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Ein Brief von Hånger

Ein paar Tage später trat Lotta Hedman mitten am Vormittag in des Pfarrers Studierstube.

Sie hielt einen Brief in der Hand, ihre Augen schauten gerade vor sich hin, ihr Haar war so glattgekämmt, als es überhaupt sein konnte, und auf ihrer Stirn lag ein Leuchten, als ob sich der Himmel über ihr geöffnet und etwas von seinem Strahlenglanz über sie ausgegossen hätte.

Und der Pfarrer sah nicht ohne Erstaunen, daß sie ganz ruhig und mit der Absicht, mit ihm zu reden, hereinkam; denn Lotta Hedman war sonderbar und verwirrt gewesen seit der Nacht, da Sigrun gegangen war. Sie fand keine Ruhe mehr und redete oftmals laut mit sich selbst. Man nahm an, sie habe Gesichte, und wer etwas von ihren Reden verstand, der hörte, daß sie sich um nichts anderes drehten, als um die große Naturverheerung und den Reiter auf dem roten Pferd, um göttliche unberechenbare Zeitmaße und um wilde Tiere und den jammervollen Untergang der ganzen Welt.

Sie wich allen Menschen aus, mehr als notwendig gewesen wäre, und vor niemand war sie so scheu, wie vor ihrem Hausherrn. Er hatte schon oft beobachtet, wie sie weite Umwege machte, um ihm auszuweichen.

Ihre Haare hatten gen Himmel gestanden, ihre Augen waren wild im Kreis herumgefahren, ihre Kleider waren vernachlässigt gewesen, und mit ihrer Arbeit war es gegangen, wie es eben ging.

Wenn die beiden jungen Mädchen ihr in den Weg gekommen waren, hatte sie ihnen strenge Worte, die beinahe wie Drohungen klangen, aus der Heiligen Schrift zugerufen.

Man hatte den Versuch gemacht, den Pfarrer zu veranlassen, sie in ihre Heimat zurückzuschicken; da es aber ohne Zweifel die Trauer um Sigrun war, die sie so quälte, hatte er seine Hand über ihr gehalten und sie in seinem Dienst gelassen.

Heute nun, als er die Veränderung wahrnahm, die mit ihr vorgegangen war, dachte er: »Jetzt ist ihre Trauer zu Ende. Jetzt denkt außer mir in diesem Hause niemand mehr an Sigrun.«

Lotta bat ihn, er möge sie mit Geduld anhören, denn sie habe ihm viel zu sagen.

Und zu seinem großen Erstaunen, denn sie war über alle Maßen ernst und feierlich, begann sie ihm ein Märchen zu erzählen.

»Es war einmal ein Hof, auf dem redliche Bauersleute wohnten,« fing sie an. »Aber ganz nahe bei diesem Hofe war ein Berg, auf dem es Riesen gab. Und die Bäuerin war einmal in dem Hause der Riesen gewesen, um der Riesin bei der Geburt eines Kindes beizustehen. Als sie nun das Kind badete, war ihr ein Tropfen von dem Badewasser ins Auge gespritzt; von diesem Tropfen aber war sie auf dem einen Auge hellsehend geworden, und sie konnte von nun an alles sehen, was die Unterirdischen auf ihrem Hofe taten. Darum kam sie häufig dazu, wenn sie stahlen oder für Vieh und Menschen Fallen stellten, damit sie zu Schaden kommen sollten.

Dann geschah es einmal, daß die Bäuerin auf den Jahrmarkt fuhr; als sie dort zwischen den Ständen hindurchging, begegnete ihr der Riese aus der Nachbarschaft. Und ohne an etwas Besonderes zu denken, begrüßte sie ihn.

›Guten Tag, Großvater, sagte sie und schüttelte ihm die Hand. ›Das ist ein prächtiges Stück Fries, das Ihr da gekauft habt.‹

›Ja,‹ sagte der Riese, ›und billig ist es auch noch dazu. Zwei Bauern prügelten sich um dieses Stück, und während sie einander verdroschen, ging ich mit dem Bündel ab.‹

Dann redeten sie eine Weile in aller Ruhe miteinander; doch da fragte der Riese plötzlich: ›Aber wie kommt's denn, Großmutter, daß Ihr mich sehen könnt?‹ – ›Ach, mir ist neulich, als ich bei Euch war, ein Tropfen Wasser ins Auge gekommen, und seither kann ich Euch sehen, ob Ihr wollt oder nicht.‹ – ›Ei was, in welches Auge denn?‹ – ›Ins linke,‹ antwortete die Bäuerin – und im selben Augenblick hob der Riese die Hand und strich ihr das linke Auge aus dem Gesicht.

Er nahm das ganze Auge, es blieb nicht eine Spur davon zurück. Und nie mehr in ihrem Leben konnte die Bäuerin etwas Außergewöhnliches wahrnehmen.

Und dasselbe hat der Herr Pfarrer mir angetan, als wir zum erstenmal zusammenkamen,« sagte Lotta mit hoher, schriller Stimme. »Der Herr Pfarrer hat mir mein sehendes Auge ausgeschlagen. Und seither ist mein Leben nur noch Verwirrung gewesen. Ich sehe, aber dunkel, ich höre, aber undeutlich, ich habe keinen Erfolg und finde niemand, der auf mich hört. Ich bin arm und heimatlos und werde niemals etwas anderes sein, als eine arme Arbeiterin.«

Der Pfarrer saß still und gelassen da und hörte zu, und als Lotta einen Augenblick innehielt, um Atem zu schöpfen, sagte er, ohne eine Spur von Widerwillen zu zeigen:

»Weiter, Lotta! Sie sind sicherlich nicht nur darum heute zu mir gekommen, um von diesen alten Dingen zu reden.«

»Nein,« erwiderte Lotta. »Aber ich wollte den Herrn Pfarrer daran erinnern, weil ich meinerseits dem Herrn Pfarrer ein großes Unrecht angetan habe. Es ist zuweilen ganz gut, zu wissen, daß man Sühne für alte Schuld zu fordern hat. Ich habe trotzdem noch viel Barmherzigkeit und Verzeihung nötig.«

Der Mann vor ihr schüttelte den Kopf.

»Ich verstehe nicht, wohin Sie zielen,« sagte er.

Aber Lotta antwortete ohne die mindeste Verwirrung:

»Ich weiß ganz genau, was ich zu sagen habe, und es ist kein leichtes Bekenntnis, das ich ablegen muß. Aber ehe ich soweit bin, muß ich noch von etwas anderem reden.

Ich bin keine Schwätzerin, und Sigrun hab' ich kein Wort davon gesagt, aber ich weiß, daß es einen Bauernhof gibt, der Hånger heißt. Ich habe auch die ganze Geschichte erzählen hören von dem Pfarrer, der ermordet worden ist, und von dem Torpfosten und von der Alten in der Kellerwohnung, und von dem Fluche, der auf den Männern des Hångergeschlechts ruht. Und nun denke ich also: jemand, der weiß, daß er von einem starken und wilden Geschlecht abstammt, mit dem von jeher schwer umzugehen gewesen ist, und der außerdem weiß, was für ein Tod seiner wartet, ich meine, ein solcher Mann müsse sich zuweilen besonnen haben, ob er recht daran tat, sich eine Frau zu nehmen, die weich und unschuldig war wie ein neugeborenes Lamm, und die von all dem Dunkeln, das in seiner Seele wohnte, gar keine Ahnung hatte.«

»Lotta Hedman!«

Die Stimme des Pfarrers klang immer noch sehr gelassen. Er hatte Lotta nur eine Warnung zugerufen, nicht zu weit zu gehen.

»Lassen Sie mich fortfahren, Herr Pfarrer!« bat Lotta. »Ich sage das nicht als einen Vorwurf, sondern nur, um daran zu erinnern, daß auf beiden Seiten Schuld zu finden ist, obschon die Schuld auf unserer, auf Seite Sigruns und meiner, sehr viel größer ist, und daß sehr viel Barmherzigkeit und Verzeihung in die eine Wagschale gelegt werden muß, wenn beide gleichstehen sollen.

Und nun bleibt mir nur noch übrig, zu berichten, wie es zugegangen ist, als Sigrun von uns ging. Und ich tu' es auf ihr eigenes Verlangen hin, das sollen Sie wissen. Ich habe heute einen Brief von ihr erhalten, in dem sie mir befiehlt, es zu tun, und das hat mich erlöst aus meiner Erniedrigung und hat mich herausgehoben aus der Lüge; jetzt kann ich den Menschen wieder in die Augen sehen.«

Da es Lotta Hedman war, die diese Worte sagte, so kamen sie dem Pfarrer nicht so sonderbar vor, wie es sonst wohl der Fall gewesen wäre. Er glaubte, er werde zu hören bekommen, Sigrun sei nicht an den schwarzen Blattern gestorben, sondern habe sich selbst das Leben genommen, und Lotta meine, sie habe irgendeine Art von Erlaubnis bekommen, ihm das mitzuteilen.

Nun fing Lotta an zu berichten.

Aber schon während sie noch redete, fühlte sie sich über die Maßen entmutigt, denn sie bemerkte, wie der Mann, mit dem sie sprach, immer finsterer wurde, gleich wie der Himmel sich vor einem großen Unwetter verfinstert. Wolken zogen auf allen Seiten herauf. Eine furchtbare Kälte und eine furchtbare Finsternis breiteten sich aus. Zuletzt konnte sie fast die Worte nicht mehr hervorbringen.

Ohne alle Umschweife brachte sie aber doch heraus, daß sie mehrere Male Nachricht von Sigrun erhalten habe. Nach ihrer Ankunft in Hånger sei sie an den Blattern erkrankt. Die Krankheit sei nicht gefährlich, aber sehr langwierig gewesen.

Und während der Krankheit und auch seither habe sie sich bei den guten Leuten auf Hånger aufgehalten. Auf eigene Faust in der Welt draußen sei sie nur einen einzigen Tag gewesen, und was sie da erlebte, habe sie so erschreckt, daß sie es jetzt nicht mehr übers Herz brächte, von Freunden und einem schützenden Dach weg wieder in die Fremde zu ziehen.

Aber die wohlgesetzten Worte, die Lotta hatte sagen wollen, von ihrem eigenen Unrecht und ihrer Scham darüber und von ihrer großen Freude, weil Sigrun ihren Sinn geändert habe und wieder heimkommen wolle, diese Worte blieben fast ganz ungesagt.

Sie zeigte dem Pfarrer nur den Brief, den sie an diesem Tag erhalten hatte, der: Hånger, den 16. Mai 1916 datiert war und nur die wenigen Zeilen aufwies:

»Lotta, geh zu Eduard und sag ihm alles. Und bitte ihn, daß er hierher nach Hånger kommt und mich holt, wenn er mich noch für würdig hält, wieder seine Frau zu sein.«

Im Brief lag ein kleiner Umschlag, der die Anschrift des Pfarrers trug. Er riß ihn auf und fand nur das eine Wort:

»Verzeihung!«

Als der Pfarrer diese Worte las, brach er in ein bitteres, schneidendes Lachen aus. Es klang, wie wenn der erste Windstoß durch die Wolken bricht und sie zur Seite schiebt, um dem wilden Tanze des Sturmes Platz zu machen.

»Telefonieren Sie an Sigrun, Lotta, ich werde morgen nach Hånger kommen und sie holen,« sagte er. »Heute muß ich zu einem Schulexamen.«

Lotta tat, wie ihr geheißen war. Bald nach zwölf Uhr fuhr der Pfarrer ganz allein ab. Er hatte eine lange Fahrt nach einem weitabgelegenen Schulhaus vor sich. Als er aber an einen Kreuzweg kam, lenkte er nicht in den Weg ein, der zum Schulhaus führte, sondern er fuhr gen Osten, der Grenze von Dalsland zu, in der Richtung, die nach Hånger führte.


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