, ohne Licht zu machen, die Kleider ab, und nur, als er das Futteral mit den Instrumenten, die er bei sich trug, auf den Arbeitstisch legte, brachte er rein mechanisch sein Auge für einen Moment an das Okular des Mikroskops. Und da – merkwürdig – das Gesichtsfeld schien schwach erhellt. War es ein Reflex? Nun sah er näher zu. Er hatte beim Fortlaufen das Präparat unter dem Objektiv gelassen. Und jetzt, als alles finster war, sah er wieder die Zellen, aber nun selbstleuchtend, wenn auch nur ganz schwach. Er machte Licht und nichts mehr war zu sehen. Aber im Dunkeln vermochte er wieder das Präparat in seinem matten Eigenlicht zu erkennen. Er prüfte sorgfältig und suchte sich die eingetretenen Veränderungen möglichst genau einzuprägen, um sie zeichnerisch festzuhalten. Dazu mußte er aber Licht haben. Als er dies wieder auslöschte, um nochmals sein Präparat zu vergleichen, hatte es sich so stark verändert, daß er jeden Versuch aufgeben mußte, den Verlauf zu verfolgen. Er erleuchtete nun das Zimmer und untersuchte den Zustand der lebenden Sporenkapseln.
Aber wohin war der Inhalt gekommen? Die blauen Blättchen hingen traurig herab, die Silberfäden dagegen und ihr gesamtes, hervorgewölbtes Gespinst war vollständig verschwunden. Er kleidete sich wieder an und untersuchte mikroskopisch die vertrockneten Stellen, wo die Fäden sich abgelöst hatten, die Reste der Becher, die Blätter und Bodenteilchen der Umgebung, um irgend welche Spuren von Sporen zu finden, in die sich die Fäden aufgelöst haben mochten, aber es war nichts zu sehen. Sie mußten wirklich optisch unsichtbar oder unter der Sehschärfe seines Instrumentes sein. Doch auch das Präparat zeigte sich jetzt nicht mehr auffindbar, weder bei Beleuchtung noch im Dunkeln. Es war jedenfalls abgestorben, so daß es nicht mehr selbst leuchten konnte.
Der Morgen dämmerte schon hell, als Eynitz ermüdet sein Lager aufsuchte.
* * *
Gegen Mittag betrat Eynitz die Empfangsräume der Villa Kern. Ob er Harda treffen würde? Und im glücklichen Falle, wie sollte er zu einer Aussprache kommen? Was er ihr über den Sternentau zu sagen hatte, das konnte er nur unter vier Augen mitteilen. Und er traute sich gar keinen Anspruch darauf zu, daß Harda ihm dazu Gelegenheit geben würde. Wer weiß, ob ihr Interesse an der Natur des Sternentaus überhaupt noch vorhanden ist? Das geplante große Waldfest der Erholungsgesellschaft war ja Wiesberger Stadtgespräch. Da mochte wohl Harda Kern an nichts anderes mehr denken.
Er hatte einige Zeit zu warten, dann erschien die Tante, Fräulein Minna Blattner. Sie empfing ihn mit der Liebenswürdigkeit, die in ihrer Natur lag und nur verschwand, sobald sie die Erinnerung an ihre getäuschte Hoffnung überwältigte. Sie bedauerte, daß ihre Nichten nicht anwesend wären, Sigi hätte in der Stadt zu tun und Harda – – Eigentlich wollte sie sagen, daß Harda eine schlechte Nacht gehabt habe und noch schliefe, im Augenblicke fiel ihr aber ein, daß es ratsamer wäre, Eynitz gegenüber vom Gesundheitenstand der Familie überhaupt nicht zu sprechen. Daher ging sie über Eynitz' Frage nach dem Befinden Hardas mit einem freundlichen »Danke« hinweg und verwickelte ihn in ein Gespräch über den Gesundheitszustand und die sanitären Maßregeln in der Fabrik.
Eynitz beeilte sich nicht, den Besuch abzubrechen, da er immer noch auf das Erscheinen von Harda hoffte, schließlich aber, zumal weitere Gäste gemeldet wurden, mußte er doch nach seinem Hute greifen und sich empfehlen.
* * *
Nach ihrem Erlebnis mit den Elfen des Sternentaus hatte Harda nur wenige Stunden auf dem Divan geschlummert. Schon um sechs Uhr war sie beim Frühstück des Vaters erschienen, aber sogleich nachher wieder auf ihr Zimmer geeilt. Sie schloß Fenster und Vorhänge und legte sich zu Bett, denn sie hatte das Bedürfnis der Ruhe. Vor ihren geschlossenen Augen sah sie noch einen Augenblick die beiden vertrockneten Fruchtkapseln des Sternentaus, aus denen zwei seltsame Gestalten emporschwebten. Ohne Erstaunen erkannte sie darin den Kommerzienrat und Eynitz, die einen Luftreigen um die Büste aufführten und zu dieser irgend etwas sagten, was Harda nicht mehr verstand; dann umhüllte sie der glückliche, traumlose Schlaf der Jugend.
Als Harda erwachte, war es wirklich schon spät am Vormittag.
Sie fühlte sich ganz wohl. Ja sie spürte sogar einen recht realen Hunger. Ach, da in ihrem Schränkchen gab es immer etwas seine Schokolade, die schmeckte jetzt ausgezeichnet.
Erst während sie Toilette machte, trat ihr wieder die merkwürdige Erscheinung der Nacht lebendig vor Augen. Sie suchte sich alles genau zu vergegenwärtigen. War denn so etwas möglich? Aber es konnte kein Traum sein. Dort vom Diwan aus hatte sie es deutlich gesehen. Das weiße Gespinst im Innern der blauen Glöckchen war jetzt tatsächlich völlig verschwunden, während die Kapseln zwar vertrocknet, aber doch noch vorhanden waren. Wo sind die schwebenden Figuren hingekommen? Sie wußte ja, daß sie bei Licht nicht sichtbar sind. Es war doch wirklich unausstehlich von Eynitz, daß er gar nichts über den Sternentau hatte hören lassen! Außerdem war er noch einen Besuch schuldig. Nun, er mochte wohl vor dem Sonntag dazu wirklich nicht Zeit gefunden haben. Das wäre ja heute! Aber, wenn sie ihn auch über kurz oder lang allein sprechen sollte, würde sie sich nicht lächerlich machen, wenn sie von den leuchtenden Elfen etwas sagte?
Als sie so in ihren Überlegungen hin und wieder zwischen den Spalten der Jalousien hindurch die Blicke hinausschweifen ließ, sah sie auf dem Wege vom Gartentor her einen Herrn in hohem Hute und schwarzem Rocke herankommen. Jetzt hob er ein wenig den Kopf und spähte flüchtig nach den Fenstern. Das war ja der Doktor Eynitz, freilich! Auf einmal erschien er ihr gar nicht als ein so verwerflicher Verbrecher. Vielmehr verspürte sie eine ganz besondere Lust, ihn womöglich ohne weitere Zeugen zu sprechen. Sie mußte endlich etwas vom Sternentau erfahren. Da unten, während des offiziellen Besuches, war dazu wahrscheinlich keine Gelegenheit. Den mochte er nur ruhig erst abmachen.
Schnell zog sie sich zum Ausgehen an. Sie verließ das Haus auf der Seite nach dem Park zu und wandte sich erst hinter den Warmhäusern nach dem Eingangstore, wo sie den Gemüsegarten und die Blumenbeete eingehend inspizierte. Einem vorfahrenden Wagen wich sie rechtzeitig hinter den Sträuchern aus, dann sagte sie bei sich unwillig: »Macht dieser langweilige Mensch einen langweiligen Besuch!« Endlich aber sah sie die schwarze Gestalt auf dem Wege von der Villa her herankommen.
Einen Blumenstrauß, den sie sammelte, in der Hand haltend, hatte Harda nur Augen für die Beete, als sie nahe Schritte hörte und zugleich Eynitz' Begrüßungsworte vernahm. Genau verstand sie eigentlich nicht, was er sagte; denn die Entschuldigung war ziemlich verworren, und sie mußte sich gerade herab bücken, um eine weiße Nelke zu pflücken, wobei ihr zu ihrem Ärger das Blut in die Wangen stieg.
»Ja,« sagte er fortfahrend, »meine Untersuchungen ließen leider nicht eher zu, daß ich – ich bin sehr glücklich, gnädiges Fräulein noch zu treffen – es ist so Merkwürdiges, was ich zu sagen habe. Wann darf ich Ihnen wohl einmal Bericht erstatten?«
»Also, Sie wissen Näheres vom Sternentau?« antwortete Harda jetzt lebhaft. »Das ist brav, Herr Doktor. Ja, haben Sie jetzt vielleicht Zeit? Ich wollte eben noch einen kleinen Gang durch unsern Park machen.«
Heute hatte er natürlich Zeit.