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Der Angeklagte, Julius Lamprecht, war in Untersuchungshaft; er lag auf seiner Pritsche im Gerichtsgebäude von Knapefjord und starrte in die graue Dämmerung hinein, die um ihn her herrschte.
Jetzt, wie schon sooft, seit er verhaftet worden war, lag er da und setzte sich selbst auseinander, daß er unschuldig sei und keinen Grund habe, zu gestehen.
»Wenn ich wirklich schuld daran wäre, daß diesen alten Menschen die Schädel eingeschlagen worden sind, so würde ich es natürlich nicht leugnen,« dachte er und erinnerte sich dabei an einige Worte, die er während des Verhöres an diesem Vormittag geäußert hatte. »Ich weiß ja, es heißt: Auge um Auge, Zahn um Zahn, und die Gerechtigkeit muß bestehen bleiben. Und es ist besser, seine Strafe in dieser vergänglichen Welt auf sich zu nehmen, als sie in der nächsten erwarten zu müssen, wo die Trübsal kein Ende nimmt.«
Der Angeklagte war etwa fünfundvierzig Jahre alt und sah fast wie ein Riese aus, als er so auf seiner Pritsche lag. Er hatte goldene Locken wie ein Kind, die Haut seines Gesichtes hatte die hellen Farbentöne der Jugend beibehalten mit einem Anflug von Rot auf den Wangen. Sein Schnurrbart war blond und von auffallender Länge. Das Gesicht war im ganzen genommen schön mit wohlgeschnittenen Zügen. Nur die Augen, die übrigens ebenfalls schön waren, machten einen unbehaglichen Eindruck, weil ihr Blick einmal starr gradaus gerichtet war und dann wieder unsicher vom Fußboden zur Decke, von Ecke zu Ecke flackerte.
»Jeder nach seiner Art,« dachte der Angeklagte. »Mit dem Richter und dem Staatsanwalt muß man eine besondere Art von Wahrheit reden, weil ihnen die wirkliche Wahrheit nicht eingeht und ihnen erst verdolmetscht werden muß.«
Als er so dalag und sich klar machte, daß er durchaus keinen Mord begangen habe, sah er sich selbst hungernd und frierend, in Lumpen gekleidet eines Winterabends spät in eine einsame, zwischen steinigen und unfruchtbaren Hügeln versteckt liegende Hütte treten. Die Tür war zufällig unverschlossen gewesen, und er erinnerte sich noch, wie entsetzt die beiden alten Leute, die an einem Tisch am Fenster saßen, aufgeblickt hatten, als er hereinkam und wie hastig sie die Tischlade zugestoßen hatten. Er sprach freundlich mit ihnen, saß mit ihnen am Feuer und wärmte sich, aß mit ihnen von ihrer Grütze, ohne irgendwelche Scheu zu zeigen, fühlte aber die ganze Zeit über wohl, wie ungern sie sein Hiersein sahen und ihn tausend Meilen weit wegwünschten.
»Wenn man ein freigelassener Strafgefangener ist, der auf Lebenszeit verurteilt war, und wenn einem auch die Strafe wegen ausgezeichneter Aufführung auf zwanzig Jahre herabgesetzt worden ist,« dachte der Angeklagte und war nun wieder mitten in der Rede, die er sich heute bei Gericht zu halten erlaubt hatte, »so liegt es auf der Hand, daß man verdächtig ist. Man kann nichts anderes verlangen. Man würde selbst ebenso denken.«
Dabei sah er vor seinen inneren Augen ganz deutlich, wie er und die beiden Alten, in einer Ecke der Stube, sich niedergelegt hatten, sie in ihr Bett und er auf einen Strohsack auf dem Fußboden.
Auf dem Herde brannte, nachdem sie sich gelegt hatten, noch das Feuer, und er sah die zwei alten Köpfe nebeneinander ruhen. Er selbst lag hart und unbequem, ihn fror, und er fühlte sich unbehaglich, vor allem aber ärgerte er sich, weil die beiden Alten dort in dem Bett ihm die Nachtherberge nicht gönnten. Die Axt, mit der der alte Mann einige Äste kleingehackt hatte, um sie unter den Grützenkessel zu schieben, lag noch auf dem Hackklotz. Er fragte sich, ob sie wohl mit Absicht so liegen gelassen worden sei, daß das Metall im Feuerschein glänzte, um vielleicht gut sichtbar und schnell zur Hand zu sein.
Er wurde schläfrig, fürchtete sich aber vor dem Einschlafen. Wenn er schlief, konnten ja die beiden mit ihm anfangen, was sie wollten. Der Alte war noch recht kräftig trotz seiner siebzig Jahre, und sie waren zwei gegen einen.
»Wer zwanzig Jahre Strafarbeit hinter sich hat, sollte weniger als ein anderer, der nicht weiß, was es heißt, im Zuchthaus zu sitzen, dem Verdacht ausgesetzt sein,« murmelte der Angeklagte, und er gedachte wieder an einige der ermahnenden und zurechtweisenden Worte, die er während des Verhörs am Vormittag dem jungen Richter, der die Gerichtsverhandlung leitete, gesagt hatte. »Aber man weiß ja, daß dies nicht so betrachtet wird, wenigstens wird nicht nach dieser Regel gehandelt.«
Und während sich der Angeklagte dieser seiner schönen Worte erinnerte, sah er sich zugleich in der Hütte auf dem Fußboden liegen und sich anstrengen, das Geflüster des alten Paares zu verstehen. Der Mann bestand auf etwas, dem die Frau widersprach. »Warte nur, bis er eingeschlafen ist!« hörte er sie sagen. Der Wanderer auf dem harten Strohsack fühlte sich immer unbehaglicher. Es war klar, der Alte hatte Geld im Hause und befürchtete, er könne es ihm stehlen. Es ist unglaublich, wie viele Gefahren einem armen Landstreicher begegnen können!
Er verstellte sich, tat, als ob er schliefe, und schnarchte laut, um zu sehen, was sie vornehmen würden. Es geschah aber nichts, nur der alte Mann sprach laut ein Abendgebet. Er dachte, das sei die Höhe der Verstellung, er, der doch genau wußte, was sie im Sinne hatten. Er, der sah, wie die blanke Axt im Scheine der verglimmenden Kohlen glänzte und fertig und bereit dalag. Er, der begriff, daß sie nur seine Wachsamkeit einschläfern wollten.
»Aber das ist etwas, was ein Richter niemals einsehen wird,« dachte der Angeklagte. »Niemals wollen sie etwas von Notwehr hören, besonders nicht, wenn es sich um einen armen Wanderer handelt, der schutz- und waffenlos in eine fremde Wohnung kommt. Was mich betrifft, ich kann so etwas keinen Mord nennen. Hätte ich den beiden nicht die Schädel eingeschlagen, so hätten sie es mir getan. Ich glaube, sie waren gar nicht wirklich eingeschlafen, obgleich sie still dalagen und sich nicht rührten. Sie taten nur so. Und wenn ich mich hätte verleiten lassen, im Ernst einzuschlafen, so hätte man ja sehen können, was geschehen wäre. Wupps wären sie aus dem Bett gesprungen und hätten die Axt ergriffen! Und es ist keine Kunst, in solcher Einöde eine Leiche zu begraben und gut zu verstecken. Es ist gar nicht recht, die Menschen solchen Versuchungen auszusetzen.«
Je öfter der Angeklagte auf diese Weise die Geschehnisse der Mordnacht wieder durchging, um so überzeugter wurde er, daß er nur in der Notwehr gehandelt habe.
Verhaftet zu werden, das hatte er zuerst gar nicht erwartet. Einesteils lag die Hütte, in der die beiden Alten, jedes mit seinem Axthieb in der Stirne, den ewigen Schlaf schliefen, sehr abgelegen, und er konnte hoffen, es werde nichts aufkommen, ehe er sich in Sicherheit gebracht hätte. Andererseits fühlte er sich die ganze Zeit über so unschuldig, daß er meinte, die höhere Gerechtigkeit müsse ihn beschützen. Denn die höhere Gerechtigkeit war etwas ganz anderes als die niedere, die irdische. Die sah es ein, wenn sich ein Ärmster in einer Notlage befand. Mit der höheren Gerechtigkeit ließ sich, sozusagen, ein verständiges Wort reden.
Was die höhere Gerechtigkeit gegen ihn einzuwenden haben konnte, das waren – das erkannte er bereitwillig an – ein paar Notlügen, die er sich während der Untersuchung erlaubt hatte, betreffs der Orte, wo er sich in der Mordnacht und in den ersten Tagen nach dem Mord aufgehalten hatte. Aber so gewissenhaft er auch war und so sehr er die Gerechtigkeit liebte, so war er doch der Ansicht, in seinem Fall sei dies verzeihlich. Denn wenn man, gegen Recht und Billigkeit, nur darum verhaftet wird, weil man vorbestraft war, und vielleicht auch ein kleines bißchen deswegen, weil man sich im Besitz des Sparkassenbuches der Ermordeten befand, so war man doch gezwungen, ein wenig von der Wahrheit abzuweichen. Man hatte doch erklären müssen, man habe das Buch einem Mitreisenden auf der Eisenbahn aus der Tasche gestohlen. Man hatte nicht einmal den Versuch gemacht, zu behaupten, man sei auf ehrliche Weise dazugekommen, sondern hatte es als gestohlen anerkannt. Und woher der Mitreisende das Sparkassenbuch hatte, das konnte man doch natürlich nicht wissen. Das war zuviel verlangt. Wie sollte man von dessen Tun und Treiben etwas wissen können?
Einmal ums andere ging der Angeklagte diesen Gedankengang durch, und er fühlte sich mehr und mehr unschuldig. Als sich dann nach einer Weile die Türe des Untersuchungsgefängnisses öffnete und der Referendar, der am Vormittag das Verhör geleitet hatte, mit dem Gefangenenaufseher, der vom Gerichtsgefängnis mit ihm hergeschickt war, sowie mit einem jungen Mann, der nach seinem Anzug eine Art von besserem Arbeiter zu sein schien, bei ihm eintrat, war er felsenfest davon überzeugt, daß er nur durch eine besondere Gnade davor bewahrt worden sei, einem Meuchelmord zum Opfer zu fallen.
Der Gefangene erhob sich sofort von seiner Pritsche und nahm eine höflich abwartende Haltung ein. Wie er dem Gefängnisgeistlichen versprochen hatte, wollte er sich jederzeit eines guten Betragens befleißigen und zeigen, daß er nicht nur ein Freund der Gerechtigkeit, das heißt der Obrigkeit sei, sondern auch ihr Diener.
»Ich will Ihnen mitteilen, Lamprecht, daß morgen das Urteil in Ihrer Sache gefällt wird,« sagte der junge Richter. »Und ich will Sie noch einmal ermahnen, sich vorher durch aufrichtige Reue und ein offenes Geständnis das Gewissen zu erleichtern, um dadurch Aussicht auf eine mildere Strafe zu erlangen.«
Der Angeklagte antwortete auf die Ermahnung des Richters mit einem energischen Kopfschütteln. Sonst aber nahm er sie mit Verständnis und Nachsicht entgegen.
»Ich sehe ja wohl ein, daß sich der Herr Referendar in einer schwierigen Lage befindet,« sagte er. »Ich habe gelernt, die Gerechtigkeit zu lieben, die die Grundlage von allem ist, das, worauf wir uns verlassen können. Man hat seine Bedenken, ich sehe es ein. Man möchte weder einen Unschuldigen verurteilen, noch einen Verbrecher freisprechen.«
Während der Angeklagte dies sagte, machte der Richter einige Male eine Bewegung mit der Hand, um ihn zu unterbrechen; der Angeklagte sah es wohl, aber er tat nicht, als ob er es merke. Wenn man zwanzig Jahre im Zuchthaus gewesen ist, hat man einige Erfahrung gesammelt und weiß einiges zu sagen, was einem Referendar, der vielleicht zum erstenmal zu Gericht sitzt, nützlich zu hören sein kann.
Er durfte bis zum Schluß ausreden. Dann fuhr der Richter vollkommen unberührt fort:
»Es wird Ihnen schwer, Lamprecht, eine klare und deutliche Antwort zu geben. Darum hab' ich Ihnen drei Punkte aufgesetzt, die Sie zu beantworten haben.« Damit zog der Referendar ein Papier hervor, das er, während er den Inhalt vorlas, dem Angeklagten vor die Augen hielt:
»Gesteht der Unterzeichnete, Julius Martin Lamprecht, ein, in der Nacht vor dem dreizehnten Februar 1909 den Häusler Jonas Mikaelsson mit einem Axthieb ermordet zu haben?
Gesteht der Unterzeichnete, Julius Martin Lamprecht, ein, in der Nacht vor dem dreizehnten Februar 1909 die Häuslersfrau Brita Gustava Mikaelsson durch einen Axthieb ermordet zu haben?
Gesteht der Unterzeichnete, Julius Martin Lamprecht, ein, gewußt zu haben, daß die beiden Ehegatten im Besitz eines Sparkassenbuches über zweihundert Kronen waren, und daß er die Morde begangen hat, um sich dieses Sparkassenbuches zu bemächtigen?«
Der Referendar legte das Papier auf den Tisch.
»Nun überlegen Sie sich das, Lamprecht,« sagte er. »Sie wissen selbst, Sie haben keine Aussicht, freigesprochen zu werden, aber ein freiwilliges Geständnis kann das Urteil mildern. Hier liegt das Papier, und ich werde Ihnen Tinte und Feder hierherbringen lassen.«
Der Angeklagte war über die Kritik, die der Richter an seiner Art, sich auszudrücken, ausübte, tief beleidigt und hatte seine gute Laune vollständig eingebüßt. Sein Blick war starr und leer geworden.
»Sie haben doch verstanden, was ich gesagt habe, Lamprecht?« fragte der Richter. »Sie wissen also, es sind drei Fragen, die Sie beantworten sollen, und Tinte und Feder werden hier auf dem Tisch bereit sein.«
Der Angeklagte zog die Luft tief in die Lungen ein. Er war so beleidigt, daß er keinen Wert mehr auf ein gutes Benehmen legte. Er spuckte auf das Papier. Dann ging er zu seiner Pritsche, warf sich darauf und schloß die Augen.
»Es wird Ihnen sogleich ein neues Papier gebracht werden, Lamprecht,« sagte der Richter mit derselben Gelassenheit, die er seither gezeigt hatte. »Sie haben eine Stunde Zeit, Lamprecht. So lange bleib' ich hier im Gerichtsgebäude, um Ihre Antwort zu erwarten. Sie suchen Aufschub und Ausflüchte, Lamprecht. Dafür ist jedoch die Zeit vorbei, und es ist meine Absicht, Ihnen das klarzumachen.«
Der Angeklagte antwortete nur mit einem Fluche.
Gleich darauf hörte er, wie die Tür geöffnet wurde, und er nahm an, seine Besucher hätten das Untersuchungsgefängnis verlassen, gab sich aber nicht die Mühe, die Augen zu öffnen und nachzusehen, ob es wirklich der Fall sei.
Lamprecht fühlte, daß er als Sieger aus dem Wortwechsel hervorgegangen war. »Dieses Jüngelchen wagt nicht, eine Verurteilung auszusprechen,« dachte er. »Jedenfalls nicht, solange ich entschieden leugne. Was sein Papier angeht, so brauche ich das nicht zu beantworten. Wozu sollte das dienen?«
Als er wieder ausgestreckt auf seiner Pritsche lag, sah er dieselben Gesichte wie vorhin, führte dieselben Auseinandersetzungen mit dem Richter und dem öffentlichen Ankläger und wurde mit jeder Minute mehr und mehr von seiner völligen Unschuld überzeugt. Die Alten in der Hütte hatten im Hinterhalt auf einsame Wanderer gelegen und mehr als einen Landfahrer auf dem Gewissen, dessen war er nun völlig sicher.
Zugleich war es ihm ein sehr reizvoller Gedanke, daß ihn der Richter im Gefängnis besucht hatte, um ihn zu einem Geständnis zu überreden. Das war ihm ein Beweis, daß man ihn für einen bedeutenden und gefährlichen Menschen hielt, den man nicht gerne wieder aus dem Gefängnis entlassen wollte.
»Sieh da!« sagte er zu sich selbst und brüstete sich. »Jetzt weiß man also, wie die Sache steht. Rund herum im Lande fürchten sich die Menschen, der Mörder könnte nicht verurteilt werden. Man hat ja gesehen, was das heute im Gerichtsgebäude für ein Gedränge war. Man begreift, wie eifrig die Zeitungen sich bemühen werden. Man begreift, wie der Richter schwankt. Ja, man begreift sehr gut, was das heißen will. Man möchte gerne verurteilen, aber man hat nicht genügend Beweise. Man möchte ein Geständnis hervorlocken, um verurteilen zu können. Man weiß, daß man einen Angeklagten gegen sein entschiedenes Leugnen nicht verurteilen kann, wenn man keinen Beweis hat.«
Er fühlte sich vollkommen sicher und fing sogar an zu pfeifen.
Vielleicht würde es sich, genau betrachtet, herausstellen, daß diese schwere Prüfung nicht ohne Nutzen für ihn gewesen war. – »Von nun an,« dachte er, »wenn man in eine einsame Hütte kommt, wird es nicht mehr heißen, sich mit kalten Kartoffeln und ein wenig Breischarre vom Boden der Breipfanne zu begnügen. Von nun an wird man nur seinen Namen zu nennen brauchen, Julius Martin Lamprecht, damit die Leute wissen, wonach sie sich zu richten haben. Dann werden Pfannen und Kessel rasch auf den Herd kommen, und alles Gute, was sich im Hause findet, wird aufgetischt werden. Von nun an wird nicht mehr von einem Strohsack auf dem Fußboden die Rede sein. Jetzt wird es der Gast, der Wanderer sein, der sich im Bette streckt, und die Bewohner können auf dem Fußboden liegen, oder im Stall, wo sie Lust haben.«
Wieder wurde der Angeklagte in seinem Gedankengang gestört. Er hörte, wie eine sanfte und bescheidene Stimme neben ihm sagte:
»Jetzt sind fünf Minuten von der festgesetzten Zeit vorbei.«
Er schlug die Augen auf. Der Mann in dem Arbeiteranzug, der mit dem Richter in die Zelle gekommen war, stand neben ihm. Er hielt seine Uhr in der Hand und deutete mit dem Finger darauf, während er sprach.
»Was haben Sie hier verloren? Wer sind Sie?« rief der Angeklagte, höchst unangenehm überrascht, weil er nicht allein war. Er hatte doch wohl um alles in der Welt nicht mit sich selbst gesprochen?
»Ach, ich bin gar nichts,« sagte der in dem Arbeiteranzug. »Ich heiße Sven Elversson und bin der Sohn von Joel Elversson auf der Grimö. Aber es ist mir eingefallen, Sie konnten vielleicht in Gedanken versinken oder einschlafen und so die Zeit verstreichen lassen und das Geständnis versäumen, deshalb hab' ich den Richter gebeten, hierbleiben und mit Ihnen reden zu dürfen.«
Julius Martin Lamprecht fand den Mann nicht unangenehm. Es war so etwas äußerst Bescheidenes in seinem Lächeln, in seiner Stimme, in seiner Haltung. Selbst die Art, wie seine Haare gekämmt waren, deutete Bescheidenheit an. Auch die Bartlosigkeit des Gesichtes sprach von Bescheidenheit. Nichts von dem, was Eigenliebe, Selbstgefühl, Selbstgerechtigkeit genannt wird, war bei diesem Menschen zu bemerken. »Das ist einer von denen, die herumlaufen und es gut meinen,« dachte der Angeklagte. »Na, bei mir wird er nicht viel Seide spinnen.«
»Glauben Sie denn auch nur eine Minute, ich werde ein Wort auf dieses Papier schreiben?« rief er.
»Ach, weisen Sie es doch nicht gleich von Anfang an völlig von der Hand!« sagte Sven Elversson und schaute dem Angeklagten ganz lieb und freundlich und bescheiden ins Gesicht. »Sie sind ja früher schon vor Gericht gewesen und wissen, daß hier auf dem Kreisgericht, solange Sie leugnen, keine Verurteilung erfolgen kann, und daß Sie aus Mangel an Beweisen freigesprochen werden müssen. Aber ehe Sie Ihren Entschluß fassen, will ich Ihnen etwas mitteilen. Es sind einige Personen hier, die Ihnen fünftausend Kronen zur Verfügung stellen wollen, wenn Sie sich herbeilassen, zu gestehen. Diese Leute glauben, annehmen zu dürfen, Sie würden Wert darauf legen, in den Besitz von fünftausend Kronen zu kommen, obgleich Sie sie natürlich nicht selbst verzehren würden.«
Der Angeklagte fühlte ein Zittern durch seinen ganzen Körper laufen, von der Ferse bis zum Hals hinauf. Dabei konnte er es nicht unterlassen, eine Grimasse zu schneiden. Aber bald überwand er diese Zeichen der Schwäche.
»Was der tausend sagen Sie da!« rief er aus.
»Jawohl,« erwiderte Sven Elversson, »es ist die volle Wahrheit; wenn Sie gestehen, wollen wir Ihnen diese Summe aushändigen. Alle Menschen hier in der Gegend, ja, ich kann sagen, alle Menschen in ganz Schweden sind von Furcht erfüllt. Und wir sind alle miteinander einig darüber, daß Sie nicht frei auf der Landstraße gehen und bei einsam lebenden Menschen Nachtherberge suchen dürfen. Nein, das wollen wir nicht haben. Das ist eine zu große Versuchung für Sie. Ein Mensch wie Sie muß auf Lebenszeit eingesperrt werden. Wir wünschen Ihnen sonst nichts Böses, wollen Ihnen gar nicht an Leib und Leben schaden, wir wollen Sie nur hinter Schloß und Riegel setzen. Ich und noch mehrere haben gehört, was Sie bei der Gerichtsverhandlung gesagt haben. Sie sind nicht gerade ein schlechter Mensch, aber Sie bilden sich Sachen ein, Sie werden leicht ängstlich und meinen, alle anderen Menschen könnten Ihnen gefährlich werden. Und wenn Sie recht darüber nachdenken, so haben Sie es im Gefängnis am besten. Da sind Sie im Frieden und brauchen nicht um Ihre Sicherheit besorgt zu sein. Darum glaube ich, es wäre zum Nutzen für Sie und alle anderen, wenn Sie die fünftausend Kronen nehmen und ein offenes Bekenntnis ablegen würden.«
»Nein, und wenn's hunderttausend wären!« sagte der Angeklagte.
Sven Elversson war, während er sprach, dem Angeklagten immer näher gekommen, und setzte sich jetzt neben ihn auf die Pritsche.
»Sagen Sie das nicht!« mahnte Sven Elversson, indem er dem Angeklagten die Hand auf seinen Rockärmel legte und ihm freundschaftlich darüber hinstrich. »Sagen Sie doch nicht, Sie hielten fünftausend Kronen etwa nicht für eine schöne Summe und sie wären nicht vollständig zureichend für das, wofür Sie das Geld haben sollen. Mehr wäre für den Menschen, der das Geld bekommen wird, nicht gut, weniger wäre auch nicht gut. Fünftausend sind gerade recht.«
»Ich begreife Sie gar nicht!« sagte der Angeklagte. »Wozu sollte ich denn das Geld haben? Wem sollte ich es denn nach Ihrer Meinung geben?«
»Ich danke Ihnen für diese Frage!« sagte Sven Elversson. »Gerade darüber hätte ich gerne mit Ihnen gesprochen. Es hat, wie Sie wohl begreifen werden, in der letzten Zeit so viel von Ihnen in der Zeitung gestanden, und unter anderem war auch davon die Rede, daß Sie überall, wohin Sie gekommen seien, nach Ihrer Tochter gefragt hätten. Sie seien verheiratet gewesen, ehe Sie vor zweiundzwanzig Jahren Ihren ersten Mord begingen, und als Sie freigelassen wurden, hätten Sie sofort versucht, Ihre Frau aufzufinden, die aber sei tot gewesen. Sie hätten auch eine Tochter, die jetzt einige zwanzig Jahre alt sein müsse, und man wisse nicht anders, als daß sie noch am Leben sei, aber niemand könne Auskunft geben, wohin sie sich gewendet habe. Darnach hätten Sie Land und Reich durchstreift, um sie aufzusuchen. Man sagt, sobald Sie in ein Haus kämen, frügen Sie zuerst, ob man nichts von einem Mädchen wisse, das Julia Lamprecht heiße. Und dies halte ich wirklich für einen sehr schönen Zug von Ihnen,« fügte Sven Elversson hinzu. »Ich habe gedacht, es müsse doch ein guter Kern in Ihnen sein, wenn Sie sich so eifrig nach Ihrer Tochter erkundigen.«
»Aber was in aller Welt Namen hab' ich mit Ihnen zu tun?« fragte der Angeklagte. »Warum sitzen Sie hier und warum reden Sie mit mir? Warum sagen Sie mir durchaus nicht, was Sie eigentlich von mir wollen?«
»Ich danke Ihnen noch einmal,« sagte Sven Elversson mit sehr sanfter Stimme, wie wenn er bange wäre, das Mißfallen des Angeklagten zu wecken. »Das sind lauter Fragen, die zu beantworten ich gerne die Gelegenheit haben möchte. Ich wohne, wie gesagt, auf der Grimö, und die Insel liegt weit draußen im Meere. Sie könnten mir eigentlich gleichgültig sein, denn Sie wandern doch wohl nur auf dem Festlande umher. Aber ich habe eine Mutter, die das zweite Gesicht hat, und letzten Winter am Morgen des dreizehnten Februar bat sie mich, aufs Festland hinüberzufahren und nachzusehen, wie es mit zwei alten Verwandten von uns stehe, die in einer einsamen Hütte zwischen den Hügeln wohnten, weit entfernt von der Landstraße und von jeder Nachbarschaft. Sie hatte einen schweren Traum gehabt und meinte, es wäre gut, wenn jemand nachsähe, wie es den Alten gehe. Und ich tat, wie sie mir aufgetragen hatte. Dadurch war ich der erste, der sah, was Sie in der Nacht getan hatten. Es war ein schrecklicher Anblick, das kann ich nicht leugnen, und ich habe seither immer gewünscht, es möchte so kommen, daß Sie nie mehr frei umhergehen könnten. Und darum hab' ich auch das Geld gesammelt. Verstehen Sie, ich wünsche Ihnen gar nichts Schlimmes, das habe ich Ihnen ja schon gesagt. Ich möchte Sie nur für Lebenszeit eingesperrt wissen.«
Während er das sagte, rückte er auf der Pritsche näher zu dem Angeklagten hin und strich ihm freundschaftlich über den Rockärmel. Es war augenscheinlich sein Wunsch, Julius Martin Lamprecht möge nicht den Eindruck von einem persönlichen Widerwillen seinerseits bekommen. Wenn er ein zufällig aus seinem Käfig entsprungener Löwe gewesen wäre, so hätte sein Wärter auf gleiche Weise versucht, ihn wieder hinter die Gitterstäbe zu locken.
Es wäre unrichtig, wollte man behaupten, der Angeklagte habe seinen Besucher nicht mit Unruhe betrachtet. Alle Menschen beunruhigten ihn, der Richter, die Schöffen, der Gefängnisaufseher, der Vogt und die Zeugen, aber trotzdem kam ihm Sven Elversson recht ungefährlich, ja geradezu etwas närrisch vor. »Das ist so einer, der herumläuft und es gut meint,« wiederholte er bei sich. »Das ist ein Menschenfreund.«
»Jetzt fange ich an zu begreifen,« sagte der Angeklagte. »Als Sie hörten, daß ich meine Tochter suche, dachten Sie, Sie könnten diese als Köder verwenden, um einen armen Kerl wieder hinter Schloß und Riegel zu bekommen.«
Er lachte Sven Elversson gerade ins Gesicht. Der Löwe wollte seine Freiheit behalten, er machte sich nichts aus dem hingehaltenen Köder.
»Jawohl,« erwiderte Sven Elversson mit seinem unterwürfigsten Lächeln. »Diese Worte bringen mich gerade auf das, was ich sagen wollte. Sehen Sie, ich war letzten Sommer hier in der Gegend mit einem Bau beschäftigt, nicht auf eigene Rechnung, sondern für andere. Und ich ließ Steine aus einem Steinbruch nahe bei dem Fischerdorf Knapefjord, wo wir jetzt sind, hinschaffen, und dabei kam ich auch einigermaßen mit den Leuten in Berührung, die da arbeiteten. Und unter diesen war ein junges Mädchen, das Julia Lamprecht hieß. Das war ja kein ganz gewöhnlicher Name, und sobald ich den Ihrigen in der Zeitung las, mußte ich an sie denken.«
Der Angeklagte stand auf. Wieder fühlte er ein Zittern, das ihm von den Beinen aus das Rückgrat hinauflief. In seinem Gesicht arbeitete es, und er blinzelte mit den Augen. Augenscheinlich war in seinem Innern etwas in Aufruhr geraten, als von seiner Tochter gesprochen wurde, obgleich er sie seither nicht eigentlich aus einem warmen Herzensgefühl heraus aufzufinden gesucht hatte, sondern in der Hoffnung, es gehe ihr vielleicht gut, und sie könne ihm eine Heimat bieten.
Rücksichtslos stieß er Sven Elversson zur Seite und stellte sich mitten in die Zelle.
»Ist sie da?« fragte er. »Ich will sie sehen!«
Er sprach wie ein Mann, der keinen Augenblick zweifelt, daß seinen Befehlen gehorcht werde; aber Sven Elversson wagte doch, ihm zu widersprechen.
»Sie sollen sie zu sehen bekommen. Sie sollen mit ihr sprechen, wie Sie jetzt mit mir sprechen,« sagte er bescheiden und freundlich, aber nicht ohne Festigkeit. »Nur ein Ding muß vorher geschehen. Sie müssen Ihre Antwort dort auf das Papier schreiben. Sie denken vielleicht, es sei schlecht, Vater und Tochter zu trennen, aber wir müssen vorher dieses Papier unterzeichnet haben.«
Der Angeklagte wurde rot vor Zorn. Er war es nicht gewohnt, sich einen unschuldigen Wunsch versagt zu sehen. Seit seiner Festnahme war er mit der größten Rücksicht behandelt worden, damit er guter Laune bleibe, damit es ihm in seinem Gefängnis, sozusagen, gefalle und er das Geständnis ablege, auf das hin er immer drinbleiben müßte. Er fühlte große Lust, sich auf Sven Elversson zu stürzen und ihn zu züchtigen, aber er beherrschte sich. Er warf sich auf der Pritsche auf den Bauch und wendete das Gesicht nach unten, so daß nichts mehr davon zu sehen war, denn er fühlte, wie es in seinen Zügen arbeitete. Er wußte selbst nicht, woher es kam, aber er meinte, es sei am besten, seine Rührung zu verbergen.
»Ich bin Ihnen dankbar, ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie sich bedenken,« sagte der Gast. »Es geht Julia Lamprecht nicht besonders gut, das sollen Sie wissen. Sie hat ja frühe ihre Mutter verloren, und man kann beinahe sagen, sie sei auf der Gasse aufgewachsen. Hierher kam sie zusammen mit einem Steinarbeiter. Sie waren nicht verheiratet, aber es ist unter den Steinarbeitern nicht sehr gebräuchlich, zu heiraten, und so stieß sich niemand daran. Und Julia ist gut, es gibt viele, die schlechter sind als sie. Aber vor einigen Tagen, als der Mann hörte, daß Julia Ihre Tochter sei, ging er auf und davon und ließ sie sitzen. Er habe einen Abscheu vor ihr, sagte er, und nun ist Julia einsam und verlassen. Sie ist schön, wie Sie mit blonden Haaren, und sie findet auch wohl wieder einen anderen, aber etwas Rechtes wird es wohl nicht mehr. Wenn sie aber fünftausend Kronen hätte, so könnte sie sich ein nettes kleines Häuschen kaufen und sich richtig verheiraten. Fünftausend wären dazu gerade recht. Mehr wäre nicht gut und weniger auch nicht. – Ja, nun wissen Sie also, wie wir uns die Sache gedacht haben. Sobald Sie die Fragen beantwortet haben, können Sie mit Julia zusammenkommen und ihr die fünftausend Kronen in die Hände legen. Das wäre doch schön. Dann würde sie erkennen, daß sie einen Vater hat. Sie würde erkennen, daß Sie, was Sie auch getan haben mögen, doch ein Vaterherz für sie haben.«
Der Angeklagte gab lange Zeit keine Antwort. Er warf sich auf der Pritsche hin und her und stöhnte. Es war wirklich etwas in ihm, das nach der Tochter rief. Sie war blond, und sie war schön und glich ihm. Und vielleicht war sie draußen auf dem Gang und wartete.
Plötzlich setzte er sich auf, strich sich die Haare aus der Stirn und schaute Sven Elversson fest ins Gesicht.
»Können Sie mir sagen, warum ich hier auf dieses Papier schreiben soll? Morgen werde ich freigesprochen.«
»Gewiß, es ist möglich, daß Sie freigesprochen werden,« sagte der Gast. »Aber es ist doch noch nicht durchaus sicher. Und auf alle Fälle werden Sie deshalb noch nicht freigelassen. Es dauert vielleicht noch Jahre, bis die Sache alle Instanzen durchlaufen hat und Sie auf freien Fuß gesetzt werden. Es dauert vielleicht sogar noch länger. Und was wird inzwischen aus Julia? Bis dorthin kann sie völlig untergegangen sein. Ich fürchte, sie wird schließlich aus einer Hand in die andere gehen. Aber wenn sie jetzt fünftausend Kronen hätte, das wäre eine Hilfe für sie. Verschaffen Sie ihr die jetzt, dann haben Sie etwas, was Ihnen Ihr ganzes Leben lang das Herz fröhlich macht, so oft Sie daran denken. Dann hätten Sie etwas getan zur Sühne für das, was auf Ihnen lastet. Es würde mit Anerkennung von Ihnen in den Zeitungen die Rede sein.«
Der Angeklagte stand auf.
»Still!« rief er und stampfte auf den Boden. »Sie machen einen ganz wirr im Kopf mit Ihrem Geschwätz.«
Sein Gast schwieg auf der Stelle.
Der Angeklagte stand da und forschte in seinem Herzen. Er suchte nach der Liebe zu seiner Tochter, die man so selbstverständlich bei ihm vermutete. Durch diese Liebe zu seiner Tochter wollte man ihn ans Gängelband nehmen. Aus Liebe zu seiner Tochter sollte er sein ganzes ihm noch bevorstehendes Leben opfern, das verlangte man von ihm. Er, der nichts besaß als seine Freiheit, sollte diese für immer der Wohlfahrt seiner Tochter zum Opfer bringen. Um seiner Liebe willen! War denn wirklich Liebe in seinem Herzen zu finden? Jetzt, wo er danach suchte, fand er keine. Ja, vielleicht ein klein wenig, aber wie wenig! Opfer bringen, Opfer bringen! Es ist nicht so leicht, Opfer zu bringen. Der Schwätzer da vor ihm wollte ihn einsperren und unschädlich machen, aber ob er wohl bereit wäre, selbst für diese Sache ein Opfer zu bringen?
»Ich werde tun, was Sie wollen,« sagte der Angeklagte. »Ich werde auf die drei Fragen antworten. Aber nur unter einer Bedingung. Es ist ja schön und gut, wenn Julia Geld bekommt. Aber ist ihr mit Geld auch geholfen? Was Julia wirklich helfen würde, das wäre ein braver Mann. Wenn Sie mir versprechen, Julia zu heiraten, dann schreibe ich auf das Papier.«
Sven Elversson sah wirklich sehr bestürzt aus.
»Das hatte ich nicht erwartet,« sagte er sehr leise.
»Ich frage, ob Sie meine Tochter heiraten wollen?« sagte der Angeklagte höhnisch. »Was geben Sie darauf für eine Antwort? Ich soll mich um meiner Tochter willen unglücklich machen, das verlangen Sie von mir, aber Sie selbst wollen nichts tun.«
»Aber sie ist doch Ihre Tochter. Sie haben sie in die Welt gesetzt. Ich habe kaum ein paar Worte mit ihr gewechselt.«
»Dann wird auch nichts aus der Antwort auf die drei Fragen,« erklärte der Angeklagte. »Es ist etwas Besonderes mit Ihnen. Ich möchte Sie gerne zum Schwiegersohn haben.« Er brach in ein wildes Gelächter aus.
Sven Elversson legte die Hand über die Augen. Dann atmete er einige Male tief auf. – »Ich verstehe,« dachte er. »Wer Macht über andere haben will, muß bereit sein, sich selbst ans Kreuz zu schlagen. Mit weniger ist es nicht getan.«
Lange und forschend betrachtete er den Mann vor sich.
»Er will sich darum drücken,« dachte er. »Und er will mir die Schuld daran aufladen. Er ist fest überzeugt, daß ich nein sagen werde. Aber ich sage nicht nein. Ich habe ihn in eine Ecke bekommen, und ich werde ihn fangen.«
»Es soll sein, wie Sie es haben wollen,« sagte er kurz. »Wenn Ihre Tochter einwilligt, soll sie mich haben. Schreiben Sie nur.«
Der Angeklagte zauderte.
»Ich danke Ihnen in Julias Namen,« sagte er. »Aber wie soll ich wissen, ob Sie auch Wort halten?«
»Ganz richtig,« sagte Sven Elversson. »Das ist eine Frage, die ich erwartet habe und über die ich mich freue. Wenn Sie recht über die Sache nachdenken, so wissen Sie doch, daß an einem Ort wie hier die Wände Ohren haben. Es sind Zeugen vorhanden für das Versprechen, das ich Ihnen gegeben habe, das Versprechen, Julia Lamprecht zu meiner Frau zu machen, wenn sie mich haben will. Ich kann mich dem nicht entziehen. Soweit ich ein Ehrenmann bin, kann ich mich dem nicht entziehen. Setzen Sie sich nun her an den Tisch und schreiben Sie!«
Der Angeklagte setzte sich wirklich auf den Stuhl am Tisch. Er ergriff die Feder, tauchte sie ins Tintenfaß und stöhnte.
Während er so mit der Feder in der Hand dasaß, suchte er wieder nach dieser seiner Liebe zu seiner Tochter. Es hatte eine solche vielleicht in seinem Herzen bestanden zu der Zeit, wo er hoffte, bei der Tochter eine Heimat zu finden, aber jetzt, wo von ihm verlangt wurde, er solle ihretwegen seine Freiheit opfern, fand er keine.
Er schrieb mit steilgehaltener Feder; er schrieb mit schräggehaltener Feder. Einmal ums andere tauchte er ein und verspritzte freigebig Tinte um sich her; endlich wurde er fertig.
»Ich habe Ihnen nichts anderes versprochen, als daß ich eine Antwort auf die Fragen geben würde,« sagte er und übergab Sven Elversson das Papier.
Und Sven Elversson las und sah: die drei Fragen des Richters waren mit drei krummen, sehr schlecht geschriebenen Nein beantwortet. Darunter stand der Name Julius Martin Lamprecht und zuletzt ein ganzer Satz: »Ich soll gestehen, daß ich schuldig sei, aber das bin ich nicht.«
»Dafür bekommen Sie die fünftausend Kronen nicht,« sagte Sven Elversson ganz gelassen.
»Nein, das weiß ich,« erwiderte der Angeklagte. »Aber Julia bekommt Sie zum Mann. Ihnen hab' ich nichts anderes versprochen, als daß ich die Fragen beantworten würde, wenn Sie meine Tochter heiraten. Und das hab' ich getan. Ich selbst werde frei, und Julia hab' ich einen guten Mann verschafft.«
Ganz siegesstolz stand er da und warf sich in die Brust.
Sven Elversson wurde rot vor Zorn. Nun ließ ihn seine Demut im Stich, und er fing an, den Angeklagten mit weniger Rücksicht als bisher zu behandeln.
Noch einmal beugte er sich über das Papier und prüfte es genau.
»Ja, das hätte ich mir denken können,« sagte er. »Ich hätte wissen müssen, was für ein elender Schuft Sie sind. Ich habe es ja gesehen an der Art, wie Sie mit den beiden Toten verfahren sind. Warum haben Sie ihnen die Augen ausgestochen?« rief er heftig.
»Ich hätte ihnen die Augen ausgestochen?« schrie der Angeklagte. »Das ist nicht wahr! Das hat jemand anders getan. Als ich von ihnen wegging ...«
Er schwieg, biß sich auf die Zunge und lehnte sich todesblaß an die Wand seiner Zelle.
»Vielen Dank!« sagte Sven Elversson trocken. »Ich wußte ja, wie ich mit Ihnen fertig werden würde. Aber ich wollte so lange wie möglich warten. Ich wollte Ihnen bessere Bedingungen geben.«
Im nächsten Augenblick lag der Mörder vor ihm auf den Knieen.
»Ich habe nichts gesagt! Ich habe nichts gesagt!« jammerte er. »Lassen Sie es ungesagt sein! Sie haben mich angelogen.«
Er war nur noch ein elendes, jämmerliches Häufchen von Reue und Zerknirschung. Seine ganze Rüstung von Wichtigtuerei und Einbildungen, alle seine Ausflüchte und Entschuldigungen waren von ihm genommen.
»Sie wissen, daß Zeugen da sind,« sagte Sven Elversson. »Ich habe Sie gewarnt.«
»Lassen Sie mich noch einmal schreiben! Geben Sie mir ein neues Papier! Ich will gestehen! Ich will Ihnen alles sagen. Ich will Julia helfen.«
Sven Elversson erhob die Stimme ein wenig.
»Ich reiße dieses Papier in Stücke,« sagte er. »Gleich werden wir ein anderes hier haben. Wenn das neue Papier richtig beantwortet und unterzeichnet ist, so nehme ich an, daß die Wände von diesem ersten nichts gehört haben. Wir fangen nun wieder bei dem Augenblick an, wo Sie sich niedergesetzt haben, um zu schreiben. Die zugemessene Stunde ist noch nicht um. Julius Martin Lamprecht, Sie haben noch Zeit, ein freiwilliges Geständnis abzulegen.«
Eine Weile darauf saß der Mörder im Untersuchungsgefängnis auf einem Stuhl dem Richter gegenüber. Sein Aussehen war verändert, er hatte etwas von einem gründlich gebadeten und gewaschenen Menschen an sich, obgleich keine äußerliche Reinigung mit ihm vorgenommen worden war. Aber er hatte gestanden. Nicht nur hatte er auf dem Papier die beiden ersten Punkte mit ja beantwortet und den dritten mit nein, sondern er hatte auch ein vollständiges und offenes Geständnis abgelegt. Jetzt war er äußerst ermattet, und man hatte ihm einen Stuhl geben müssen, damit er nicht umsank. Aber trotzdem sah er glücklich und befriedigt aus. In diesem Augenblick hegte er keinen Groll gegen irgendeinen Menschen. Er war gereinigt, freigemacht von Sünde. Seit seinem ersten Gang zum Abendmahl war ihm nicht mehr so wohl zumute gewesen.
Nicht der Richter allein befand sich bei ihm in der Zelle, sondern auch der Gefängnisaufseher, der Vogt, der Amtsdiener, Sven Elversson und Julia Lamprecht. Der Gefangene liebte sie alle, aber am meisten liebte er seine Tochter, der er vor einigen Augenblicken die fünftausend Kronen überreicht hatte. Er bewunderte ihr Aussehen. Sie war schön, mit blonden, krausen Haaren, und sie hatte ein gesetztes, bescheidenes Wesen. Unter vier Augen hatte er noch nicht mit ihr sprechen können; aber nach einem Versprechen des Richters sollte sie so lange bei ihm in der Zelle bleiben dürfen, als er wünschte.
Zuweilen richtete der Mörder seine Blicke auf den Mann, der ihn zum Geständnis gebracht hatte, und er mußte sich selbst gestehen, daß er ihm Mitleid einflößte.
Schon wenn man ihn anschaute, wie er, den Blick auf den Boden geheftet, mit umwölkter Stirn, zusammengesunken an der Wand der Zelle stand, mußte man Mitleid mit ihm haben. Der Mörder meinte, er könne ihn besser verstehen als sonst jemand. Er, der Mörder, konnte seine Schuld bekennen und sie abverdienen, dieser Mann aber konnte niemals den Schandfleck loswerden, der ihm anhaftete.
Der Richter und alle übrigen Diener der Gerechtigkeit hatten Sven Elversson die Hand geschüttelt und ihm gedankt, das hatte der Mörder wohl gesehen. Vor allem hatte der Richter sich äußerst dankbar gezeigt. Er war froh gewesen, weil er das Urteil jetzt nicht zu fällen brauchte, ohne seiner Sache sicher zu sein.
Aber Sven Elversson hatte trotzdem noch ebenso gedrückt und demütig ausgesehen. Ja, seine Demut war nur noch größer geworden. Er machte den Eindruck, als könne er sich selbst nicht ertragen.
Als Julia Lamprecht in die Zelle hereingeführt und ihr die fünftausend Kronen überreicht worden waren, war dieser Sven Elversson vorgetreten und hatte ausgesagt, daß er dem Gefangenen versprochen habe, seiner Tochter einen Heiratsantrag zu machen. Aber die Tochter hatte kurzerhand abgelehnt, nein, diesen Mann würde sie niemals heiraten. Und sie hatte ihm mit deutlichen Worten gesagt, was für ein Mensch er sei.
Sven Elversson hatte diese Weigerung sehr übel aufgenommen; sie schien ihn vollkommen niedergeschmettert zu haben. Ohne ein Wort zu erwidern, war er zurückgewichen, bis zur Wand der Zelle getaumelt und dort stehen geblieben. Der Gefangene aber fühlte deutlich, nun war er gerächt.
Durch seine Tochter, die er bis zu diesem Tag nie gesehen, war er an dem gerächt worden, der ihn besiegt hatte. Ja, er und die Tochter, sie waren eines Blutes, das fühlte er deutlich, und er liebte sie.
Nicht, daß er sein Geständnis bereute! Er fühlte sich erleichtert, rein geworden, glücklich, geachtet, fast wie ein vollständig ehrlicher Mensch. Und er hatte seine Tochter sehen dürfen, die er nun sein ganzes Leben lang lieben würde, und die auch ihn lieben würde, weil er ihretwegen seine Freiheit geopfert hatte.
Auf das tatsächliche Geständnis ging der Mörder in seinen Gedanken nicht weiter ein, das löschte er in seiner Erinnerung aus. Er war ein Mann, der sich selbst in einem schönen Licht sehen mußte. Und er dachte sich schon eine prächtige, rührende Geschichte aus, wie er nur seiner Tochter wegen ein Geständnis abgelegt und die Verzeihung von Gott und den Menschen angerufen hätte. Solange er lebte, würde er nun an dieser Geschichte weiterspinnen; er wollte an sie glauben, und sie würde ihm während der langen, schweren Jahre, die ihm bevorstanden, die Selbstachtung aufrechterhalten.