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Es ist etwas Wunderschönes ums Heimkommen. Solange man noch auf der Reise ist, kann man sich gar nicht vorstellen, wie wunderschön es ist.
Wenn man nach Reggio an der Meerenge von Messina kommt und Sizilien wie ein Nebelland aus dem Meer auftauchen sieht, wird man zum erstenmal beinahe ärgerlich. »Ist es nichts weiter als das?« sagt man. »Das ist ja ein Land wie jedes andere!«
Und wenn man in Messina ans Land steigt, ist man noch immer ärgerlich. Es müßte irgend etwas geschehen sein, es müßte sich etwas ereignet haben, während man fort gewesen ist. Man sollte nicht wieder dieselbe Not, dieselben Lumpen, dasselbe Elend antreffen.
Man sieht wohl, daß der Frühling gekommen ist. Die Feigenbäume haben wieder Blätter, und die Weinstöcke treiben Ranken, die in wenigen Stunden ellenlang werden. Drunten am Hafen liegt eine Menge Erbsen und Bohnen auf Tischen zum Verkauf ausgebreitet. Richtet man seinen Blick auf die Höhen über der Stadt, dann sieht man, daß die grauen Kaktuspflanzen, die an den Felswänden emporklettern, mit feuerroten Blüten bedeckt sind. Überall sind diese aus den Pflanzen hervorgebrochen wie kleine leuchtende Flammen. Es ist, als seien die einzelnen Glieder mit Feuer gefüllt, das nun herausschlage.
Aber wie schön auch der Kaktus blüht, so ist er doch noch ebenso grau und staubig und mit Spinnenweben bekleidet wie von jeher. Und man sagt sich: Der Kaktus gleicht Sizilien. Wie oft der Frühling es auch zum Blühen bringt, es bleibt eben doch immer das Land der grauen Armut.
Man kann nicht begreifen, daß alles so still daliegt und ganz unverändert ist. Scylla und Charybdis müßten brausen wie in früheren Zeiten. Der steinerne Riese im Tempel von Girgenti müßte sich aufgerichtet haben mit ungebrochenen Gliedern, und der Tempel in Selinunt müßte aus seinen Trümmern erstanden sein. Ganz Sizilien müßte erwacht sein.
Wenn man dann von Messina weiter die Küste entlangreist, wird man immer ärgerlicher. Man sieht, daß die Bauern noch immer mit hölzernen Pflügen ihre Äcker bestellen, und daß ihre Pferde noch ebenso mager und elend und abgerackert sind.
Ja, alles ist noch beim alten. Der Sonnenschein fällt auf die Erde herab wie ein vielfarbiger Regen, die Pelargonien blühen am Wegrand, das Meer schimmert im weichen Lichtblau und schmiegt sich kosend an die Küste.
Schroffe Berge mit kühnen Felsengipfeln ragen längs der Küste auf. Die schneebedeckte Ätnaspitze schimmert in der Ferne.
Und da fühlt man, daß etwas Wunderbares auf einen eindringt. Nun ist man nicht mehr ungeduldig, sondern man freut sich über die blühenden Wiesen, über die Blütenfülle der Berge und über das Meer.
Man fühlt sich dieser schönen Erde zurückgegeben als ihr verlorengegangenes und wiedergefundenes Eigentum.
Endlich kommt man in die Nähe der wirklichen Heimat, der Kinderheimat. Was hat man nicht für sündige Gedanken gehabt, solange man fort war! Nie wollte man diese erbärmliche Heimat wiedersehen, weil man dort so viel gelitten hat. Und dann sieht man die alte Bergstadt in der Ferne auftauchen, und sie steht so unschuldig und lachend da und ist sich offenbar keiner Schuld bewußt. Komm und liebe mich wieder! sagt sie. Und man kann nicht anders als froh und dankbar sein.
Ach, und wenn man den Zickzackweg zum Stadttor hinaufsteigt! Der dünne Schatten der Olivenbäume fällt über einen. Sollte das nicht eine Liebkosung sein? Eine kleine Eidechse huscht über eine Mauer hin. Man muß stehenbleiben und sie betrachten. Könnte nicht diese Eidechse ein Freund aus der Kindheit sein, der guten Tag sagen will?
Plötzlich erschrickt man. Das Herz beginnt heftig zu klopfen und zu hämmern. Es fällt einem ein, daß man nicht weiß, was man erfahren wird, wenn man nun heimkommt. Man hat nicht geschrieben und also auch keinen Brief empfangen. Alles, was an die Heimat erinnerte, hatte man auslöschen wollen. Man hielt dies für das klügste, weil man ja nicht wieder heimzukommen glaubte. Und bis zu diesem Augenblick war das Heimatgefühl auch ganz tot und erstorben.
Aber nun mit einem Male weiß man nicht, wie man es ertragen könnte, wenn hier auf dem heimatlichen Berge nicht mehr alles so wäre wie früher. Das Herz würde einem bitter wehtun, wenn eine einzige Palme auf dem Monte Chiaro eingegangen oder ein einziger Stein aus der Stadtmauer herausgefallen wäre.
Ob wohl die große Agave noch auf ihrem Felsenvorsprung steht? Nein, die Agave steht nicht mehr da. Sie hat geblüht und ist abgeschnitten worden. Und die Steinbank dort, wo der Weg eine Biegung macht, ist zerbrochen. Diese Bank wird man vermissen, es ruhte sich so schön dort. Und seht, dort drüben auf dem grünen Platz unter dem Mandelbaum ist ein Schuppen gebaut worden! Nun kann man sich dort nicht mehr in dem duftenden Klee ausstrecken.
Man fürchtet sich vor jedem weiteren Schritt. Was wird man wohl jetzt entdecken?
So wehmütig erregt ist man, daß man in Tränen ausbrechen würde, wenn man erführe, daß auch nur ein altes Bettelweib gestorben wäre, solange man weg war. Nein, man ahnte nicht, daß das Heimkommen etwas so Merkwürdiges sei.
Erst vor wenigen Wochen kam man aus dem Gefängnis heraus, und die Stumpfheit des Gefängnisses hielt einen noch gefangen. Man wußte ja nicht einmal, ob man überhaupt die alte Heimat aufsuchen sollte. Die Geliebte ist tot; es wäre zu schrecklich, seinen Schmerz wieder aus dem Grab herauszuholen. So trieb man sich unentschlossen umher und ließ einen Tag nach dem andern vergehen. Endlich faßte man sich ein Herz. Man mußte ja doch heim zu seiner alten Mutter.
Und wenn man dann wirklich da ist, merkt man, daß man sich nach jedem Stein, nach jedem Grashälmchen gesehnt hat.
*
Von dem Augenblick an, wo er in den Laden getreten war, dachte Donna Elisa:
»Nun muß ich mit ihm von Micaela sprechen. Er weiß ja vielleicht noch gar nicht, daß sie lebt.«
Aber sie schiebt die Mitteilung von einer Minute zur andern auf, und zwar nicht allein, weil sie ihn eine Weile für sich allein haben möchte, sondern auch, weil sie weiß, daß die Liebesqual und das Elend beginnen werden, sobald sie Micaelas Namen nennt. Denn Micaela will ihn durchaus nicht heiraten, das hat sie Donna Elisa tausendmal gesagt. Sie wollte ihn aus dem Gefängnis befreien, aber sie will nicht die Gattin eines Freidenkers werden.
Nur eine halbe Stunde möchte Donna Elisa Gaetano für sich behalten, nur eine einzige halbe Stunde.
Aber so viel Zeit gönnt man ihr wohl nicht, so lange darf sie nicht neben ihm sitzen, seine Hand in der ihrigen halten und tausend Fragen an ihn stellen, denn die Nachricht seiner Rückkehr hat sich schon unter dem Volk verbreitet. Auf einmal ist die ganze Straße voller Menschen, die Gaetano sehen wollen. Donna Elisa hat die Tür verriegelt, denn sie wußte ja, sobald er entdeckt war, durfte sie ihn nicht einen Augenblick mehr in Frieden für sich behalten. Aber das Verriegeln hilft nicht viel, die Leute klopfen an die Scheiben, sie rütteln an der Tür.
»Don Gaetano!« rufen sie. »Don Gaetano!«
Gaetano tritt lachend auf die Stufen vor dem Haus. Sie schwingen die Mützen und die Hüte, und Hochrufe ertönen. Er springt die Treppe hinunter unter die Menge und umarmt einen nach dem andern.
Aber das wollen sie nicht! Sie wollen, er soll auf der Treppe stehen und eine Rede halten. Er soll ihnen erzählen, wie schrecklich die Regierung ihn behandelt hat, und wieviel Böses er im Gefängnis erdulden mußte.
Noch immer lachend steigt Gaetano die Stufen empor. »Das Gefängnis«, sagt er, »davon ist nicht viel zu sagen. Ich bekam jeden Mittag meine Suppe, und das ist mehr, als mancher von euch von sich behaupten kann.«
Der kleine Gandolfo schwingt seine Mütze und ruft ihm zu: »Jetzt gibt es viel mehr Sozialisten in Diamante als bei Eurem Weggehen, Don Gaetano!«
»Wie könnte es anders sein?« erwidert Gaetano lachend. »Alle Menschen müssen Sozialisten werden. Ist vielleicht der Sozialismus etwas Böses und Schreckliches? Der Sozialismus ist das friedliche Bild der eigenen Heimat und der frohen Arbeit, von dem jeder Mensch von seiner Kindheit an träumt. Eine ganze Welt voller ...«
Er bricht mitten im Satz ab, denn er hat zufällig einen Blick auf den Sommerpalast geworfen. Da steht Donna Micaela auf einem Balkon und sieht ihn an.
Er glaubt keinen Augenblick, daß es eine Sinnestäuschung oder ein Gespenst sei. Er sieht sogleich, daß sie wirklich und leibhaftig dort steht. Aber gerade darum ... und dann auch, weil das Gefängnis ihm alle Kräfte geraubt hat und er nicht für gesund gelten kann ...
Er schämt sich schrecklich, daß er sich nicht aufrechthalten kann. Er greift mit den Händen in die Luft, versucht sich an dem Türpfosten zu halten, aber es hilft nichts. Alles dreht sich vor ihm im Kreise, die Beine versagen den Dienst, er gleitet die Stufen hinab und schlägt mit dem Kopf hart auf einen Stein auf.
Da liegt er nun wie tot.
Die Umstehenden stürzen herbei, sie tragen ihn hinein, laufen nach dem Feldscher und Doktor, ordnen allerlei Mittel an, sprechen durcheinander und schlagen tausenderlei vor, was ihm helfen könnte.
Donna Elisa und Pacifica gelingt es schließlich, ihn in ein Schlafzimmer hineinzubringen. Luca treibt die Leute hinaus und pflanzt sich vor der verschlossenen Tür auf. Donna Micaela, die mit den anderen hereingekommen ist, hat er vor allen anderen an der Hand genommen und hinausgeführt. Sie durfte am allerwenigsten drinnen bleiben. Luca hat ja selbst gesehen, daß Gaetano wie vom Schlage getroffen umfiel, sobald er sie erblickte.
Dann kommt der Doktor und macht einen Versuch und den andern, Gaetano ins Leben zurückzurufen. Es gelingt ihm nicht, Gaetano liegt noch immer wie tot da. Der Doktor meint, er habe sich den Kopf beim Fallen schwer verletzt, und zweifelt, ob es ihm gelingen werde, ihn wieder ins Leben zurückzurufen. Die Ohnmacht an und für sich hätte ja nichts zu bedeuten gehabt, aber dieser Stoß gegen die scharfe Kante der steinernen Stufen ...
Drinnen im Hause herrscht große Geschäftigkeit. Die Ärmsten aber, die draußen stehen, können nichts weiter tun als lauschen und warten.
Sie stehen den ganzen Tag vor Donna Elisas Tür. Da stehen Donna Concetta und Donna Emilia. Zwischen den beiden herrschte früher keine sonderliche Freundschaft, aber heute halten sie einander bei der Hand und weinen.
Viele ängstliche Augen spähen durchs Fenster in Donna Elisas Haus hinein. Der kleine Gandolfo und die alte Assunta von der Domtreppe und der arme Stuhlmacher stehen den ganzen Nachmittag da, ohne müde zu werden. Es wäre zu schrecklich, wenn Geatano jetzt sterben würde, nachdem sie ihn eben wiederbekommen hätten.
Die Blinden stehen da und harren, als hätten sie erwartet, daß er ihnen das Augenlicht wiedergeben werde, und arme Leute, sowohl von Corvaja als von Geraci, stehen da, um zu erfahren, wie es ihrem jungen Herrn, dem letzten Alagona, geht. Er meinte es gut mit ihnen, und er war einer von denen, die etwas ausrichten. Wenn er am Leben blieb ...
»Gott hat seine Hand von Sizilien abgezogen«, sagen sie. »Alle, die dem Volk helfen wollen, läßt er zugrunde gehen.«
Den ganzen Nachmittag und Abend, selbst bis gegen Mitternacht steht die Menge wartend vor Donna Elisas Tür.
Präzis um Mitternacht öffnet Donna Elisa die Ladentür und tritt auf die Stufen heraus. »Geht es besser?« rufen ihr alle entgegen.
»Nein, es geht nicht besser.«
Da wird es ganz still ringsum; schließlich fragt eine einzelne zitternde Stimme:
»Ist es schlimmer?«
»Nein, nein, es ist auch nicht schlimmer, sondern immer ganz gleich. Der Doktor ist bei ihm.«
Donna Elisa hat ein schwarzes Tuch übergeworfen und trägt eine Laterne in der Hand. Sie steigt die Stufen herunter auf die Straße, wo die Leute dicht aneinandergedrängt sitzen und liegen.
Langsam bahnt sie sich einen Weg.
»Ist Gandolfo hier?« fragt sie.
»Ja, Donna Elisa.« Und Gandolfo tritt zu ihr.
»Komm mit mir und schließe mir deine Kirche auf.«
Alle, die Donna Elisa dies sagen hören, wissen gleich, daß sie zum Christusbild in San Pasquale hinausgehen will, um für Gaetano zu beten. Sie stehen auf und wollen auch mit ihr gehen.
Donna Elisa ist gerührt über die tiefe Teilnahme. Ihr Herz öffnet sich weit.
»Ich will euch etwas erzählen«, sagt sie, und ihre Stimme zittert heftig. »Ich habe einen Traum gehabt. Ich weiß zwar noch nicht, wie es möglich war, daß ich in dieser Nacht einschlafen konnte. Aber während ich voller Angst und Sorge an seinem Lager saß, schlief ich ein. Kaum war ich eingeschlafen, da sah ich das Christuskind vor mir mit seiner Krone und in seinen goldenen Schuhen, gerade wie es draußen in San Pasquale steht. Und es sagte zu mir: ›Mache das arme Weib, das draußen in meiner Kirche betend auf den Knien liegt, zu deiner Schwiegertochter, dann wird Gaetano genesen.‹ Sobald es dies gesagt hatte, erwachte ich, und als ich die Augen öffnete, war es mir, als sehe ich das Christusbild eben durch die Wand verschwinden. Jetzt gehe ich hinaus, um zu sehen, ob jemand dort ist.
Und nun vernehmt es alle, die ihr hier seid, wenn ein Weib draußen in San Pasquale ist, gelobe ich, zu tun, was das Bild befohlen hat. Und wenn es die ärmste Dirne von der Straße wäre, werde ich mich ihrer annehmen und sie zu meiner Schwiegertochter machen.«
Nachdem Donna Elisa dies gesagt hat, gehen sie und alle, die auf der Straße gewartet haben, nach San Pasquale hinaus. Alle die armen Leute sind in fieberhafter Spannung. Sie können es kaum lassen, an Donna Elisa vorbeizustürmen, um zu sehen, ob jemand in der Kirche ist.
Denkt euch, wenn es ein Zigeunermädchen wäre, das während der Nacht dort Schutz gesucht hätte! Wer anders könnte bei Nacht in der Kirche sein, als ein armes heimatloses Ding? Donna Elisa hat da ein sehr gefährliches Gelübde abgelegt.
Endlich sind sie an der Porta Ätna angekommen, und nun geht es schnell den Berg hinunter. Lieber Gott! die Kirchentür steht offen. Es ist also wirklich jemand drinnen! Die Laterne zittert in Donna Elisas Hand. Gandolfo will sie ihr abnehmen, aber sie hält sie fest.
»In Gottes Namen! In Gottes Namen!« murmelt sie, und tritt in die Kirche.
Die Leute drängen sich hinter ihr hinein, man erdrückt sich beinahe unter der Tür, aber die Spannung hält alle in tiefem Schweigen. Niemand sagt ein Wort. Alle schauen nach dem Hochaltar. Ist jemand dort? Die kleine Hängelampe über dem Bild leuchtet aber auch erbärmlich! Ist jemand da?
Ja, es ist jemand da. Dort vorne ist ein Weib. Sie liegt betend auf den Knien, mit so tief gebeugtem Kopf, daß man nicht sehen kann, wer es ist. Aber jetzt, als sie Schritte hinter sich hört, hebt sie den schlanken gebeugten Nacken und schaut auf – es ist Donna Micaela.
Sie erschrickt zuerst und fährt auf, als wolle sie fliehen. Donna Elisa erschrickt auch, und sie sehen einander an, wie wenn sie sich noch nie gesehen hätten. Aber dann sagt Donna Micaela ganz leise:
»Du kommst, um für ihn zu beten, Schwägerin?«
Und man sieht, wie sie ein wenig wegrückt, damit Donna Elisa dem Bild gerade gegenüber Platz habe.
Donna Elisas Hand zittert so, daß sie die Laterne auf den Boden stellen muß, und ihre Stimme ist ganz heiser, als sie sagt:
»Ist außer dir heute nacht niemand hier gewesen, Micaela?«
»Nein, niemand.«
Donna Elisa faßt nach der Wand, um nicht zu fallen. Donna Micaela sieht es, und sogleich ist sie bei ihr und legt ihren Arm um sie.
»Setz dich, setz dich«, sagt sie.
Sie führt sie zu den Altarstufen und kniet vor ihr nieder. »Steht es so schlecht mit ihm? Sollen wir für ihn beten?«
»Micaela«, sagt Donna Elisa, »ich glaubte, es solle mir hier geholfen werden.«
»Ja, du wirst sehen, daß es auch so sein wird.«
»Ich hatte einen Traum, und im Traum kam das Bild zu mir und sagte zu mir, ich solle hierhergehen.«
»Es hat uns ja auch schon oft geholfen.«
»Aber dann sagte es zu mir: ›Mach die arme Frau, die da draußen vor dem Altar liegt, zu deiner Schwiegertochter, dann wird dein Sohn gesund werden.‹«
»Was sagst du, daß es gesagt habe?«
»Ich solle die, die hier draußen liege und bete, zu meiner Schwiegertochter machen.«
»Und das wolltest du? Du wußtest ja nicht, wen du hier treffen könntest.«
»Auf dem Weg hierher tat ich das Gelübde – und die, die mir gefolgt sind, haben es gehört –, daß ich sie – wer sie auch sein möge – in die Arme nehmen und in mein Haus führen wolle.
Ich dachte, es sei irgendein armes Weib, dem Gott helfen wolle.«
»Daß ist ja auch der Fall.«
»Ich wurde sehr betrübt, als ich sah, daß außer dir niemand hier war.«
Donna Micaela gibt keine Antwort; sie schaut das Bild an. »Willst du es? Willst du es?« flüstert sie angstvoll.
Donna Elisa fuhr fort zu klagen: »Ich sah das Bild ganz deutlich, und es hat mich noch nie betrogen. Ich dachte, irgendein armes Mädchen, das keine Mitgift habe, werde hier um einen Mann beten. Dergleichen ist ja schon vorgekommen. Was soll ich nun tun?«
Sie stöhnt und klagt. Sie kann den Gedanken nicht loswerden, daß es ein armes Weib sein sollte. Donna Micaela wird ärgerlich. Sie ergreift die andere beim Arm und schüttelt sie. »Aber Donna Elisa, Donna Elisa!«
Donna Elisa hört nicht auf Donna Micaela. Sie fährt fort zu jammern. »Was soll ich tun? Was soll ich tun?«
»Nun, so mach doch das arme Weib, das hier betete, zu deiner Schwiegertochter, Donna Elisa.«
Donna Elisa sieht auf. Was für ein Gesicht schaut ihr entgegen? So bezaubernd, so liebreizend, so lächelnd! Aber sie bekommt es nur einen Augenblick zu sehen. Donna Micaela verbirgt es sogleich in Donna Elisas altem schwarzen Kleid.
*
Donna Micaela und Donna Elisa gehen zusammen in die Stadt zurück. Die Gasse macht eine Biegung, so daß sie Donna Elisas Haus nicht sehen können, bis sie ganz dicht davor sind. Als es endlich in ihren Gesichtskreis kommt, sehen sie, daß die Ladenfenster erleuchtet sind. Vier mächtige Wachslichter brennen hinter den Rosenkranzgirlanden.
Die beiden Frauen drücken einander die Hand.
»Er lebt!« flüstert die eine der andern zu. »Er lebt!«
»Du darfst ihm nicht sagen, was das Bild dir zu tun befahl«, sagt Donna Micaela zu Donna Elisa.
Vor dem Laden umarmen sie sich, und dann geht jede in ihr eigenes Haus.
Kurz nachher tritt Gaetano auf die Ladenstufen heraus. Er bleibt einen Augenblick stehen und atmet die frische Nachtluft in vollen Zügen ein. Da sieht er, daß in dem dunklen Palast gegenüber Lichter angezündet werden.
Gaetanos Atem geht schnell und keuchend. Es hat fast den Anschein, als fürchte er sich, weiterzugehen. Plötzlich stürzt er davon, wie jemand, der einem unvermeidlichen Unglück entgegengeht. Er findet das Tor des Sommerpalastes unverschlossen, ist mit zwei Sätzen oben an der Treppe und reißt die Tür zum Musiksaal auf, ohne anzuklopfen.
Donna Micaela überlegt eben, ob er wohl noch heute nacht oder erst morgen kommen werde. Da hört sie Schritte auf der Galerie. Entsetzen ergreift sie. Wie wird er nun sein? Sie hat sich so unaussprechlich nach ihm gesehnt. Wird er nun wirklich so sein, daß all ihre Sehnsucht gestillt wird?
Und werden sich keine Mauern mehr zwischen ihnen aufrichten? Werden sie einander nun endlich einmal alles sagen können? Werden sie von Liebe sprechen und nicht von Sozialismus?
Als er die Tür öffnet, versucht sie, ihm entgegenzugehen, aber sie vermag es nicht. Sie zittert am ganzen Körper. Sie setzt sich und bedeckt die Augen mit der Hand.
Sie wartet darauf, daß er sie umarmen und küssen würde, aber er tut es natürlich nicht. Gaetano hat nicht die Gewohnheit, das zu tun, was von ihm erwartet wird.
Sobald er wieder stehen und gehen konnte, hatte er seine Kleider übergeworfen, um zu ihr zu eilen.
Er möchte eigentlich jauchzen vor Glück, als er nun zu ihr kommt. Er hätte gewünscht, daß auch sie es leicht nähme. Er will nicht gerührt werden. Er war ja am Vormittag dadurch ohnmächtig geworden; er konnte ja noch nichts ertragen.
Er bleibt neben ihr stehen, bis sie ihre Ruhe wiedergewonnen hat.
»Ihr habt schwache Nerven«, sagt er.
Das ist wirklich alles, was er sagt.
Sie und Donna Elisa und alle Leute unten auf der Straße sind überzeugt, daß er sie sogleich in seine Arme schließen und ihr sagen werde, daß er sie liebe. Aber gerade deshalb ist es Gaetano unmöglich. Manche Menschen sind so merkwürdig. Es liegt in ihrer Natur; sie können das nicht tun, was sie sollen.
Gaetano fängt an, von seiner Reise zu erzählen. Er spricht nicht einmal vom Sozialismus, sondern von Schnellzügen, von Eisenbahnschaffnern und sonderbaren Reisegefährten. Donna Micaela sieht ihn an; ihre Augen flehen immer heißer. Gaetano scheint froh und glücklich über das Wiedersehen zu sein. Aber warum kann er ihr nicht sagen, was er sagen soll?
»Seid Ihr auf der Ätnabahn gefahren?« fragt sie.
»Ja«, antwortet er und beginnt dann, ungezwungen von der Schönheit und dem Nutzen der Bahn zu reden. Er weiß nicht einmal, wie sie entstanden ist.
Gaetano sagt sich, daß er ein Unmensch sei. Warum spricht er das Wort nicht aus, nach dem sie sich sehnt? Aber warum sitzt sie auch so untertänig da? Warum zeigt sie ihm, daß er nur die Hand auszustrecken braucht, um sie zu bekommen? Er ist übermütig, jubelnd glücklich, daß er ihr nahe sein darf, aber sie ist ihm so gewiß, so sicher ... Es macht ihm Vergnügen, sie zu quälen.
Aber die Leute von Diamante stehen noch immer unten auf der Straße. Und alle sind so von Freude erfüllt, als sei es ihre Tochter, die heiraten soll. Bis jetzt haben sie sich zur Ruhe gezwungen, um Gaetano Zeit zu lassen, sich zu erklären. Nun endlich wird es wohl geschehen sein. Und sie rufen: »Hoch Gaetano! Hoch Micaela!«
Mit unbeschreiblicher Angst schaut Donna Micaela auf. Er wird doch hoffentlich verstehen, daß sie dafür nichts kann.
Sie geht auf die Galerie hinaus und schickt Lucia hinunter, um die Leute zum Schweigen zu bringen.
Als Donna Micaela wieder eintritt, ist Gaetano aufgestanden. Er reicht ihr die Hand; er will gehen.
Donna Micaela legt ihre Hand in die seinige, fast ohne zu wissen, was sie tut. Aber dann zieht sie sie zurück. »Nein, nein«, sagt sie.
Er will gehen – wer weiß, ob er morgen wiederkommt? Und sie hat nicht mit ihm gesprochen, sie hat ihm kein Wort gesagt von all dem, was ihr Herz erfüllt.
Es waren doch sicherlich zwischen ihnen nicht die Förmlichkeiten nötig wie bei anderen Liebenden. Dieser Mann hatte ja ihrem Leben seit vielen Jahren alle Fähigkeit zu leben gegeben; ob er nun von Liebe mit ihr sprach oder nicht, das war gleichgültig. Sie wird ihm doch sagen, was er ihr gewesen ist. Man muß die Zeit nützen, wenn es sich um Gaetano handelt.
»Ihr dürft noch nicht gehen«, sagt sie. »Ich muß Euch etwas sagen.«
Sie schiebt ihm einen Stuhl hin und setzt sich selbst ein klein wenig weiter zurück. Seine Augen sehen heute abend zu glücklich aus, sie stören sie.
Dann beginnt sie zu sprechen. Sie offenbart ihm die großen geheimen Schätze ihres Lebens. Es sind alle die Worte, die er je zu ihr gesagt hat, alle die Träume, die sich um ihn gedreht haben. Nichts davon ist verlorengegangen; sie hat alles gesammelt und aufgehoben. Es war der ganze Reichtum ihres armen Lebens gewesen.
Im Anfang spricht sie hastig und schnell, als ob sie etwas Auswendiggelerntes hersage. Sie fürchtet sich vor ihm, sie weiß nicht, ob es ihm recht ist, daß sie spricht. Er ist jetzt ernst, gar nicht mehr boshaft. Er sitzt ganz still da und lauscht, als wolle er kein Wort davon verlieren. Noch eben war sein Gesicht krankhaft bleich, aber das ändert sich wie mit einem Schlage. Sein Gesicht beginnt zu leuchten, es ist wie verklärt.
Sie erzählt und erzählt. Sie sieht an seinem Ausdruck, daß auch sie nun schön ist. Wie könnte es auch anders sein? Sie darf sich ja endlich vor ihm aussprechen. Sie darf ihm sagen, wie die Liebe zu ihr gekommen war, diese Liebe, die sie seither nie mehr verlassen hat. Endlich darf sie ihm sagen, daß er alles für sie gewesen ist. Worte sind zu arm, um alles auszudrücken. Sie nimmt seine Hand und küßt sie.
Er läßt es geschehen, ohne sich zu rühren. Die Farbe seines Gesichts wird nicht lebhafter, aber sie wird lichter, durchsichtiger. Gandolfo fällt ihr ein, der damals gesagt hatte, Gaetanos Gesicht sei so weiß geworden, daß es geleuchtet habe.
Er unterbricht sie nicht. Sie erzählt ihm von der Eisenbahn, erzählt von einem Wunder nach dem andern. Er sieht sie bisweilen an. Seine Augen strahlen ihr entgegen. Er macht sich durchaus nicht über sie lustig. Sie möchte gerne wissen, was in seiner Seele vorgeht. Eigentlich sieht er aus, als ob alles, was sie erzählte, gar nichts Neues für ihn sei.
Er scheint alles zu wissen, was sie sagt. War es am Ende mit der Liebe, die er für sie hegte, genauso? War seine Liebe dieselbe wie die ihrige? Stand sie in Verbindung mit allem Edlen in ihm? War sie die erhebende Kraft in seinem Leben gewesen? Hatte sie seiner Kunst Schwingen verliehen? Hatte sie ihn gelehrt, die Armen und Unterdrückten zu lieben? Gewinnt sie nun wieder Macht über ihn? Läßt sie ihn fühlen, daß er ein Künstler, ein Apostel ist, daß nichts für ihn zu hoch ist?
Aber als er fortgesetzt schweigt, denkt sie, er wolle sich vielleicht nicht an sie binden. Er liebt sie, aber er will vielleicht ein freier Mann bleiben. Er sieht vielleicht ein, daß sie nicht zur Frau eines Sozialisten paßt.
Ihr Blut beginnt zu wallen. Sie denkt, er meine vielleicht, sie sitze hier und bettle um seine Liebe.
Sie hat ihm nun fast alles erzählt, was während seiner Abwesenheit geschehen ist. Nun bricht sie mitten in ihrer Erzählung ab. »Ich habe Euch geliebt«, sagt sie. »Ich werde Euch immer lieben, und ich glaube, es würde mir wohltun, wenn Ihr mir einmal sagtet, daß auch ihr mich liebt. Ich würde dann die Trennung leichter ertragen können.«
»Würdet Ihr?« fragt er.
»Kann ich Eure Gattin werden?« sagt sie, und ihre Stimme zittert vor Entrüstung. »Ich fürchte mich jetzt nicht mehr vor Euren Lehren, ich habe keine Angst mehr vor Euren Armen, ich möchte gerade wie Ihr die Welt umschaffen, ja genau wie Ihr. Aber ich bin gläubig. Wie kann ich mit Euch leben, wenn Ihr mir darin nicht folgen könnt? Oder vielleicht würdet Ihr mich zum Unglauben verlocken. Dann würde die Welt tot für mich sein. Alles würde seine Bedeutung, seinen Zweck verlieren. Ich würde bettelarm werden. Wir müssen uns trennen.«
»Wirklich?« er wendet sich zu ihr. Seine Augen blitzen vor Ungeduld.
»Jetzt müßt Ihr gehen«, sagt sie leise. »Ich habe Euch jetzt alles gesagt, was ich sagen wollte. Ich wünschte, auch Ihr hättet mir etwas zu sagen. Aber es ist vielleicht besser so, wie es ist. Wir wollen uns die Trennung nicht schwerer machen, als nötig ist.«
Gaetanos eine Hand erfaßt mit hartem Griff ihre beiden Hände, mit seiner anderen beugt er ihren Kopf zurück, und er küßt sie.
War sie wahnsinnig gewesen, als sie glaubte, es gebe irgend etwas auf der Welt, das sie jetzt noch trennen könnte?