Kurd Laßwitz
Sternentau
Kurd Laßwitz

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Am Riesengrab

Beim erstem Blicke, den Harda durch die Zweige warf, zuckte sie zusammen. Es saß jemand auf der Bank. Ein Name wollte ihren Lippen entfliehen – wer auch sonst konnte hier – aber nein, es war nicht möglich, ihn hätte sie sogleich erkannt – es mußte ein Fremder sein. Wer hatte hier etwas zu suchen? Wollte man sie auch hier stören? Wie ärgerlich!

Es war ein einziger Augenblick, worin ihr diese Gefühle aufstiegen. Ohne Zögern trat sie auf den Platz und sah nun, wer der Eindringling war. Ein leichtes Lächeln spielte um ihren Mund. Der würde ihr jedenfalls keine Schwierigkeiten machen.

Auf dem Tische befanden sich ein Strohhut, einige mit ihren Wurzeln ausgelöste Pflanzen, Messerchen, Schere und zwei Glasfläschchen. Der Inhaber dieser Utensilien aber war so eifrig beschäftigt, daß er Hardas Kommen nicht einmal bemerkt hatte. Er betrachtete mit tief herabgebeugtem Kopfe durch die Lupe aufmerksam ein mit der Pinzette gehaltenes Blättchen. Erst als Harda dem Tische sich näherte, und er ihre Schritte vernahm, blickte er auf, und es dauerte noch kurze Zeit, ehe er seine Brille zurechtgeschoben und die Augen der Entfernung akkomodiert hatte. Dann sprang er auf und verbeugte sich höflich.

»Fräulein Kern!« sagte er überrascht. »O, da muß ich gewiß sehr um Entschuldigung bitten. Ich fürchte, ich bin hier ohne Erlaubnis auf Ihrem Grund und Boden eingedrungen. Aber, gnädiges Fräulein, ich kann versichern, ich bin mir dessen in keiner Weise bewußt gewesen.«

»Fürchten Sie gar nichts, Herr Doktor,« antwortete Harda freundlich. »Der Grundbesitz der Hellbornwerke reicht hier nur bis ans rechte Ufer der Helle. Aber aus meinem Anzuge könnten Sie freilich schließen, daß ich noch innerhalb der Parkgrenzen umherliefe.«

»O bitte –«

»Es ist aber ganz gleich, ich geniere mich nicht und setze mich ein wenig her. Aber Sie dürfen sich auch nicht stören lassen, nehmen Sie wieder Platz und – Ach!« unterbrach sie sich fast heftig, »da haben Sie ja meinen Sternentau!«

»Was habe ich? Wie nennen Sie die Pflanze? Sie kennen sie? Sternentau?« fragte der Doktor lebhaft.

»Nein, nein,« beruhigte Harda. »Ich nenne die blauen Blumensterne nur so für mich wegen der runden Erhebung im Innern, die wie ein Tautropfen glänzt. Es ist bloß ein Privatname zu meiner stillen Freude. Die Pflanze findet sich nämlich sonst nirgends als hier in der Nähe des Riesengrabs, und sie scheint überhaupt noch nicht entdeckt. Ach, ich drücke mich wohl sehr dumm aus. Sie steht in keiner Flora. Nun haben Sie die Blumen entdeckt und ich habe sie nicht mehr für mich. Aber das mußte ja doch einmal kommen.«

»Ich bitte Sie, Fräulein Kern,« sagte der Doktor mit ganz erschrockenem Gesicht, »wenn es sich wirklich so verhalten sollte, daß die Pflanze noch nicht bestimmt ist – mir ist sie allerdings völlig fremd, auch fremdartig – wenn sie bisher nur Ihnen bekannt war, so werde ich selbstverständlich Ihr Entdeckerrecht achten. Die Untersuchung wäre ja freilich sehr interessant, ja eine wissenschaftliche Pflicht – aber ohne Ihren ausdrücklichen Wunsch, das verspreche ich Ihnen, werde ich nichts bekannt geben.«

Harda sah ihn dankbar an, daß ihm ganz merkwürdig zumute wurde, und sprach lächelnd:

»Es ist doch wahr, was unsre Leute von Ihnen sagen: Der Doktor Eynitz ist ein guter Mann.«

»Hm – bitte –« sagte Eynitz verlegen, und ein leichtes Erröten lief über sein freundliches Gesicht – »Das braucht nicht immer ein Lob zu sein, es kann auch eine Schwäche bedeuten.«

»Wenn Sie es lieber wollen, tun Sie mir einen Gefallen aus Schwäche. Eine Schwäche ist's ja auch, wenn ich das Pflänzchen noch eine Weile für mich behalten möchte. Aber die Pflanzen sind mir nun mal überhaupt ans Herz gewachsen. Die sind doch nicht einfach eine Sache, sie leben und fühlen ja, und jede einzelne ist was für sich. Ich bilde mir immer ein, wenn ich so ein Pflänzchen recht lieb habe, müßte mich's auch wieder gern haben.«

Sie nickte dem Blümchen, mit dem ihre Hand spielte, unwillkürlich vertraulich zu. Eynitz nickte ebenfalls.

»Ja, Herr Doktor,« fuhr Harda fort, »Ihr freundliches Anerbieten kann ich natürlich nicht ganz annehmen, aber wir könnten uns einigen. Sie studieren den Sternentau und bestimmen ihn und werden Ihr Resultat veröffentlichen, aber den Fundort, nicht wahr, den Fundort geben Sie nicht an, damit wir hier nicht von Botanikern überlaufen werden. Oder geht das nicht?«

»Nun« – Eynitz drehte bedenklich an seinem braunen Schnurrbärtchen und ließ die Augen zwischen Harda und dem Walde hin und hergehen, als lauerten dort schon Pflanzenjäger – »verschweigen kann man ja den Fundort freilich nicht – aber es ließe sich wohl ein Ausweg finden. Hat denn diese Felsgruppe einen offiziellen Namen?«

»Wir nennen sie das Riesengrab, weil die Leute behaupten, hier läge ein Riese begraben, aber ich glaube nicht, daß der Name auf einer Karte steht. Wo haben Sie denn den Sternentau überhaupt gefunden?«

»Hier unter dem Efeu und – ja, und dann auch ganz versteckt abseits zwischen den Felstrümmern am Wege hier herauf – d. h. Weg ist ja nicht da – ebenfalls unter Efeublättern.«

»Sonst nirgends? Nun ja, er wächst auch sonst nirgends. Aber dann genügt doch, wenn Sie sagen: »Westlich von Wiesberg, Ufer der Helleschlucht, unter Efeu. Dann können die Leute suchen. Und daß sie nicht hier heraufkommen, dafür will ich schon sorgen. Das Plateau hier oben, das muß eingezäunt werden – unauffällig. Die Gegend ist überhaupt nicht mehr ganz sicher vor Touristen. Ist's Ihnen so recht?«

»Mir ist alles recht, wie Sie's wünschen. Aber ich denke, dieses Terrain gehört nicht zu Ihrem Besitztum.«

»Allerdings nicht, aber ich kenne den Besitzer gut, und ich weiß, das tut er mir sicher zu Gefallen.«

»So sind wir hier auf Privatbesitz? Wem gehört denn dieser Wald?«

»Ach, es ist nur ein mäßiges Stückchen Fels, Wald, Wiese und ein umgebautes ehemaliges Bauernhäuschen. Solves heißt der Besitzer. Sie werden den Namen kennen.«

»Geo Solves etwa?«

»Freilich.«

»Ach gewiß! Jetzt erinnere ich mich ja, daß er sich vor einigen Jahren hier angekauft hat. Und das ist ein guter Freund von Ihnen?«

»Jetzt unser Nachbar. Aber ich kenne ihn freilich von Jugend auf. Er ist mein Pate.«

»Geo Solves Ihr Pate? Das ist interessant. Da sind Sie ja zu beneiden.«

»Ich beneide mich ja auch – Aber bitte, für was erklären Sie nun das Blümchen? Ist es nicht reizend mit den fünf glockenförmig nach außen gebogenen Blättchen, über die es von der Mitte her, von dem glänzenden Köpfchen, wie ein leichter, silberglitzernder Schleier von seidenen Fäden fällt! Und dieses feine Spitzengewebe der Ranken und Blätter! Eigentlich sieht's wie ein kletterndes Farnkraut aus, wenn's so was gibt. Aber diese offene Blüte? Man möchte an eine Akelei denken.«

»Ein Blümchen ist's nicht, gnädiges Fräulein. Ich habe schon mit der Lupe gesehen, daß kein Samen vorhanden ist, und die Fäden, die Sie wohl für Staubblätter halten, sind irgend ein anderes Organ. Und hier ganz im Innern, was Sie sehr bezeichnend mit einem Tautropfen verglichen, das ist kein Stempel. Das möchte ich für ein Sporangium halten, für eine Kapsel, darin die Sporen reifen. Ob man aber die Pflanze zu den Farnen rechnen darf, oder ob sie eine ganz neue Gattung von Kryptogamen vorstellt, das läßt sich nur mit Hilfe des Mikroskopes entscheiden, wenn man die weitere Entwicklung im Generationswechsel beobachtet.«

Harda sann einen Augenblick nach, dann begann sie wieder: »Mag's auch keine Blütenpflanze sein, so kann ich doch ruhig weiter Sternentau sagen. Das ist ein neutraler Name. Ich will Ihnen noch etwas Seltsames mitteilen, Herr Doktor. Die Pflanze ist nämlich erst seit vorigem Jahre hier aufgetreten. Das wird Ihnen erklären, warum sie noch nicht wissenschaftlich untersucht ist. Ich habe nun versucht, sie durch Ableger zu verpflanzen, sie ist aber nur an zwei Stellen fortgekommen, nämlich wo sie auch unter Efeu steht. Und dann habe ich aufs genaueste aufgepaßt, ob das Pflänzchen denn keine Früchte trägt, aber ich habe nie etwas finden können. Das würde ja mit dem stimmen, was Sie sagen. Von dem Generationswechsel habe ich gelesen, aber sehr klar ist es mir gegenwärtig nicht.«

»Wenn Sie gestatten – ein etwas groteskes Beispiel wird den Ausdruck sogleich klar machen. Nehmen Sie an: Eine Henne legt ein Ei, daraus kröche aber nicht wieder ein Hühnchen heraus, sondern es wüchse zunächst ein Strauch hervor. Der Strauch bilde zweierlei Blüten, weibliche und männliche; und eines schönen Tages lösen sie sich ab und fliegen als kleine Hühnchen und Hähnchen davon. Wenn sie erwachsen sind, finden sie sich zusammen, und die Hühnchen legen wieder Eier, aus denen dann Sträucher hervorwachsen. So lösen sich immer Strauch und Vogel in der Nachkommenschaft ab. Das wäre ein richtiger Generationswechsel.«

Harda lachte.

»Ja wohl,« rief sie lebhaft, »jetzt erinnere ich mich wieder. Der Vorgang ist gar nicht so abenteuerlich, wie er sich in dieser Form von Hühnern und Sträuchern anhört. Denn die Quallen, die so schön schillernd im Meere schwimmen, machen es tatsächlich ähnlich.«

»Ganz richtig,« sagte Eynitz. »Eine Qualle bringt ein Ei hervor, daraus entwickelt sich aber nicht eine frei schwimmende Qualle, sondern zunächst ein Wesen, das mehr Pflanze als Tier scheint, ein Polyp, der am Boden festsitzt. Aus ihm wachsen erst durch Knospung die Quallen heraus, die sich dann loslösen und fortschwimmen. Nun, unter den Pflanzen zeigen die Kryptogamen meist etwas Ähnliches. Nehmen wir an, unser Sternentau hielte es auch so, dann würden aus den Sporen dieser blauen Becher nicht wieder die Sternentaupflänzchen entsprießen, sondern irgend ein ganz andres Gewächs, vielleicht mikroskopisch klein, oder wenigstens unscheinbar, wie z. B. die grünen Täfelchen beim Farnkraut, die man den Vorkeim nennt. Erst an diesen Vorkeimen würden sich später Bildungen von zwei getrennten Geschlechtern zeigen, die Hühnchen und Hähnchen unseres Beispiels. Es könnte auch sein, daß die ganze Entwicklung sich schon innerhalb der Kapseln vollzöge und die Jungen Hühnchen und Hähnchen gleich fertig herausflögen. Und erst, wenn nachher die Hühner Eier legen, will sagen, wenn die betreffende zweite Generation ihrerseits Sporen hervorbringt, so wächst aus diesen durch Sprossung die grüne Sternentaupflanze heraus. Aber – ich langweile Sie – entschuldigen Sie, ich komme so leicht ins Dozieren.«

»Nein, nein, Herr Doktor. Ich danke Ihnen. Wenn sich's so verhält, so ist's ja ganz klar, warum ich keine Früchte finden konnte. Wer sagt uns denn, wie dieses Zwischengeschlecht beim Sternentau beschaffen ist? Es ist vielleicht ein ganz anderes Wesen, ein höheres – gar keine Pflanze mehr! Vielleicht ist's ein Elfchen, ein richtiges Geistchen, natürlich auch mit einem richtigen Körperchen. Sie lachen – ganz recht – was ich rede, ist wohl sehr dumm. Aber schön wär's doch, wir selbst hätten auch solchen Generationswechsel, natürlich nach Willkür, wie es Menschen geziemt, und man könnte manchmal aus seiner Haut heraus als ein freieres Wesen schweben – –«

Sie sah mit einem leichten Anhauch von Wehmut in die Ferne.

Eynitz lachte nicht. Er sah ganz ernsthaft aus, als er sagte:

»Wenn man nur sicher wäre, daß die eine Generation sich auch noch der andern erinnerte. Aber, gnädiges Fräulein, wer so glücklich ist wie Sie –«

Harda sah ihn fragend an.

»Ich meine, nach dem, was ich heute an Ihnen kennen lernte, da haben Sie ja das freie Wesen immer in sich. Sie brauchen nicht aus sich herauszugehen, Sie ziehen sich nur in Ihre Persönlichkeit zurück. Wenn Sie vom Haus oder der Fabrik oder dem Tennis in diesen Wald treten und mit den Pflanzenseelen leben, da wandeln Sie schon in dem höheren, in Ihrem eignen Reiche –«

»Ach bitte, nein,« rief Harda aufspringend, »philosophieren Sie nicht über mich, es lohnt sich wirklich nicht. Sehen Sie nur einmal diesen Efeu an, wie er an der Buche emporstrebt, und in welcher Fülle, immer höher und höher.«

Eynitz reckte seine lange Gestalt empor.

»Er will zum Lichte,« sagte er, »denn nur dort kann er blühen.«

»Und er will blühen, das glaube ich. Sehen Sie – wenn wir nun ein Generationswechsel vom Efeu wären? Wenn unser Bewußtsein von Zeit zu Zeit einmal durch die Efeuseele hindurchginge? Warum wächst der Efeu so oft auf Gräbern?«

»Weil wir ihn dort hinpflanzen.«

Harda bog die Blätter des Efeus beiseite. »Und sehen Sie, wie unser Sternentau sich ganz dicht an den Efeu schmiegt? Ich glaube, die haben etwas zusammen, die hecken etwas aus.«

»Ich habe mit der Lupe gesehen, der Sternentau besitzt ganz feine Fasern, die sich an den Efeu heften. Man muß das noch näher untersuchen.«

»Das tun Sie nur. Aber hier will ich Ihnen noch etwas zeigen, Sie müssen mir nur versprechen, das wirklich nicht weiter zu sagen – nur Ihnen als Botaniker verrat' ich's.«

Sie ging nach dem Felsen zu.

»Bitte, hier drüben müssen Sie ein paar Schritte hineinkriechen, und dann blicken Sie hinunter in den breiten Spalt des Felsens. Bücken Sie sich aber tüchtig – bitte hier.«

Harda drängte die Buchenzweige vor dem Grotteneingang beiseite und schlüpfte in die Höhlung. Eynitz folgte.

»Warten wir, bis sich das Auge an die Dunkelheit gewöhnt hat.«

Es war ganz still; draußen hörte man die Insekten summen.

»So!« sagte Harda. »Und nun – da unten – das sind die Schätze des Riesens, der hier begraben liegt.«

Sie standen schweigend vor der dunkeln Höhlung. Da drunten aber funkelte es grüngelb wie Gold und Edelsteine aus dem Geheimnis des Berginnern.

»Ein Märchen,« sprach Eynitz bewundernd.

»So fühlt man's, nicht wahr? Und das soll nicht mitfühlen? Sollte gar nichts merken, daß es mitstrebt, wie wir nach dem großen Gotte, dem Lichte?«

» Schizostega osmundacea«, sagte Eynitz leise vor sich hin.

»Ja, Leuchtmoos,« bemerkte Harda. »Ich weiß es. Lichtbrechende Zellen beleuchten sich ihr eignes Blattgrün. Aber Sie haben den Zauber gelöst – gehen wir, Sie müssen vorankriechen.«

Und draußen fragte sie: »Sie sind doch Mediziner, woher haben Sie Ihre botanischen und biologischen Kenntnisse?«

»Aber, gnädiges Fräulein, woher haben Sie die Ihren?«

»Ich habe keine. Ich habe nur hier und da etwas aufgeschnappt und habe mir manches erklären lassen können. Ich lese auch gern – ich hoffte ja, Botanik zu studieren.«

Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen und sie schwieg.

Eynitz wagte nicht zu fragen. Er begann:

»Ich habe nun wirklich Biologie studiert, ich bin eigentlich Biologe, oder ich wollte es werden. Mein »Doktor« ist philosophioae, nicht medicinae. Dann mußte ich leider mein Studium aufgeben, als mein Vater plötzlich starb. Ich war gezwungen, ein Brotstudium zu ergreifen, und meine biologischen Vorkenntnisse ermöglichten mir, in verhältnismäßig kurzer Zeit das medizinische Staatsexamen zu bestehen. Jetzt habe ich kaum noch Zeit zu meinen Lieblingsarbeiten. Ein Kassenarzt, Sie wissen, ist mehr als vollauf beschäftigt. Aber –« und er machte sich daran, seine Utensilien und Pflanzen zusammen zu packen – »für den Sternentau muß sich doch noch Zeit finden.«

»Ich danke Ihnen aufrichtig, Herr Doktor. Nun sagen Sie mir bloß noch – ich bin wohl sehr neugierig – wie und woher sind Sie eigentlich hier heraufgekommen?«

»Ich botanisierte am linken Helle-Ufer aufwärts und geriet dabei mehr und mehr in Dickicht und Felstrümmer. Die wenigen Exemplare Ihres Pflänzchens, die ich fand, lockten mich immer höher, und schließlich sah ich, daß ich nicht mehr zurück konnte. Ich kroch also weiter, und auf einmal treffe ich auf richtige Steinstufen und dann auf eine Holztreppe. Das ist jedenfalls der Weg, den Sie heraufgekommen sind?«

»Nein, ich komme von oben. Da gibt es auch noch einen Weg, der aber zuletzt absichtlich vom Besitzer für den Fremden unkenntlich gemacht ist. Aber den von Ihnen gefundenen Weg werden wir dann hinabgehen.«

»Wo kommt der heraus?«

»An einem Laufstege über die Helle, der drüben mit einem Gatter verschlossen ist. Und den Schlüssel zu diesem Gatter habe ich hier.«

Sie holte mit einiger Mühe aus ihrer Tasche einen Schlüssel, den sie triumphierend vorwies.

»Und wo führt der Steg hin?«

»In den Park der Villa Kern, die Ihnen bekannt sein dürfte. Wie spät ist es denn überhaupt? Ich habe keine Uhr bei mir.«

»Sieben Uhr und zwanzig Minuten,« sagte Eynitz.

»Ach, da haben wir aber wirklich keine Zeit mehr. Ich glaubte, es wäre erst so weit nach sechs Uhr. »Wir« sage ich, entschuldigen Sie, denn ich muß Sie mitnehmen. Erstens wegen des Schlüssels, denn sonst finden Sie keinen gangbaren Weg. Und zweitens – ich habe nämlich den offiziellen Auftrag von meinem Vater, Herrn Doktor Eynitz zum Abendessen einzuladen. Was hiermit geschieht.«

Sie knickste mutwillig.

Eynitz machte ein verblüfftes Gesicht

»Mich? Ja, aber Sie konnten doch nicht wissen, daß Sie mich hier treffen würden.«

Harda lachte übermütig.

»Nein, Herr Doktor, so schlau war ich nicht. Aber da ich's nun so gut getroffen habe, so konnte ich's gerade persönlich ausrichten. Sonst hätte ich schon früher nach Hause laufen müssen, um Sie telephonisch einzuladen. Entschuldigen Sie die Formlosigkeit, es handelt sich natürlich um keine Gesellschaft.«

Eynitz sah höchst bekümmert aus. Nach kurzer Überlegung sagte er: »Haben Sie herzlichsten Dank, gnädiges Fräulein, aber sagen Sie Ihrem Herrn Vater –«

»Mein Vater mußte freilich plötzlich verreisen, aber Sie finden noch einige Herren bei uns, die wir auch erst nachmittags gebeten haben – Herrn Kommerzienrat Frickhoff, Leutnant von Randsberg, Leutnant Thielen.«

»Es tut mir ganz außerordentlich leid, ich kann die Einladung nicht annehmen, ich habe noch einige unumgängliche Besuche zu machen, die bis neun Uhr erledigt sein müssen. Nebenbei, ich müßte vorher auch erst nach Hause, denn nach dieser Kletterei kann ich unmöglich in solchem Aufzuge – und dann würde es doch zu spät werden –«

»Das ist ja schade,« bemerkte Harda nach einem prüfenden Blick auf Eynitz gleichmütig. »Nun, vielleicht kommen Sie noch nach Ihren Besuchen, vor elf gehen die Herren nicht.«

»Sehr liebenswürdig. Ich kann nur nichts versprechen. Sie wissen, der Arzt kann nicht über seine Zeit verfügen.«

»Sehen Sie zu. Ich gehe voran.«

Eynitz warf seine Expeditionstasche über die Schulter und folgte langsam. Er kannte den Weg nicht wie Harda, und so war ihre geschmeidig Gestalt auf dem buschigen Zickzackwege ihm bald entschwunden. Er beeilte sich auch nicht, denn erstens erforderte der kaum gebahnte Pfad Aufmerksamkeit, und zweitens waren seine Gedanken damit beschäftigt, ob es nicht doch eine Möglichkeit gäbe, die unerwartete Einladung anzunehmen.

Er hatte ja im Hause des Direktors der Hellbornwerke, das einen gesellschaftlichen Mittelpunkt von Wiesberg und Umgegend bildete, nur in den formellsten Grenzen verkehrt, zumal ihm weder seine Zeit gestattete, noch seine Neigung ihn drängte, lebhaftere Geselligkeit zu suchen. So kannte er auch die Töchter hauptsächlich vom Hörensagen als gefeierte Tänzerinnen und umworbene gute Partieen. Nur mit Harda war er bei Krankenbesuchen in den Familien der Beamten und Arbeiter und im Krankenhaus einige Male zusammengetroffen und hatte sie dort in ihrer teilnehmenden Fürsorge schätzen gelernt. Und nun hatte er hier am Riesengrabe im Banne der Pflanzenseelen noch etwas ganz anderes erfahren – – Das Geheimnis des Sternentaus mußte sie notwendig wieder zusammenführen. Und dieser Verkehr hatte so viel Verlockendes! Es war in Wiesberg wirklich kein Überfluß an anregenden Persönlichkeiten – sollte er diese erste familiäre Einladung ablehnen? Komisch, wie war nur der Direktor gerade heute darauf gekommen? Sollte Harda improvisiert haben? Dann mußte er doch hin, wenn er sie nicht verletzen wollte. Aber nein – wie konnte er sich so etwas einbilden. Er ärgerte sich über sich selbst.

Da erblickte er den Steg dicht vor sich. Harda stand schon am andern Ufer, wo sich die Tür des Gatters befand, das am ganzen rechten Ufer hinlief und den Park der Villa abgrenzte.

Sie hatte die Tür geöffnet. Auf dem weißen Kleide spielten rötliche Strahlen der niedergehenden Sonne, grünlich schimmerten dagegen Haar und Schultern unter dem Widerschein des breiten Buchenlaubes, und die braunen Augen leuchteten ungeduldig aus dem mit der Hand beschatteten Gesicht, als sie ihm entgegenrief:

»Kommen Sie endlich, Herr Doktor? Hier müssen Sie noch hinüber, drüben an Ihrem Ufer geht kein Weg.«

Da stand sie wie eine lebendig gewordene Blume. Das Tor des Zaubergartens war geöffnet. Jetzt schloß es sich hinter dem Eingetretenen.

Einen Augenblick verharrte er unentschieden. Sollte er seine Ablehnung unter irgend einem Vorwande widerrufen?

»Wollen Sie direkt in die Kolonie?« fragte Harda. »Da gehen Sie am nächsten mit mir hier herauf an der Villa vorbei.«

»Nein,« antwortete Eynitz. »Ich muß zuerst in meine Wohnung.«

»Dann wandern Sie hier am Zaune entlang, aber langsam bergauf, da kommen Sie auf den Fahrweg, das Tor ist ja immer offen. Also –«

»Leben Sie wohl, gnädiges Fräulein, herzlichsten Dank. Über den Sternentau berichte ich, sobald ich klarer sehe.«

Harda reichte ihm die Hand und nickte mit dem Kopf.

»Adieu!« sagte sie und sprang den steilen Weg in den Park hinauf.

Er sah ihr nach, bis sie hinter den Bäumen verschwand. Dann ging er seinen Weg in Gedanken verloren. Es kam ihm vor, als wäre Harda nach seiner Ablehnung zurückhaltender geworden. War er ungeschickt gewesen?

Als er aus dem Gartentor herausschritt, rollte der Wagen des Kommerzienrats hinein.

Eynitz grüßte, dann warf er den Kopf in die Höhe und sprach bei sich:

»Nein, es wäre Torheit. Ich gehe nicht hin.«


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