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In dem Zuge, der an einem der letzten Septembertage des Jahres 1914 von Norrland nach den südlicheren Teilen Schwedens fuhr, saß in einem Wagen dritter Klasse eine junge Frauensperson. Sie war sehr ehrbar und schlicht gekleidet, in einem schwarzen Anzug, mit einem fast jeglichen Ausputzes entbehrenden schwarzen Hut. Sie unterhielt sich mit den anderen Reisenden, wobei sie häufig die Stimme erhob, und da diese von Natur aus etwas schrill war, verstand man sie in dem ganzen Wagenabteil. Bald wußte jedermann, daß dies ihre erste Reise mit der Eisenbahn war. Und dieses merkwürdige Ereignis, in die Welt hinauszukommen und fremde, freundliche Menschen zu treffen, schien die Person in eine Art Verzückung versetzt zu haben. Alles, was jahrelang in ihrem Innern verschlossen gewesen war, brach hervor. Sie redete unaufhörlich und die ganze Zeit über nur von sich. Denn sie wollte die Gelegenheit benutzen, den Leuten zu sagen, wer sie war und was für eine wichtige Botschaft sie auszurichten habe.
»Ich bin eine, die nichts studiert hat, außer einzig und allein die Bibel,« sagte sie. »Mein Kopf ist durch kein Wissen beschwert. Er ist von keinen Irrlehren verwirrt. Ich bin wie ein unbeschriebenes Papier, bin wie ein weißes Blatt, auf das Gott selbst seine Gedanken niederschreibt. Weit, weit droben in Lappland bin ich geboren. Ich wohne in einer größeren Gemeinde und arbeite jeden Tag in einer Kistenfabrik, und ich bin arm und einsam und habe weder einen Mann noch Kinder. Und kein Mensch fragt danach, ob ich lebe oder sterbe, und niemand kommt und sieht sich nach mir um, wenn ich krank bin, und ich habe niemand bei mir, mit dem ich über das sprechen kann, was wichtig für mich ist. Ich merke auch, daß sich die Leute hinter meinem Rücken über mich lustig machen, und ich scheue mich allmählich, unter Menschen zugehen.«
Eine freundliche Frau ihr gegenüber, die sich zuerst mit ihr in ein Gespräch eingelassen und sie zum Reden veranlaßt hatte, legte ihr beruhigend die Hand aufs Knie; aber sie fuhr wie von einem unwiderstehlichen Zwange getrieben fort:
»Und Zeit meines Lebens ist der Tod hinter mir her gewesen wie ein hungriger, gieriger Wolf. Seine Anschläge gegen mich waren gar mannigfaltig. Schon ehe ich den Mutterleib verließ, wollte er mich umbringen. Er sandte einen Wahnsinnigen aus, der meine Mutter so erschreckte, daß ich zu bald und über die Maßen elend zur Welt kam. Und einmal wollte er mich beim Baden ertränken, und ein anderes Mal ließ er im Wald einen Baum auf mich niederstürzen, und wieder ein andermal ließ er mich, während ich Beeren suchte, von einer Schlange in den Fuß beißen, und einmal warf er mich gar von einem Baugerüst herab. Und mit Krankheiten hat er mich grenzenlos gequält.«
Jetzt hörte ihr nicht mehr nur die freundliche Frau zu. Auch eine Bäuerin und ihr Mann, die neben ihnen in demselben Abteil saßen, verfolgten mit großer Aufmerksamkeit jede Silbe. Der Tonfall und die Worte, die die Fremde wählte, erinnerten sie an den Vortrag in einem Vereinshaus, und ihre Gesichter nahmen einen fast andächtigen Ausdruck an.
»Und in meinen Jugendjahren,« berichtete die Sprecherin, die jedenfalls nicht mehr als höchstens sechs- bis siebenundzwanzig Jahre alt sein konnte, »hob ich die Arme zu Gott empor und fragte ihn, warum er dem Tode das Recht gebe, mich mit Wunden und Schlägen und Krankheiten zu verfolgen; aber in letzter Zeit hab' ich aufgehört zu fragen. Denn ich weiß nun, daß der Böse mir nach dem Leben trachtete, weil Gott durch mich reden, durch meinen Mund reden und der Grausamkeit des Bösen eine Grenze setzen wollte.«
Sie holte einen Augenblick Atem und schaute sich um, als sie indes nur freundliche Aufmerksamkeit, ja fast Andacht bei den um sie her Sitzenden sah, fuhr sie fort:
»Und ich habe mich gefragt, warum ich so weit oben im Norden wohnen und immer auf den gleichen Dorfgassen umherlaufen müsse, und warum ich nie etwas von der Herrlichkeit dieser Welt sehen dürfe? ›Warum bin ich so ungeschickt, es gut für mich einzurichten, und warum kann ich keine Freude an dem finden, was anderen Freude macht?‹ dachte ich. ›Warum sagt der Vorarbeiter in der Fabrik nie ein freundliches Wort zu mir, selbst wenn ich mir mit der Arbeit noch so viel Mühe gebe? Warum bekomme ich nur so schwer Milch und warum muß ich in einem Zimmer wohnen, mit dem sich sonst niemand begnügen würde?‹
Aber jetzt frage ich nicht mehr, denn ich weiß, es ist Gott, der alles um mich her so öde und ärmlich gemacht hat. Ich darf froh sein, daß er mich nicht in den Wald oder auf das Gebirge schickt, daß er mich nicht in einem Lappenzelt wohnen und mit Renntieren in der Wüste umherziehen läßt. Ja, ich darf froh sein, daß er mich an einem Ort leben läßt, wo es doch Menschen gibt.«
Jetzt waren es nicht mehr nur die drei in der Nähe, die auf die Worte der jungen Frauensperson achteten, sondern auch ein paar weiter weg Sitzende waren aufgestanden, um sie besser zu verstehen. »Was sagt sie?« murmelte einer. »Wer ist das nur, der so schreit, daß man es im ganzen Wagen hört? Ist es jemand von der Heilsarmee?«
»Denn Gott ist es, der meine Gedanken für sich allein haben will,« fuhr die Schwarzgekleidete fort. »Er will, ich soll Berechnungen anstellen, ich soll Daniel auslegen und Hesekiel erklären und aus dem Buch der Offenbarungen Weisheit schöpfen. Und wenn abends die anderen zu Tanz und Spiel gehen, dann sitzt Lotta Hedman vor ihrer Bibel, dann sucht sie Gottes Absichten zu erforschen, dann erhält sie Klarheit über das, was kein anderer auf der weiten Welt ergründen kann.«
Durch den ganzen Eisenbahnwagen geht ein erstauntes Flüstern, und Lotta Hedman bemerkt das sehr wohl. Sie wird durch das Aufsehen, das sie erregt, immer weiter getrieben. Selbst wenn sie es wollte, wäre sie jetzt nicht imstande, aufzuhören, ehe sie alles gesagt hat. Ihre so lange verschlossenen Lippen bewegen sich mit oder gegen ihren Willen.
»Und in den Winternächten, wenn die Dorfuhr zwölf und ein Uhr schlägt, wenn ganz Schweden sich zur Ruhe gelegt hat und alle Lichter erloschen sind, und wenn das große, weite Land in tiefem Schlummer daliegt, dann sitze ich in meiner ärmlichen Stube, in der niemand andres wohnen will, und ich sehe Gottes Finger auf Worte und Reden in der Heiligen Schrift deuten. Und dann wird mir offenbar, wie es allen den anderen, allen denen, die in der Winternacht schlafen, ergehen wird. Mir, die so gering und ausgestoßen ist, wird das geoffenbart, aber keinem von den anderen, keinem von den Großen und Weisen und Weltklugen.«
Ihre Stimme wurde immer schriller. Wieder legte ihr die freundliche Frau die Hand aufs Knie. Ein Schaffner aber, der seine gewohnte Runde durch den Wagen machte, blieb stehen, um zu fragen, ob einer der Reisenden einen plötzlichen Anfall von Geisteskrankheit bekommen habe.
»Und alles, was ich gesehen und erfahren habe, das hab' ich mit deutlichen Worten niedergeschrieben, und ich habe den Brief versiegelt und ihn an den König geschickt. In das große Schloß zu Stockholm ging ein Brief von der geringen Fabrikarbeiterin aus Stenbroträsk ab, von dieser Arbeiterin, der die Kinder auf der Straße nachlaufen, die sie herumhetzen, als seien sie Lappenhunde auf der Jagd nach der wilden Wölfin.
Und ich habe viele Tage lang auf die Antwort des Königs gewartet, aber von dem König ist keine Antwort gekommen. Und ich habe meinen Brief noch einmal geschrieben und ihn an die Zeitung geschickt, und die Zeitung hat ihn nicht gewollt, sondern sie hat ihn mir zurückgeschickt.
Und ich bin in große Angst geraten, weil mein Brief von ungeheurer Wichtigkeit ist. Denn ich weiß, wann der große Krieg zu Ende geht, und ich weiß, daß nach ihm die große Verwüstung der Natur und nach dieser Verwüstung der Natur das herrliche tausendjährige Reich kommen wird. Und ich weiß, daß ein Drittel aller Menschen in dem großen Krieg umkommen und ein Drittel bei der großen Verwüstung der Natur zugrunde gehen wird, aber das letzte Drittel wird in dem tausendjährigen Reich des Herrn leben.«
Diese mit gewaltiger Kraft hervorgestoßenen Worte drangen in die Herzen der Zuhörenden wie kalter Stahl. Es lief ihnen ein Schauder über den Rücken. Ein paar Jahre früher würde eine so seltsame Rede großen Spott hervorgerufen haben. Aber man lebte im ersten Jahre des Weltkrieges, man war voller Entsetzen und Erwartung, war keinen Tag sicher und fragte sich, was die Russen da droben bei Haparanda eigentlich vorhätten.
»Und das alles und noch vieles andere steht in meinem Brief an den König. Und ich hab' ihm geschrieben und ihm gesagt, wie er handeln solle, damit er und alle Schweden in der bevorstehenden Zeit Gottes Zorn entgehen und das Recht erlangen können, auch in Gottes tausendjährigem Reiche zu leben.
Aber ich habe Gott um Hilfe gebeten und ihn gefragt, wie mein Brief in die Welt hinauskommen solle, da niemand mir helfen will. Und Gott hat mir befohlen und gesagt, was ich zu tun habe, denn ich habe eine Sünde begangen, die erst gesühnt sein muß, ehe mein Brief hinausgehen und den Menschen vor Augen kommen darf. Um diese meine Sünde wieder gut zu machen, bin ich jetzt auf dem Weg nach dem Süden.«
Die Spannung in dem Wagenabteil hatte ihren Höhepunkt erreicht. Dieses Menschenkind behauptete, es wisse, was alle wissen wollten: wann der Krieg ein Ende nehmen werde. Sofort richtete jemand weiter hinten im Wagen die Frage an die junge Person: »Wann wird der Krieg zu Ende sein?« Und andere fielen mit ein: »Ja, wann ist er zu Ende? Wenn Sie es wissen, so sagen Sie es uns!«
Das Aufhören der schrecklichen Angst, die über der Menschheit lag, schien plötzlich in greifbarer Nähe zu sein. Man würde vielleicht bald noch einmal eine Zeit erleben, wo das Morden in der Welt draußen ein Ende nahm, wo man wieder das Recht hatte, an etwas anderes zu denken als an den Krieg, wo man nicht Tag und Nacht von dem Gedanken an trauernde alte Frauen, an verzweifelnde Flüchtlinge und an verschmachtende Gefangene verfolgt wurde.
Die Bauern dachten an die Tage, wo sie nicht mehr ihre Söhne und Knechte zur Bewachung der Neutralität hergeben müßten, die Kaufleute, die zu Anfang des Krieges glänzende Geschäfte gemacht hatten, jetzt aber von Warenknappheit bedroht waren, die Arbeiter, denen die kommende Teuerung und der Mangel an Lebensmitteln immer drohender näherrückte, sie alle fragten wie aus einem Munde: »Wann hört das auf? Wann wird dieses Elend ein Ende nehmen?«
Diese Wirkung ihrer Rede schien die Hellseherin aus Stenbroträsk nicht erwartet zu haben.
»Das hab' ich in meinem Brief niedergeschrieben!« rief sie. »Es wird veröffentlicht, sobald ich meine Schuld gesühnt habe, dann läßt Gott meinen Brief in die Welt hinausgehen.«
In dem Eisenbahnwagen war eine deutliche Abnahme der Teilnahme zu spüren. Diese Person da wußte ebensowenig wie alle anderen. Man setzte sich wieder.
Dem Schluß ihrer Rede, den paar Worten, die sie dann noch sprach, lauschte kaum noch jemand, ausgenommen die freundliche Frau, die das Gespräch begonnen hatte.
»Und ich habe keine andere Zeit zum Schreiben als die Nacht,« sagte die junge Arbeiterin, »die Nacht, wenn ich mit der Arbeit fertig bin, und wenn meine Finger steif und müde sind, und die schwedische Sprache ist mir nicht geläufig. Sie ist anders als die Sprache, die wir untereinander sprechen. Ich werde sehr müde vom Schreiben.
Und ich lebe in sehr traurigen Verhältnissen,« fuhr sie fort. »Ich bin arm, krank und einsam, und ich hab' eine Wohnung, mit der sich niemand anderes begnügen würde, und es graut mir vor alledem, was geschehen wird.«
Sie hatte recht gut gemerkt, wie die Teilnahme an ihren Worten verschwunden war. Ihre Stimme wurde leiser, und es kam etwas Träumerisches über sie; zuletzt sprach sie bloß noch flüsternd und mit gesenkten Blicken. Nur die ihr zunächst Sitzenden konnten die Worte noch verstehen.
»Aber ich bitte Gott, er möge mein Leben verschonen und mich in die geläuterte Schar aufnehmen. Ich bitte ihn, er möge mich zu dem letzten Drittel zählen und mich, die dazu ausersehen war, das Kommen seines tausendjährigen Reiches unter großem Hohn zu verkündigen, auch in diesem Reich leben und unter den Auserwählten sein lassen, die diese Erde in Gerechtigkeit erstrahlen sehen werden.«