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Sven Elversson, der Mann, der von den beiden Alten auf der Grimö als Sohn aufgenommen worden war, saß in der Kirche zu Applum und dankte Gott, weil er ihn eine Freistatt hatte finden lassen, wo er nicht mit Ekel und Widerwillen betrachtet wurde.
Auf der einsamen, unfruchtbaren kleinen Felseninsel mit ihren beiden Bewohnern brauchte er nicht zu fürchten, jenem Herunterziehen der Mundwinkel zu begegnen, das Ekel bedeutet. Der Vater war alt, er fühlte keinen Widerwillen, weil er schon alle starken Gefühle für Lust oder Unlust verloren hatte. Die Mutter hatte allerdings noch ihre ganze Gefühlsfähigkeit, aber sie liebte ihn.
Die Kirche, in der Sven Elversson saß, war eine alte Holzkirche, deren Decke mit einem großen Gemälde des Jüngsten Gerichtes geschmückt war. So oft Sven aufschaute, fiel sein Blick unvermeidlich auf einen großen schwarzen, grinsenden Teufel, der große Holzscheite ins Feuer schob, in dem ein Haufen Sünder in einer gelben brodelnden Brühe kochte. Sven Elversson erkannte diesen Teufel von damals, wo er vor siebzehn Jahren zum letztenmal in dieser Kirche gesessen hatte, wohl wieder. Was ihm diesen Teufel unvergeßlich gemacht hatte, war ein langer, an seinem Ende dreifach gespaltener Schwanz, den dieser Teufel beständig zum Umrühren in seinem Suppenkessel benützte.
Als Kind hatte Svens Phantasie sich oft mit diesem Meisterkoch, der mit so großer Geschicklichkeit gleichzeitig sein Feuer und seinen Kessel versorgte, beschäftigt. Jetzt dachte er nur: »Wenn alle die, so jeden Sonntag hier sitzen und diesen lustigen, die Sünder kochenden Geist des Abgrundes betrachten, auf einmal erfahren würden, daß sich mitten unter ihnen ein Mensch befindet, der wirklich einen Bissen Menschenfleisch zwischen seinen Lippen gehabt hat, würden sie es kaum über sich gewinnen, mich hier in der Kirche zu dulden.«
»Eines ist sicher,« dachte er weiter, »ich weiß kaum, ob es außer diesem Einen noch irgend etwas gibt, was zivilisierte Menschen nicht begehen können. Sie morden, sie brechen die Ehe, sie stehlen, sie verüben Grausamkeiten, sie halten sich nicht für zu gut für Völlerei, für Vergewaltigung, Verräterei, Spionage. All dies wird täglich getan. Eine aber von den alten Sünden der Menschheit wird von zivilisierten Menschen nicht mehr begangen. Sie kann nicht mehr begangen werden, weil sie Ekel erregt. Und diese Sünde hab' ich jedenfalls begangen. Ich werde mehr verabscheut als der Teufel.«
Die einzige Person in der Kirche, die bis jetzt außer den Eltern die Veranlassung zu Sven Elverssons Rückkehr kannte, war der Pfarrer. Aber dieser hatte ihn am vorhergehenden Sonntag gut aufgenommen, er hatte sich verständnisvoll gezeigt, mit seinem Vater gesprochen, ihn selbst auf die Insel begleitet, sich darüber gefreut, als die Mutter ihn liebevoll aufnahm, und es gebilligt, daß er bei den Eltern daheimbleiben wollte. In allem hatte er sich als ein duldsamer, edelmütiger Mann gezeigt.
Jetzt, an diesem Sonntag, als der Pfarrer in die Kirche trat und Sven Elversson, den Mann von dem Hungerlager auf der Insel Melville mitten unter den anderen Leuten in der Kirche sitzen sah, stieg ihm plötzlich ein erstickendes Gefühl im Hals auf.
Er hatte Sven geholfen und beigestanden und sich gefreut, zu der Wiedervereinigung mit den Eltern beitragen zu können, einem Armen eine Freistatt zu verschaffen, der so viel hatte leiden müssen für etwas, zu dem er gezwungen worden war, einem Unglücklichen, der andernfalls vielleicht Selbstmord begangen hätte. Aber daß er ihn in der Kirche sehen würde, daran hatte er allerdings nicht gedacht.
»In meinem Haus,« dachte er, »nein, in meinem Haus hätte ich nicht gezögert, ihn bei mir aufzunehmen, aber dies hier kann ich nicht ertragen. Er hat nun einmal Menschenfleisch gegessen. Er hat etwas Heidnisches getan, etwas Verabscheuungswürdiges. Er hätte begreifen müssen, daß dies mehr ist, als ich ertragen kann.«
Im nächsten Augenblick strafte er sich selbst, klagte sich der Lieblosigkeit an, dachte daran, wie Jesus alle Sünder zu sich entboten hatte, rief sich das freundliche, anziehende Gesicht des armen Sünders ins Gedächtnis zurück und enthielt sich wirklich, wozu er zuerst geneigt gewesen war, den Mesner zu dem Mann hinzuschicken und ihn auffordern zu lassen, die Kirche zu verlassen. Er hielt die Liturgie und predigte wie gewöhnlich, konnte aber das Gefühl des Ekels nicht los werden.
Die Worte, die er aussprach, ballten sich ihm im Munde zusammen. Ein paarmal mußte er mitten in der Predigt innehalten, um zu kauen und zu schlucken, ehe er weiterreden konnte. Vor ihm zeigte sich der Auftritt, wie sich die ausgehungerten Menschen über den Leib des Selbstmörders hergemacht hatten.
Diesen ganzen Ekel würde er nicht empfunden haben, wenn der Mann nicht in die Kirche gekommen wäre, jetzt aber hatte ihn der Ekel in der Gewalt, und er fühlte sich ihm hilflos preisgegeben.
Der Pfarrer ballte die Fäuste gegen sich, drehte sich auf der Kanzel nach der Seite, wo er Sven Elversson nicht sehen konnte, predigte unentwegt weiter, zwang seine Gedanken, seinen Worten zu folgen, und dann war ihm plötzlich, als sei er seiner Verstimmung Herr geworden.
Aber nun kam in seiner heutigen Predigt eine Auseinandersetzung über die Notlüge vor.
Dies führte seine Gedanken zurück zu der Insel und zur der Notlüge, die Joel Elversson gebraucht hatte, um seiner Frau ihre eigentliche Gesinnung klarzumachen. Der Propst benutzte zur Veranschaulichung seiner Worte in seinen Predigten oft kleine Geschichten aus dem wirklichen Leben. Aber diese Geschichten wurden nie vorher niedergeschrieben wie die übrige Predigt, sondern er erzählte sie, wie sie ihm gerade in den Sinn kamen. Jetzt fiel ihm ein, daß das Erlebnis auf der Grimö vom vorigen Sonntag als erläuterndes Beispiel gebraucht werden könnte.
Er hatte vorher nicht daran gedacht, aber nun, im Eifer des Predigens, warf er sich auf diesen Stoff.
Als er schon mitten darin war, erhob sich ein warnender Gedanke in seinem Herzen.
»Ich hätte vielleicht nicht das Recht, diesen Fall vor der ganzen Gemeinde zu behandeln,« dachte er. Aber eigentlich habe ihn ja niemand gebeten, darüber zu schweigen, dachte er weiter. Immerhin wurde ihm sehr unbehaglich zumut, er versuchte die Geschichte zu ändern, konnte es aber nicht mehr, sondern alles kam heraus.
Und während er sich über sich selbst schämte, durchdrang ihn doch gleichzeitig eine unbändige Freude darüber, daß er diesen unreinen Geist, der sich in der Kirche zu zeigen gewagt hatte, niedertreten konnte.
»Du schauderhafter Wurm,« dachte er, »warum wolltest du dich in meines Gottes Haus zeigen?«
Der Ekel war's, den er hatte ersticken wollen. Nun hatte dieser auf einem Schleichweg Gewalt über ihn selbst bekommen.
Den ganzen Tag nachher war der Pfarrer unzufrieden mit sich. Er hatte sich nicht wie ein Mann aufgeführt, der Selbstbeherrschung übte, sondern wie ein Kind gehandelt, ja wie ein Wilder, der von seinem Instinkt regiert wird.
Er versuchte sich auszudenken, wie er das Geschehene ungeschehen machen könnte, fand jedoch durchaus keinen Ausweg. Nein, er mußte warten, bis sich eine besondere Veranlassung dazu bieten würde. Je mehr man die Sache jetzt aufrührte, desto schlimmer wurde sie.
Aber welche Macht, welche furchtbare Macht hat doch der Ekel, da er imstande war, auf diese Weise einen solchen Mann der Selbstbeherrschung zu berauben, während er in einer christlichen Kirche auf der Kanzel stand und mitten in einer christlichen Gemeinde eine erbauende und ermahnende Predigt hielt!
In dem Augenblick, wo der Pfarrer von der Kanzel herabgestiegen war, waren auch die Leute von der Grimö aus der Kirche verschwunden.
Als sie unbelästigt aus der Kirche herausgekommen waren, blieben sie unwillkürlich vor dem Tore stehen und sahen sich um.
Rings um die Kirche her breitete sich etwas aus, was man nur selten in der Bohusläner Gegend sieht, nämlich eine richtige flache, offene Ebene. Sie war gerade nicht übermäßig groß, aber auch nicht besonders klein. Nein, sie war nicht so groß, daß man sie nicht von einem Ende bis zum anderen hätte übersehen und mit Leichtigkeit beobachten können, was bei den Nachbarn vorging, aber doch auch wieder nicht so klein, daß nicht die Kirche nebst Pfarrhaus und ein paar Dutzend Bauernhöfen gut Raum darauf gehabt hätten.
Und rings um die Ebene her lief eine nicht gerade besonders niedere, aber doch auch nicht besonders hohe Bergwand. Sie war nicht so hoch, daß nicht der Nord- und Westwind hätten darüber hereinfegen können, aber doch auch nicht so nieder, daß sie anderwärts alle Aussicht nach den hohen Bergen und Gebirgen versperrt hätte.
Und auf der ganzen Ebene breitete sich Ackerfeld neben Ackerfeld aus. Aber sie waren weder klein noch groß, sondern gerade von passender Ausdehnung für die wohlhabenden Bauern. Und zwischen den Äckern lagen rote und blaue und weiße Gebäude. Auch diese waren von ziemlich gleicher, befriedigender Größe. Es waren keine Prunkhäuser, die die Nachbarhäuser in Schatten stellten, aber es waren auch keine armen Kätnerhütten, die die Nachbarhöfe schöner erscheinen lassen und deren Bewohner hochmütig machen.
Auch das Wachstum hätte man nicht für großartig erklären können, denn man sah keine Baummassen, weder als Wälder auf den Bergen noch als Gehölze auf der Ebene noch als Baumreihen die Wege entlang. Und doch konnte man nichts anderes sagen, als daß die Ebene fruchtbar und ergiebig war, denn sie lag jetzt eben in ihrer Herbstpracht vor den Augen der Beschauer da wie ein wogendes Meer von Getreide und Gras und Erbsen und Klee und Pferdebohnen.
Und ungefähr mitten auf der Ebene lag die Kirche, aus der die Familie Elversson vorhin, sozusagen, hinausgejagt worden war. Es war eine altmodische Holzkirche, und man konnte von ihr nicht sagen, sie sei häßlich, denn sie hatte einen kleinen aufstrebenden Turm, der die Gedanken zum Himmlischen hinauslenkte, aber man konnte auch nicht sagen, sie sei schön, denn sie hatte ein dunkles, schwerfälliges langes Schiff, das die Seele wieder ins Irdische herunterdrückte.
Und auf der Mauer, die die Kirche umgab, wanderte, während die drei davorstanden, eine graugesprenkelte Katze hin und her. Es war ein schönes Tier, gut getigert, mit einem dichten glänzenden Fell und weichen, angenehmen Bewegungen.
Aber nachdem die drei die Katze eine Weile betrachtet hatten, kam es ihnen vor, als habe die Art, wie sich die Glieder in dem weichen Fell bewegten, eigentlich etwas Garstiges. Es gefiel ihnen nicht, daß die Katze so lautlos daherkam, oder daß die grüngestreiften Augen, mit denen sie einen ansah, ganz verschleiert und ohne Ausdruck waren. Diese Katze, die sich so glatt und weich und spielerisch zeigte, während sie an nichts anderes dachte, als zu rauben und zu morden, war ihnen widerlich.
Und vor ihren Augen wuchs die Katze und streckte sich und wurde groß und richtete sich hoch auf, bis sie die Bergwand verbarg. Und immerfort, während sie so wuchs und größer wurde, spann sie und schnurrte, und machte behagliche spielerische Bewegungen, wurde aber dadurch nur immer widerwärtiger.
Und die drei vor der Kirche sahen, diese Katze war der Ekel, der jetzt hervorgerufen worden war und der wachsen und sich auf der ganzen Ebene ausbreiten würde und nirgends ein besseres Wachstum finden könnte, als hier zwischen all dem Gleichmäßigen und gleich Großen und Engen und Begrenzten.
Da drehte sich Mutter Natalie Elversson nach der Kirche um, kratzte mit ihrem Fingernagel ein paar kleine Spreißel von der rotangestrichenen Holzwand heraus und legte sie zwischen die Blätter ihres Gesangbuches.
»Ja, in dieser Kirche,« sagte sie, »hat man mich als ein siebentägiges Kind getauft, hier wurde ich als fünfzehnjähriges Mägdlein konfirmiert, hier bin ich auch getraut worden, und hier wird man mich wohl auch begraben, aber bis dahin will ich hier nichts wieder zu schaffen haben, bevor die Schmach, die mir heute angetan worden ist, ausgelöscht ist.«