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Das fünfte Gebot

Während die Leute auf die Fortsetzung der Rede warteten, ertönte plötzlich eine Stimme nicht vom Grabe, sondern vom äußersten Rande der Volksmenge her. Es war die Stimme einer Frau, die dünn und schrill klang, aber doch merkwürdig deutlich und vernehmlich war.

Die Versammelten drängten nach der Sprechenden hin und sahen da eine junge Frauensperson, die aus den Knieen lag, beide Arme ausgestreckt, den Kopf zurückgeworfen und die Augen geschlossen. Sie schien nichts von sich zu wissen, sondern redete in der Verzückung.

»Ich sehe die Toten,« sagte sie. »Ich sehe sie, die wir soeben begraben haben. Ich sehe sie nach dem Reich des Todes und in dieses hineinwandern. Und jetzt, nachdem sie eine Strecke gegangen sind, sehe ich sie an ein Gebäude kommen, das einem Schulhaus gleicht, und dort begehren sie Einlaß.

›Wir sind Seelen, die die Schule der Erdenwelt durchgemacht haben,‹ sagen sie zu dem Torhüter, ›und wir sind hierhergekommen, um zu zeigen, was wir gelernt haben.‹

Ich sehe, wie der Torhüter den Kopf schüttelt. Er sagt zu ihnen, sie hätten ihre Schulzeit zu rasch beendet. Aber er öffnet doch das Tor und läßt sie hineingehen.

Und ich sehe sie in einen großen Saal eintreten. Ich sehe ihre Angst. Sie fürchten sich und zittern, wie alle, die ins Verhör genommen werden.

Da tritt ihnen ein Mann entgegen. Er ist in seidene Kleider gehüllt, und das Haar schmiegt sich in weichen Locken um sein Haupt.

›Ihr Seelen, die ihr die Schule der Erdenwelt durchgemacht habt,‹ sagt er zu ihnen, ›könnt ihr mir meine zehn Gebote hersagen, wie sie in der gegenwärtigen Zeit auf Erden lauten?‹

Ich sehe, wie froh die Seelen der Toten sind, als sie merken, daß keine schwerere Frage an sie gerichtet wird. Sie antworten alle auf einmal:

›Du sollst keine anderen Götter neben mir haben!

Du sollst den Namen deines Gottes nicht mißbrauchen!

Du sollst den Feiertag heiligen!

Du sollst Vater und Mutter ehren!‹

Ich höre sie das sagen, aber widerwillig, mit großer Schwierigkeit. Und sie verwundern sich im stillen darüber, wie schwer es ihnen fällt, die Worte herauszubringen. Sie wissen nicht, warum sie so stotternd und so leise sprechen.

›Das habt ihr also gelernt, wenn auch nur mit Mühe und Not,‹ sagt der Lehrer. ›Laßt mich jetzt die Fortsetzung hören!‹

Nun beginnen die Seelen der Toten deutlich und ohne jede Schwierigkeit herzusagen:

›Du sollst töten!

Du sollst ehebrechen!

Du sollst stehlen!

Du sollst falsch Zeugnis reden!

Du sollst dich lassen gelüsten deines Nächsten Haus!

Du sollst deines Nächsten Eigentum, sein Weib, sein Gesinde, sein Haus und alles, was sein ist, zerstören!‹

Und nachdem dies alles hergesagt ist, sehe ich, wie froh die Toten sind, daß sie die Prüfung so gut bestanden haben.

Aber der Lehrer fragt sie:

›Wer hat euch befohlen, meine Gebote, die ich als Schutzmauer für die Heiligkeit des menschlichen Lebens aufgestellt habe, so zu verdrehen?‹

Und sie antworten ihm:

›Wir sind Krieger. Wir sind Untertanen und Diener des Todes.‹

Da ruft ihnen der Lehrer zu:

›Wachet auf, ihr Toten, und sehet, wer ihr seid und wer euer Herr ist!‹

Und ich sehe sie aus den Verirrungen der Erdenwelt wie aus einem langen Traum erwachen. Sie erkennen mit Entsetzen, daß sie unsterbliche Seelen sind, die dem Himmel angehören, und sie werden traurig über das, was sie auf Erden getan haben, sie fürchten sich vor der Strafe, die ihnen zugemessen werden wird.

Aber da sagt der Lehrer zu ihnen:

›Ich bin der Herr über Leben und Tod.

Und ich habe den Tod als einen Diener des Lebens auf die Erde hinabgeschickt.

Ich lasse die welken Blätter zur Erde fallen, damit neue und frische im nächsten Jahre hervorsprießen.

Ich lasse die Sterne im Weltenraum verbrennen und erlöschen, damit an ihrer Stelle neue aufleuchten.

Ich lasse die Körper der entschlafenen Menschen ins Grab betten, damit es auf Erden neues Erblühen und neues Leben gebe.

Da sich indes der Tod zum Herrn anstatt zum Diener gemacht hat, will ich ihn verfolgen.

Denn es ist mir nicht lieb, wenn die Saat geerntet wird, ehe sie reif ist, oder wenn der junge Vogel vom Jäger totgeschossen wird, ehe er sich ein Nest bauen und für Nachkommenschaft hat sorgen können.

Und ich will eine Grenze und eine Scheidewand setzen zwischen der Zeit, die jetzt ist, und der, die kommen soll, – in wenigen Jahren will ich sie aufrichten. Und diese Zeit wird »die dunkle« genannt werden.

Ihr aber, ihr Seelen, kehrt zur Erde zurück, und lehrt die Menschen mein fünftes Gebot halten! Denn es ist das Gebot der Nächstenliebe und der Schlüssel zu allen anderen.

Saget ihnen, mein tausendjähriges Reich zeige sich schon im Osten wie eine Morgenröte! Aber wie kann es am Himmel aufsteigen und die Welt erleuchten, solange ihr dem Tod erlaubt, das große wilde Tier in seinen Dienst zu nehmen?

Denn das große wilde Tier, das ist der Krieg‹.« –

Lotta Hedman erwachte. Sie sah um sich her einen dichten Kreis von aufhorchenden Menschen. Viele Gesichter strahlten vor freudiger Rührung.

»Wo bin ich gewesen?« fragte sie. »Was hab' ich gesagt? Hat Gott endlich durch meinen Mund gesprochen?«

Tränen des Glücks und der Dankbarkeit stürzten ihr aus den Augen.


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