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Der fremde Mann dankte Lotta Hedman sehr herzlich für diese Erzählung.
»Ich bin mehr als froh, daß ich gerade heute mit diesem Zug fuhr,« sagte er. »Ach, man sollte viel öfter himmlische Musik zu hören bekommen! Dann würde vieles in der Welt anders werden.«
Als er diese Ansicht geäußert hatte, lehnte er sich in seine Ecke zurück und zog den Hut über die Augen. Aber Lotta Hedman war fest davon überzeugt, daß er es nicht tat, um zu schlafen, sondern nur um über das, was er gehört hatte, ungestört nachdenken zu können.
Nachdem einige weitere Augenblicke vergangen waren, empfand sie große Lust, mehr mit ihm zu sprechen.
»Du mußt mit diesem Mann von Sigrun reden. Du mußt dich mit ihm wegen deiner Reise beraten,« flüsterte eine mahnende Stimme in ihrem Herzen. »Aber warum soll ich mit einem Mann über Sigrun sprechen, der ihr und auch mir völlig fremd ist?« beruhigte sie sich selbst. Einen Augenblick später jedoch war die Lust aufs neue da. »Sprich mit ihm von Sigrun! Sieh ihn dir jetzt an, wo sein Hut auf die Seite gerutscht ist. Das ist ein guter Mann, der viel Kummer erlebt hat. Er hat ein demütiges Herz. Wem er auch immer begegnet, er mag noch so heruntergekommen und sündhaft sein, sicherlich hält er ihn für mehr als sich selbst. Mit diesem Mann kann man über alles sprechen. Sprich mit ihm über Sigrun!«
»Nein, Lotta Hedman, sei vorsichtig, du bist jetzt nicht daheim in Stenbroträsk, wo du alle Menschen kennst! Woher weißt du, daß dieser Mann so vortrefflich ist? Vielleicht macht er sich gerade jetzt im stillen über dich lustig,« flüsterte eine andere Stimme gleich nachher.
Der Zug fuhr und fuhr immer weiter. Von Haltestelle zu Haltestelle ging es. Leute stiegen aus und stiegen ein. An einem großen Bahnhof, wo sich mehrere Eisenbahnlinien kreuzten, verließen alle Reisende bis auf Lotta Hedman und den Mann, der ihr gerade gegenüber saß, den Wagen dritter Klasse.
Kaum waren sie allein, so richtete sich der Mann auf, legte den Hut in das Netz hinauf und begann sich mit Lotta zu unterhalten.
Er war freundlich, klug, höflich und vor allen Dingen demütig und gütig. Und gerade wegen dieser Güte konnte kein Mensch länger als fünf Minuten mit ihm zusammen sein, ohne sich danach zu sehnen, ihm alle seine Sorgen anvertrauen zu dürfen.
»Dieser Mensch wird meine Schwachheit verstehen,« dachten alle, die mit ihm zusammenkamen. »Es müßte wohltun, wenn man mit ihm reden könnte. Er würde begreifen, wie schwer ich es habe.«
So dauerte es auch nicht lange, bis sich Lotta Hedman mitten in einem Gespräch über die Kistenfabrik und die Arbeitsverhältnisse in Stenbroträsk unterbrach und sagte:
»Ich würde Sie gern wegen einer Angelegenheit um Rat fragen, die mich bedrückt. Sie wissen, ich lebe allein und habe niemand, den ich fragen könnte.«
»Sagen Sie nicht, Sie wollten mich um Rat fragen!« erwiderte er. »Einen Rat kann ich Ihnen sicher nicht geben. Aber erzählen Sie mir trotzdem, was Sie auf dem Herzen haben. Sie sprechen so gut, und die Reise ist lang. Ich selbst muß mit dem Zug bis nach Dalsland fahren. Bis ich heimkomme, dauert es noch mehrere Tage.«
»Nun also, ich war einstmals mit der ältesten Tochter des Propstes von Stenbroträsk sehr befreundet,« begann Lotta Hedman. »Wir gingen zusammen in den Konfirmationsunterricht.«
Sie konnte nicht weitersprechen, die Tränen traten ihr in die Augen.
»Ich habe noch nie einen Menschen so lieb gehabt wie sie,« fuhr sie nach einem kurzen Kampf bewegt fort. Der Mann saß ganz still da und mochte keinen Versuch, zu drängen oder zu helfen. Er sah eher entmutigt aus.
»Sie müssen mir erlauben, zu erzählen, wie es war, als sie zum erstenmal mit mir sprach, damit Sie begreifen, wie sie gewesen ist.«
»Ja, tun Sie das!« sagte er. »Es ist gewiß das beste. Beeilen Sie sich ja nicht. Wir haben den ganzen Tag vor uns.«
»Also damals, wo wir zusammen in den Konfirmationsunterricht gingen, standen wir eines Vormittags während einer Pause zu elf oder zwölf in einer Ecke des Kirchhofs beisammen und sprachen über ein Stück aus dem Katechismus. Und ich erinnere mich noch genau, wie einer von den Jungen sagte, es könne gar nicht anders sein, Gott müsse die Menschenkinder lieb haben. Er habe uns doch erschaffen, und darum müsse er wohl auch mit uns zufrieden sein.
Wir, die dort in der Ecke standen und miteinander plauderten, waren die ärmsten und jüngsten von den Konfirmanden. Die anderen, die besseren und vornehmeren, gingen vor der Kirche in kleinen Gruppen auf und ab, und manchmal scharten sie sich um die älteste Tochter des Propstes, die dieses Jahr auch den Konfirmationsunterricht besuchte. Sie war schön und hatte etwas an sich, das jeden anzog. Man war kaum imstande, wo anders hinzusehen als nach der Seite, wo sie sich befand.
Aber wir anderen, wissen Sie, wir wußten, daß die Tochter des Propstes niemals eine von uns als Freundin wählen würde, und wir standen in einer Ecke und versuchten uns zu trösten, indem wir über ein Stück aus dem Katechismus sprachen.
›Ja, wenn wir der dort glichen,‹ sagte ich, ›dann würde Gott sicher mit uns zufrieden sein.‹
Ich dachte dabei an die Tochter des Propstes, und plötzlich wendeten wir uns alle zusammen um und starrten sie wieder an.
Sie hatte herrliches, weiches braunes Haar, das sich an den Schläfen kräuselte und in Locken über Scheitel und Nacken herabfiel. Und sie hatte ein längliches Gesicht mit schmalen Wangen und langen Augenwimpern und Augen, die einem tiefen Brunnen glichen. Ja, sie war gewissermaßen aus einem feineren Stoff als wir anderen. Sie erinnerte an eine durchsichtige Beere. Sie war sehr groß und neigte den Kopf auf die eine Seite, und wir fanden, daß dies ausgezeichnet zu ihrem ganzen Aussehen und ihrem Wesen paßte.«
Der Mann, der dieser Geschichte lauschte, bedeckte plötzlich die Augen mit der Hand. Er sah ein heißgeliebtes Antlitz vor sich, sah es, wie er es draußen am Meer gesehen hatte, als ein schönes Bild nach dem anderen vor ihm aufgetaucht war. So merkwürdig jung und fragend hatte es ausgesehen.
»Sie hieß Sigrun,« sagte Lotta Hedmann, »und das war ein außergewöhnlicher Name; aber er war nicht das einzig Außergewöhnliche an ihr. Gerade an jenem Tage, wo ich sie im Sonnenschein auf dem Platz vor der Kirche stehen sah, begriff ich, warum man den Blick nicht von ihr abwenden konnte.
Freilich, rein äußerlich war sie uns anderen völlig gleich. Sie hatte zwei Augen, eine Nase und einen Mund, war in der Propstei zu Stenbroträsk geboren, und ihre Eltern waren nicht anders als die Eltern von anderen. Aber das konnte den nicht täuschen, der sehende Augen hatte. Denn Sigrun war nicht vom Schlage gewöhnlicher Menschen, sie stammte aus einer anderen Welt.«
Der Mann, der noch immer die Hand vor den Augen hielt, nickte unwillkürlich. Das war das richtige Wort: »aus einer anderen Welt«, ein verirrter Zugvogel, der sich von seinen Kameraden getrennt hatte und unter eine Schar von Vögeln geraten war, die nicht von seiner Art waren.
»Denn es gibt andere Welten,« sagte Lotta Hedman, »es gibt viele außer der, die wir jetzt sehen. Und von einer dieser Welten stammte Sigrun. Aber Sie verstehen vielleicht nicht, was ich meine?«
»Doch,« antwortete der Mann, »ich verstehe es. Ich habe selbst einmal einen Menschen gesehen, der aus einer anderen Welt war. Wenigstens glaube ich's zu verstehen,« fügte er hinzu, wie wenn er meinte, er habe mit zu großer Sicherheit gesprochen.
»Und ich schlich mich in einen Winkel unter dem Glockenturm,« fuhr Lotta Hedman in ihrer Erzählung fort, während sie das Gesicht in den Händen verbarg. »Ich mußte über das nachdenken, was das bedeutete, wenn man sagte, Sigrun sei kein gewöhnliches Menschenkind.
Sollte Sigrun, wenn sie aus einer anderen Welt stammte, mir nicht ansehen können, daß ich eine Auserwählte war und einmal Gottes Wort der Welt zu verkündigen haben würde? Und sollte sie gar nie ein Wort mit mir sprechen wollen? Sollte nicht sie, die anders war als die übrigen, ein besseres Urteil haben und besser wählen können?
Aber ich blieb nicht lange mit meinen Gedanken ungestört. Die anderen Konfirmanden, alle die zwölf, die sich nicht zu der Tochter des Propstes hinwagten, kamen herbei und gesellten sich zu mir.
›Hier sitzt Lotta Hedman und weint, weil Sigrun sie nicht anschaut,‹ sagte eine von ihnen.
›Du wirst doch begreifen, Lotta, daß sich Sigrun um ein Mädchen, das so aussieht wie du, nicht kümmert,‹ bemerkte eine andere, und sie versuchte, mich zur Vernunft zu bringen.
›Bedenke doch, was für Haare du hast! Es steht dir ja um den Kopf wie dem Struwelpeter.‹
Ich saß still da und hörte ihnen zu. – ›Ach, wenn es nur das wäre, was uns trennt!‹ dachte ich. ›Aber Sigrun stammt ja aus einer anderen Welt, das ist das Schlimmste.‹
›Und du hast einen so sonderbaren und verkrüppelten Körper,‹ sagten die anderen Konfirmanden. ›Deine Kleider sitzen nie glatt und ordentlich wie bei uns anderen. Und du hast stechende Augen, und du schreist, wenn du sprichst!‹ Bisher hatte ich keine Tränen in den Augen gehabt; aber jetzt fühlte ich, wie sie sich hervordrängen wollten, weil die anderen, indem sie mich zu trösten suchten, grausam und häßlich waren.
Aber da war mir plötzlich, als verbreite sich um mich her ein warmer, sanfter Lichtschein. Es war, wie wenn an einem kalten Wintertag ein Sonnenstrahl in die Kammer fällt.
Eine kühle, weiche Hand zog mir die Hände vom Gesicht, und als ich aufsah, stand Sigrun vor mir. Sie lächelte mich an und fragte, ob ich sie am Nachmittag, wenn der Unterricht vorbei sei, in meinem Boot an das andere Ufer hinüberrudern wolle.
Und obgleich ich sehr wohl begriff, daß die anderen Sigrun von meiner Armut und Kränklichkeit erzählt hatten, und obgleich ich wußte, daß sie mir diese Ruderfahrt nur aus Mitleid vorschlug, erfüllte mein Herz doch eine unaussprechliche Glückseligkeit. Sie können sich nicht vorstellen, wie es mir zumute war, und wie ich Sigrun von diesem Augenblick an liebte.«
»Und wie ich sie von diesem Augenblick an liebte,« wiederholte der Zuhörer im stillen, und er fühlte, wie ein Paar Lippen seine Stirne streiften und hörte ein leises, melodisches Lachen. »Obgleich ich wußte, daß es nur aus Mitleid geschah,« flüsterte er vor sich hin, »obgleich ich es vollkommen durchschaute, daß es nur aus Mitleid geschah.«
»Sigrun,« murmelte er fast hörbar, »warum kehrst du heute auf diese Weise zu mir zurück? Ich glaubte, ich hätte dich für immer verscheucht. Warum kehrst du zurück?«
»Aber am Nachmittag, als wir unterwegs waren,« fuhr Lotta Hedman fort, »da fragte Sigrun, ob ich es sei, die am Begräbnistag ihrer Großmutter die schöne Musik in der Propstei gehört hatte, und bat mich, ihr doch alles noch einmal zu erzählen. Und sie bekam nicht nur das zu hören. Alles was ich gesehen und gehört hatte, berichtete ich ihr, und ich verhehlte nicht, daß ich glaubte, ich sei zu einer Hellseherin oder zu einer Prophetin von Gott bestimmt. Und sie machte sich nicht über mich lustig, sondern sagte nur ganz demütig, sie selbst könne nie dergleichen sehen, aber ihr Wunsch sei, Krankenpflegerin zu werden. Doch nicht von gewöhnlichen Kranken, sondern von Pestkranken oder Aussätzigen. Oder wenn das nicht möglich wäre, dann wolle sie sich der Blödsinnigen annehmen oder Blinde lesen oder Taube sprechen lehren. Ihr größter Kummer, sagte sie, sei die Befürchtung, ihre Eltern würden ihr die Erlaubnis zu einer derartigen Beschäftigung nicht geben.
Heute noch sehe ich sie vor mir, wie schön sie aussah, als sie von dem allen sprach,« sagte Lotta Hedman.
Der Mann ihr gegenüber schaute einen Augenblick auf, und seine Augen strahlten. »Sie machen mir eine große Freude durch Ihre Erzählung,« sagte er. »Sie können sich gar nicht vorstellen, welche Freude mir das ist.«
»Es ist sehr freundlich von Ihnen, das zu sagen,« erwiderte Lotta Hedman. »Ich fürchtete schon, Sie würden diese Erzählung jetzt recht langweilig finden.«
»Wie können Sie so etwas denken!« rief der Mann. »Und wenn Sie mir von dieser Tochter des Propstes von Stenbroträsk erzählten, bis wir uns trennen, so würde es mir nie langweilig. Sie sind vermutlich seit dieser ersten Bootfahrt gut Freund mit ihr geworden?«
»Ja,« antwortete Lotta Hedman, »soviel ist sicher, gute Freunde wurden wir. Wir ruderten fast jeden Abend, solange der Konfirmationsunterricht dauerte; denn Sigrun saß gern in einem Boot und glitt darin die Ufer entlang, ohne ein besonderes Ziel. Fahrten auf Dampfschiffen und Eisenbahnen waren ihr nicht sehr angenehm, und sie fuhr auch nicht gern in einem Wagen, aber es machte ihr Freude, in einem Ruderboot den Fluß hinabzutreiben. Ihre größte Sehnsucht war, auf das weite Meer hinauszukommen.«
Der Mann, der Lotta Hedman gegenübersaß, hatte wieder den Kopf gesenkt und die Hand über die Augen gelegt. »Ach freilich,« dachte er, »sie hatte sich lange danach gesehnt, aus das Meer hinauszukommen, das sagte sie zu mir. Sie hatte sich, seitdem sie fünfzehn Jahre alt war, danach gesehnt. Und ich durfte ihr diesen Wunsch erfüllen. So hab' ich doch etwas Gutes in meinem Leben getan.«
Lotta Hedman, die keiner weiteren Aufmunterung von seiten ihres Zuhörers bedurfte, fuhr unverdrossen in ihrem Bericht fort:
»Ich dachte, sobald der Unterricht ein Ende habe, würden wir uns nicht mehr sehen; aber den ganzen Sommer danach kam Sigrun fast täglich zum Fluß hinunter, und ich war dann schon mit dem Boot da, und wir fuhren stundenlang flußauf und flußab. So machten wir es Sommer für Sommer, und das war die glücklichste Zeit, die ich jemals erlebt habe.«
Der Mann gerade gegenüber seufzte tief auf. – »Warum kehrst du zu mir zurück. Sigrun?« flüsterte er. »Warum kommst du so jung, so gut, so schön, so unerfahren und unberührt? Ich habe an dich zu denken versucht wie an eine alternde Frau, an eine Mutter mit ihrem Kind, an eine liebende und geliebte Gattin. Warum kehrst du in der ganzen Lieblichkeit deiner Jugend zurück?«
»Doch nun sollen Sie erfahren, wie es mit unserer Freundschaft weiterging,« sagte Lotta Hedman.
»Als sie vier Jahre lang gedauert hatte, saß ich eines Sonntagnachmittags aus unserer Seite des Flusses daheim in unserem Häuschen und betrachtete einen großen, rotangestrichenen Bauernhof, der vor dem nach Osten gehenden Fenster emporwuchs. Eine Hauswand nach der anderen trat hervor, und ich fragte mich, was für ein Hof das sein könne und warum er sich gerade an diesem Abend so prächtig aufbaue.
Der Tag war ziemlich weit vorgeschritten, es fing schon an zu dämmern. Mein Vater und meine Mutter waren am Vormittag in der Kirche gewesen, und jetzt saßen sie am Herd, jedes auf seiner Seite, und rauchten und plauderten. Ich aber saß vorn am Fenster und schaute auf den Hof hin, der noch immer an dem grauen Abendhimmel emporwuchs.
Es war ein rotes Wohnhaus mit zwei Stockwerken, das hoch oben auf einem Hügel stand, mit einer Menge alter Apfelbäume auf dem davorliegenden Abhang. Auf der einen Seite des Obstgutes sah ich einen Wirtschaftshof mit den Scheunen, und auf der anderen lagen das Waschhaus und der Stall und ein großer steinerner Keller mit einer einzelnen kleinen eingebauten Dachkammer darauf.
Neben diesem Keller stand ein Baum, den ich nicht mit Namen hätte nennen können. Er war verkrüppelt, hatte einen dicken Stamm und weit ausgebreitete Äste; er schien uralt zu sein und machte einen unwirschen, ja drohenden Eindruck.
Meine Eltern, die am Herd saßen, unterhielten sich eigentlich nicht miteinander. Sie dachten nur gemeinsam, denn sie wußten recht gut, wie sie miteinander daran waren.
»Ach, das tut mir doch sehr leid für Lotta!« sagte die Mutter. Und der Vater erwiderte sofort, ohne zu fragen, ja, es tue ihm auch sehr leid. Denn er hatte natürlich soeben an dasselbe gedacht wie sie.
Ich aber dachte bei mir, sie wüßten ja gar nicht, was sie sagten, denn warum sollte ich ihnen leid tun, solange ich so viele Gesichte hatte und Stimmen vernahm, über die ich mich freute?
Und der große Hof stand noch immer ebenso deutlich da. Mir war, als könnte ich sofort durch das Gattertor treten und in dem Haus einen Besuch machen. Ich sah die Geräte, die auf dem hinteren Hof liegengeblieben waren und den Eimer neben dem Brunnen und die Hundehütte und den Taubenschlag, und ich sah, es war ein ganz besonderer Hof, wo alles großzügig angelegt war; aber es sah auch wieder altväterisch und altmodisch dort aus.
Totenstill und verlassen lag er da. Kein Mensch, ja nicht einmal irgendein Tier rührte sich.
Da sah ich etwas, das mich mehr als alles andere überraschte. Der Hof war von den Äckern durch eine steinerne Mauer getrennt, und mitten in dieser Mauer erblickte ich ein Gattertor. Und der eine Torpfosten stand aufrecht und richtig, der andere aber war grau und fast verfault, er wäre auch sicher umgefallen, wenn nicht von allen Seiten eine Menge Klötze eingerammt gewesen wären.
In dem Augenblick, wo ich diesen alten Torpfosten bemerkte, überlief mich ein Schauder, heiße Angst stieg in mir auf, und ich wollte am liebsten nichts mehr sehen.
Ich schlug die Hände vors Gesicht und drehte dem Fenster den Rücken; aber der Hof verschwand deshalb doch nicht. Als ich nach einigen Minuten hinausschaute, stand er noch ganz so da wie vorher, und er machte einen schönen, prächtigen Eindruck. Leuchtend hob er sich von den dunkeln Hügeln ab, die hinter ihm aufstiegen. Und wer einen solchen Hof in Wirklichkeit sah, der mußte denken, dort wohnten reiche, mächtige Leute. Alles war gut erhalten, außer diesem einen Torpfosten.
Ich versuchte, ihn nicht anzusehen, weil er mir Angst einflößte; aber gerade als ich den Blick von ihm abwendete, entdeckte ich, daß sich doch ein Mensch auf dem Hof befand. Es war eine alte Frau, die an dem Fenster der Kellerstube nahe bei dem Torpfosten saß und auf diesen hinausschaute.
Sie war alt und hatte ein strenges, aber schönes Gesicht und weißes Haar, das eine Haube bedeckte, wie sie zu meiner Zeit kein Mensch mehr trug. Ganz, ganz still saß sie da, die Hände im Schoß gefaltet, und hielt den Blick beständig auf den Pfosten gerichtet. Wie versteinert schaute sie auf ihn hinaus.
Ich fürchtete mich vor ihr noch mehr als vor dem Torpfosten, und ich wendete mich von dem Fenster ab und versuchte, den Anblick loszuwerden, indem ich an Sigrun dachte.
Ich stellte mir vor, was für gute Freunde wir gewesen waren und noch waren. Es gab nichts, was uns hätte trennen können. Im vergangenen Winter war Sigrun mehrere Monate bei Verwandten weiter südwärts auf Besuch gewesen, aber als sie zurückkehrte, waren wir dieselben guten Freunde wie vorher.
Wenn mich irgend etwas bedrückte und quälte, so brauchte ich mir bloß Sigruns Bild vor die Seele zu rufen, dann verschwanden alle quälenden Gedanken. Aber diesmal half es nichts. Als ich mich dem Fenster wieder zuwendete, stand der alte Hof noch immer da, und die alte Frau saß noch immer auf ihrem Platz und schaute finster und unentwegt auf dieselbe Stelle hinaus.
Und mein Vater und meine Mutter am Herd drüben redeten auch noch gerade so wie vorher.
›Ja, das wird für Lotta schwer sein,‹ sagte die Mutter. ›Aber sie ist ja jung, und wenn man jung ist, so vergißt man.‹
›Ach freilich, solange einem die Jugend über vieles hinweghilft, geht es schon!‹ stimmte der Vater bei.
Und dann seufzten sie und taten einen langen Zug aus ihren Pfeifen.
Der Druck, der auf mir lastete, wurde immer schwerer. Ich begann zu glauben, meine Eltern könnten recht haben. Gewiß drohte mir irgendein schweres Erlebnis.
Und dann machte ich noch einen Versuch. Ich dachte daran, wie Sigrun gewesen war, als sie mich vor ein paar Monaten ausgesucht und mir erzählt hatte, sie habe sich mit einem Pfarrer verlobt, den sie während des Besuchs bei ihren Verwandten kennengelernt hatte.
Ihr Verlobter war Pfarrer, und darüber war sie besonders glücklich gewesen. Das passe für sie als Tochter eines Propstes so sehr gut. Und ich solle nur annehmen, er sei erst Anfang der Dreißiger und doch schon erster Pfarrer in einem Kirchdorfe mit einer eigenen Gemeinde. Diese sei allerdings ziemlich klein, aber er werde auch nicht lange dort bleiben, denn er sei hochbegabt und bringe es gewiß noch bis zum Bischof. Jedenfalls habe er sein eigenes Heim, und das sei herrlich, da könnten sie schon gegen den Herbst heiraten.
Zuerst war ich freilich ein wenig erstaunt, denn ich hatte ja immer gehört, Sigrun wolle Krankenschwester werden; aber sie erklärte, das sei ganz dasselbe wie eine Pfarrfrau. Ja, dies sei eigentlich ein viel schönerer Beruf, denn jetzt werde sie eine ganze Gemeinde bekommen, der sie helfen und beispringen könne.
In dem Augenblick, wo ich an dies alles dachte, schaute ich voller Zuversicht hinaus. Aber da sah es noch schlimmer aus, denn jetzt war die alte Frau aufgestanden, und ich begegnete ihrem Blick. Finsterer Zorn und tiefer Haß loderten darin; sie hob eine knochige Hand empor und schüttelte diese drohend gegen mich, während sie mit der anderen auf den Torpfosten deutete. Es war, als wolle sie sagen, wenn ich diesen Torpfosten berühre, werde es mir schlecht ergehen.
Sie war fürchterlich und flößte mir großen Schrecken ein, zugleich aber sah sie jämmerlich alt und ohnmächtig aus, und ich hätte am liebsten aus Mitleid mit ihr geweint.
Doch in dem Augenblick, wo sie die Hand erhob, war alles verschwunden. Alles miteinander, der Hof, die alte Frau und der Torpfosten. Es war, als sei alles niemals dagewesen. Und ich hatte wahrlich ein Gefühl großer Erleichterung.
Warum sollte ich ängstlich sein, wenn Sigrun ihren Bräutigam ein paar Tage auf Besuch da hatte? Oder warum brauchten Vater und Mutter so besorgt dazusitzen, weil sie ihn heute in der Kirche gesehen hatten?
Und dann tauchten plötzlich ein paar Köpfe am Flusse auf. Ich empfand eine solche Freude, daß ich sofort den Eltern zurief:
›Ich glaube wahrhaftig, da kommt Sigrun und will mir ihren Bräutigam zeigen! Kommt doch einmal her und seht, ob sie das sind, die dort vom Fluß her auf unser Haus zugehen.‹
Da versteckte die Mutter rasch ihre Pfeife, rückte sämtliche Stühle zurecht und wischte ein paar Tropfen Wasser auf, die auf dem Fußboden verschüttet waren.
Der Vater aber trat zu mir ans Fenster, und wir betrachteten die beiden. Und als der Bräutigam jetzt Arm in Arm mit seiner Braut daherkam, sah ich ihn zum erstenmal. Er war nicht besonders groß, aber kräftig gebaut, gut gewachsen und breitschultrig. Und er hatte einen schönen, wohlgeformten Kopf. Ich konnte keinen Fehler an ihm entdecken, es sei denn, daß er kurzsichtig war und eine Brille trug.
Als die beiden hereinkamen, sahen sie stolz und glücklich aus. Ich war auch sehr erfreut über Sigruns Verlobten und sehr glücklich, weil sie zu mir gekommen waren. Er sah aus, als könne er seine Frau vor allen Stürmen des Lebens beschützen. Solange sie eine solche Stütze neben sich hatte, würde sie nie unglücklich oder verzagt sein können.
Der Bräutigam begrüßte meine Eltern äußerst freundlich. Aber als er auf mich zukam, blinzelte er ein wenig mit den kurzsichtigen Augen und setzte eine scherzhafte Miene auf.
›Ach so,‹ sagte er, ›das ist also die große Seherin von Stenbroträsk. Vor ihr fürchte ich mich. Sie kann ja ganz durch die Menschen hindurchsehen. Wie schrecklich, wenn sie nicht mit mir zufrieden wäre!‹
Er lachte, und Sigrun lachte auch, und auch meine Eltern verzogen den Mund zu einem Lächeln.
Und es war, als sollte ich ebenso vergnügt sein, wie wenn ich nur dazu da wäre, daß man sich über mich lustig machte.
Zuerst wurde ich dunkelrot, denn das Blut schoß mir heiß in die Wangen. Und dann fühlte ich, wie etwas Steifes und Hartes über mich kam. Ich konnte nicht begreifen, daß ein Mensch so offen über das, was mein heiligstes Geheimnis war, zu sprechen wagte. Wie hatte Sigrun nur ihrem Bräutigam etwas verraten können, was ihr im tiefsten Vertrauen gesagt worden war?«
Lotta Hedmans Stimme bekam wieder jenen kreischenden Ton, wie bei der Erzählung von ihrem einsamen, harten Leben. In ihrer Seele erwachte von neuem ein durchdringender Schmerz.
Der Mann vor ihr schaute sie mit einem wehmütigen Lächeln an.
»Das hätten Sie sich denken können, daß Sigrun so handeln würde,« sagte er. »Sie hatte sich ihrem Verlobten mit ihrer ganzen Seele, mit all ihrem Denken und allem, was sie erlebt hatte, zu eigen gegeben.«
»Ja, das mag wohl sein,« erwiderte die Erzählende, »aber es war schwer für mich. Meine Mutter versuchte statt meiner zu antworten,« fuhr sie fort, »denn sie begriff wohl, daß ich nichts sagen könne.
›Ja, dieses Mädchen hier hat eine recht unverständige Mutter,‹ bemerkte sie. ›Aber Gott hat mein Gebet erhört, er hat mir eine Tochter geschenkt, die mehr sieht und versteht als andere Menschen.‹
Ich fand meine Mutter wirklich tapfer. Am liebsten wäre ich auf die Knie gesunken und hätte ihr gedankt; aber auch sie verstummte, als sie jetzt ein scharfer Blick unter der Brille hervor traf, und der Pfarrer dann mit lauter, ernster und wuchtiger Stimme, wie wenn er auf einer Kanzel stünde, zu sprechen begann:
›Wir müssen vorsichtig sein, wir Christen, damit wir nicht in das Heidentum zurücksinken,‹ sagte er. ›Denn ein Mensch, der in das Übernatürliche einzudringen versucht, will gleichsam seinen eigenen Weg gehen und nicht den, den Jesus Christus uns gebahnt hat. Er will sich seine eigenen Götter wählen und macht sich schließlich vielleicht selbst zu einem Gott.‹
Auf diese Weise predigte er eine ganze Weile. Und nun war niemand mehr im Zimmer, der ihm zu widersprechen gewagt hätte. Und wo war jetzt alles das, was ich gesehen und gehört hatte? Es war im selben Augenblick, wo dieser Mann bei uns eintrat, wie weggeblasen. Und ich mußte hilflos still dasitzen und mich vor Sigrun und den Eltern von ihm zurechtweisen lassen.
Ich warf einen Blick auf Sigrun, sie schaute ihren Verlobten mit einem Gesicht an, das vor demütiger Bewunderung strahlte. Und ich sah, wie glücklich sie darüber war, daß sich ihr Bräutigam die Mühe gab, mich auf den rechten Weg zu bringen. Sie dachte jetzt genau wie er: alles das, worüber wir miteinander gesprochen hatten, war schädlich und gefährlich. Was er sagte, war nur zu meinem Besten, ich hatte nichts anderes zu tun, als von meinen bösen Wegen abzustehen und zu versuchen, wie alle anderen zu werden.
Ich war ganz niedergeschmettert vor Schmerz. Ach, wie viel lieber wäre ich tot gewesen, als hier zu sitzen und zu erleben, daß Sigrun mich im Stich gelassen hatte!«
Jetzt hob Lottas Zuhörer noch einmal den Kopf.
»Das war doch schön, daß sie keine eigenen Gedanken mehr hatte, sondern nur so dachte wie er,« sagte er. »Gerade das ist ja das Schöne an ihr.«
Lotta Hedman fuhr in ihrer Erzählung fort, ohne seine Bemerkung zu beachten.
»Die Brautleute blieben ziemlich lange bei uns, und sie sprachen natürlich nicht nur mit mir, sondern auch mit meinen Eltern, und alles, was der Bräutigam sagte, klang gut und freundlich, und er wußte seine Worte gut zu setzen. Als er den Kanzelton abgelegt hatte, klang seine Stimme frisch und lustig. Es war nicht schwer zu verstehen, daß Sigrun ihn liebte.
Ich sagte kein Wort, solange der Bräutigam da war; Sigrun sah mich erstaunt an, und schließlich fragte sie mich, ob ich krank sei. Aber ich schüttelte nur den Kopf. Sigrun dachte gewiß nicht anders, als daß ich vor Glückseligkeit nicht sprechen könne.
Ich aber empfand es als eine große Erleichterung, als sie endlich zur Tür hinaus waren. Aber siehe, Sigrun hatte ihre wollenen Handschuhe vergessen, und sie kam allein zurück, um sie zu holen.«
Das Gesicht von Lotta Hedmans Zuhörer hatte jetzt einen gequälten Ausdruck.
»Was für ein Recht hast du, diese ganze Erzählung über Sigrun anzuhören?« sagte er zu sich selbst. »Nimm dich in acht! Nimm dich in acht! Die Sehnsucht kehrt zurück, der Schmerz kehrt zurück, die Liebe erwacht aufs neue. Es wird wie vor sechs Jahren, wo du auf den Klippen saßest und Liebesträume träumtest. Tag für Tag saßest du dort und träumtest von ihr.«
»Und dann zog sie mich auf die Seite, um mich zu fragen, ob ihr Verlobter nicht ein ganz besonderer, herrlicher Mensch sei, und ob ich je geglaubt hätte, daß es seinesgleichen auf der Welt gäbe,« fuhr Lotta Hedman fort. »Und als ich noch immer nichts sagte, verlor sie die Geduld.
›Was ist denn mit dir los?‹ rief sie. ›Warum bist du so stumm und verdrossen? Ich dachte, es würde dir gut tun, mit einem Geistlichen zu sprechen. Und mein Verlobter wollte so gern mit dir reden. Ich hatte ihm so viel von dir erzählt und ihm gesagt, was für ein merkwürdiges Geschöpf du seiest. Was soll er jetzt denken?‹
Ich saß ganz still da, bis Sigrun schon dicht bei der Tür war, aber dann eilte ich ihr nach.
›Ach, heirate ihn nicht, Sigrun!‹ rief ich aus. ›Er macht dich unglücklich!‹ Und als mich Sigrun nun groß ansah, fügte ich in meiner Angst hinzu: ›Er wird deine Seele töten, wie er die meine getötet hat.‹
Da richtete sich Sigrun hoch auf.
›Jetzt bist du schlecht!‹ sagte sie. ›Wie kannst du so abscheulich reden, weil jemand dir etwas zu sagen wagte, was du nicht gerne hörst?‹
Hierauf ging sie unwiderruflich.
Und ich war froh, daß mein Vater und meine Mutter nichts sagten, weder um mich zu trösten, noch um etwas zu erklären. Leise schlich ich in die kleine, eiskalte Küche hinaus, setzte mich da nieder und weinte. Weinte eine Stunde um die andere. Ich beweinte diese schöne Freundschaft, ich beweinte meine Seele, die ihrer Kraft beraubt worden war und die sie nie wiedererlangen würde, und ich biß in die Frucht der Verachtung. Zum erstenmal in meinem Leben hatte ich ihre Bitterkeit geschmeckt.«
Lotta Hedmans Stimme war leiser geworden, wie bei dem Schluß ihrer Erzählung von dem Brief an den König und von dem tausendjährigen Reich. Ihr Gesicht verriet einen großen Kummer. Sie empfand noch heute die Qual der Demütigung.