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Man merkte bald in Diamante, daß Don Ferrantes Frau, Donna Micaela, nur ein Kind war. Sie mochte noch so sehr wie eine feine Weltdame aussehen, sie war trotzdem nichts weiter als ein Kind. Und mehr konnte man auch nach dem Leben, das sie bisher geführt hatte, nicht erwarten.
Von der Welt hatte sie nichts weiter gesehen als Theater, Museen, Ballsäle, Promenaden und Rennplätze, und das sind ja lauter Spielplätze. Sie war nie allein auf der Straße gegangen. Sie hatte nie gearbeitet. Man hatte nie ein ernstes Wort mit ihr gesprochen, ja, sie war nicht einmal in jemanden verliebt gewesen.
Als sie in den Sommerpalast einzog, vergaß sie ihre Sorgen ebenso froh und leicht, wie ein Kind es getan haben würde. Und es zeigte sich, daß sie auch den spielenden Sinn eines Kindes hatte und ihre ganze Umgebung verwandeln und umschaffen konnte.
Die alte schmutzige Sarazenenstadt Diamante erschien ihr wie ein Paradies. Sie sagte, sie sei gar nicht verwundert gewesen, als Don Ferrante sie damals auf dem Markt angesprochen und später um sie geworben hätte. Es sei ihr ganz natürlich vorgekommen, daß dergleichen in Diamante geschehe. Sie habe gleich gesehen, daß Diamante eine Stadt sei, wo reiche Männer nach armen unglücklichen Mädchen suchten, um sie zu Herrinnen ihrer schwarzen Lavapaläste zu machen.
Auch der Sommerpalast gefiel ihr. Die verblaßten hundertjährigen Musseline, womit die Möbel überzogen waren, erzählten ihr ganze Geschichten. Und sie fand einen tiefen Sinn in all den Liebesszenen, die sich zwischen den Hirten und Hirtinnen auf den Wandfeldern abspielten.
Sie hatte auch sogleich das Geheimnisvolle an Don Ferrante herausgefunden und sagte, er sei durchaus kein gewöhnlicher Krämer aus einer Winkelgasse. Er sei ein ehrgeiziger Mann, der Geld aufhäufe, um die Familiengüter auf dem Ätna und den Palast in Catania und das Schloß auf dem Gebirge wieder zurückzukaufen. Und wenn er ein Wams und eine Zipfelmütze trage wie ein Bauer, so geschehe das nur, um desto schneller wie ein spanischer Grande und ein Fürst von Sizilien auftreten zu können.
Seit seiner Verheiratung zog Don Ferrante jeden Abend einen Samtrock an, nahm eine Gitarre unter den Arm und stellte sich auf die Stufen der Tribüne im Musiksaal, um Kanzonen zu singen. Wenn er dann sang, träumte Donna Micaela, sie habe sich mit dem edelsten Mann des ganzen schönen Sizilien vermählt.
Als Donna Micaela ein paar Monate verheiratet war, wurde ihr Vater aus dem Gefängnis entlassen und wohnte von da an bei seiner Tochter im Sommerpalast. Es gefiel ihm in Diamante, und er wurde bald mit jedermann gut Freund. Er unterhielt sich gerne mit den Bienenzüchtern und den Weingärtnern, die er im Cafe Europa traf, und sein tägliches Vergnügen war, an den Ätnaabhängen umherzureiten, um Altertümer zu suchen.
Seiner Tochter aber hatte er noch immer nicht vergeben. Er wohnte allerdings unter ihrem Dach, aber er behandelte sie ganz wie eine Fremde und zeigte sich in keiner Weise liebevoll gegen sie. Donna Micaela ließ ihn gewähren und tat, als merke sie es gar nicht. Sie konnte seinen Zorn nicht mehr ernst nehmen. Dieser alte Mann, den sie liebte, glaubte, er könne sie Jahr für Jahr weiter hassen. Er glaubte, er könne in ihrer Nähe leben, sie sprechen hören, ihre Augen sehen, von ihrer Liebe umgeben sein und sie doch weiter hassen! Ach, er kannte weder seine Tochter noch sich selbst. Sie träumte oft davon, wie es sein würde, wenn er einmal erkennen mußte, daß er besiegt war, wenn er kommen und ihr zeigen mußte, daß er sie liebte.
Eines Tages stand Donna Micaela auf ihrem Balkon und winkte ihrem Vater zu, der eben auf einem kleinen dunkelbraunen Pony wegritt, als Don Ferrante aus seinem Laden heraufkam, um mit ihr zu reden. Was Don Ferrante ihr sagen wollte, war, daß es ihm gelungen sei, die Aufnahme ihres Vaters in die Brüderschaft des heiligen Herzens in Catania zu erreichen.
Aber obwohl Don Ferrante sehr deutlich sprach, schien ihn Donna Micaela doch nicht zu verstehen.
Er mußte ihr wiederholen, daß er gestern in Catania gewesen sei und daß es ihm da gelungen sei, dem Cavaliere Palmeri die Aufnahme in eine Brüderschaft zu verschaffen. In einem Monat könne er dort eintreten.
Donna Micaela fragte nur: »Was soll das heißen? Was soll das heißen?«
»Ach«, sagte Don Ferrante, »kann ich es nicht endlich leid sein, für deinen Vater teuren Wein vom Festland zu kaufen, und könnte ich nicht auch einmal selbst Lust haben, den Domenico zu reiten?« Als er das gesagt hatte, wollte er gehen. Es war ja nichts mehr darüber zu sagen.
»Aber so sag mir doch zuerst, was für eine Art Brüderschaft das ist?« sagte sie.
»Was für eine Brüderschaft? Nun, es wohnt eine Anzahl alter Männer dort.«
»Arme alte Männer?«
»Nun ja, reiche gerade nicht.«
»Sie haben wohl keine eigenen Zimmer?«
»Nein, aber sehr große Schlafsäle.«
»Und sie essen aus Blechschüsseln an einem Tisch ohne Tischtuch?«
»Nein, die Schüsseln sind aus Porzellan.«
»Aber ohne Tischtuch?«
»Gott, wenn nur der Tisch rein ist!«
Und um seine Frau zu beruhigen, fügte er noch hinzu:
»Es wohnen viele anständige Leute dort. Wenn du es wissen willst, man hat den Cavaliere Palmeri nicht ohne Zögern aufgenommen.«
Damit ging Don Ferrante wieder in seinen Laden. Seine Frau war sehr betrübt, zugleich aber auch recht böse auf Don Ferrante. Er schien plötzlich Rang und Stand verloren zu haben und ein gewöhnlicher, einfacher Krämer geworden zu sein.
Ganz laut, obwohl niemand es hörte, sagte sie, der Sommerpalast sei nur ein häßlicher großer alter Kasten und Diamante ein armseliges elendes Nest.
Und sie werde natürlich nicht dulden, daß ihr Vater fortgehe. Don Ferrante werde schon sehen ...
Als sie zu Mittag gegessen hatten, wollte Don Ferrante ins Café Europa gehen und Domino spielen, und er sah sich nach seinem Hut um. Donna Micaela holte den Hut und begleitete ihren Gatten auf die Galerie hinaus, die um den ganzen Hof lief. Als sie so weit vom Eßzimmer entfernt waren, daß ihr Vater sie nicht mehr hören konnte, sagte sie heftig: »Hast du etwas gegen meinen Vater?«
»Er ist mir zu teuer.«
»Du bist ja reich.«
»Wer hat dir das weisgemacht? Siehst du nicht, wie ich mich schinde?«
»Schränke dich lieber in etwas anderem ein.«
»Ja, ich werde mich auch in anderem einschränken. Giannita hat nun genug Geschenke bekommen.«
»Ach, spare doch lieber an mir!«
»Du, du bist meine Frau, du sollst es auch weiterhin haben, wie du es jetzt hast.«
Sie schwieg einen Augenblick und überlegte, was sie sagen könnte, um ihm Angst zu machen.
»Weißt du, wie es kam, daß ich deine Frau geworden bin?«
»Jawohl.«
»Weißt du auch, was der Pfarrer mir versprach?«
»Das ist die Sache des Pfarrers; ich tue, was ich will.«
»Du hast vielleicht gehört, daß ich mit allen meinen Freunden in Catania brach, als ich erfuhr, daß mein Vater sich vergeblich um Hilfe an sie gewandt hatte.«
»Und daß ich hierher nach Diamante zog, damit er sie nicht mehr zu sehen brauchte und sich nicht vor ihnen schämen müßte?«
»Diese Leute kommen auch nicht in die Brüderschaft.«
»Wenn du das alles weißt, fürchtest du dich dann nicht, meinem Vater so etwas anzutun?«
»Mich fürchten? Nein, vor meiner Frau fürchte ich mich nicht.«
»Habe ich dich nicht glücklich gemacht?« begann sie wieder.
»O ja«, antwortete er gleichgültig.
»War es dir nicht eine Freude, mir vorzusingen? War es dir nicht angenehm, daß ich dich für den edelsten Mann auf Sizilien hielt? Hast du dich nicht gefreut, daß es mir in dem alten Palast gefiel? Warum soll das alles nun ein Ende haben?« Er legte ihr warnend die Hand auf die Schulter und sagte: »Du mußt bedenken, daß du nicht mit einem vornehmen Herrn aus der Via Ätna in Catania verheiratet bist.«
»Ach ja.«
»Hier oben auf dem Berg herrschen andere Bräuche als in der Ebene. Hier sind die Frauen ihren Männern untertan. Wir machen uns nichts aus schönen Worten. Wenn wir sie haben wollen, wissen wir schon, wie sie zu erlangen sind.« Als er so sprach, erschrak sie. Im nächsten Augenblick lag sie vor ihm auf den Knien. Es war ein dunkler Abend, aber aus den erleuchteten Zimmern drang so viel Licht heraus, daß er ihre Augen sehen konnte. Mit inbrünstigem Flehen waren sie auf ihn gerichtet wie zwei herrliche Sterne.
»Sei barmherzig! Du weißt nicht, wie ich ihn liebe.«
Don Ferrante lachte.
»Damit hättest du anfangen sollen. Nun hast du mich böse gemacht.«
Sie lag noch immer auf den Knien und sah zu ihm auf.
»Es ist gut, daß du in Zukunft weißt, wie du dich zu verhalten hast.«
Sie rührte sich nicht.
Da fragte er: »Soll ich es ihm sagen, oder willst du es tun?«
Nun schämte sich Donna Micaela, daß sie sich so gedemütigt hatte. Sie erhob sich und sagte mit Würde:
»Ich werde es ihm sagen, aber erst am letzten Tag. Und du darfst ihn nichts merken lassen.«
»Nein, das werde ich bestimmt nicht tun«, sagte er, indem er ihren Ton nachahmte. »Ein kurzer Jammer ist mir auch lieber.«
Aber als er gegangen war, lachte Donna Micaela über Don Ferrante, weil er glaubte, er könne mit ihrem Vater machen, was er wollte. Sie wußte wohl, wer ihr helfen würde.
*
Im Dom zu Diamante ist ein wundertätiges Madonnenbild, das folgende Geschichte hat:
Vor langer, langer Zeit wohnte ein heiliger Eremit auf dem Monte Chiaro in einer Höhle. Dieser Eremit träumte eines Nachts, in Catanias Hafen liege ein mit Heiligenbildern beladenes Schiff, und eines dieser Bilder sei so heilig, daß die Engländer, die reicher sind als alle anderen Völker, es mit Gold aufwiegen würden. Sobald der Eremit aus seinem Traum erwachte, begab er sich nach Catania. Als er dort ankam, fand er, daß er einen wahren Traum gehabt hatte. Im Hafen lag ein Schiff, das mit Heiligenbildern beladen war, und unter den Bildern war eines der heiligen Madonna, das heiliger war als alle andern. Nun bat der Eremit den Kapitän, dieses Bild nicht von Sizilien fortzuführen, sondern es ihm zu schenken. Aber der Kapitän schlug ihm seine Bitte ab.
»Ich will die Madonna nach England schaffen«, sagte er, »denn die Engländer werden sie mir mit Gold aufwiegen.« Der Eremit hörte nicht auf, den Kapitän um das Bild zu bitten, so daß dieser ihn schließlich durch seine Leute an Land setzen ließ und die Segel hißte, um abzufahren.
Es hatte den Anschein, als sollte das heilige Bild für Sizilien verlorengehen. Doch der Eremit kniete auf einem der schwarzen Lavablöcke am Ufer nieder und flehte Gott an, dies nicht zuzulassen. Und was geschah? Das Schiff konnte nicht abfahren. Der Anker war gelichtet, die Segel gehißt, und ein günstiger Wind wehte, aber drei Tage lang lag das Schiff unbeweglich wie ein Felsen. Am dritten Tag nahm der Kapitän das Madonnenbild und warf es dem Eremiten zu, der noch immer am Strande auf den Knien lag. Und sogleich konnte das Schiff aus dem Hafen auslaufen. Der Eremit aber brachte das Bild zum Monte Chiaro, und heute noch ist es in Diamante und hat im Dom seine Kapelle und seinen Altar.
Zu diesem Madonnenbild ging Donna Micaela, um für ihren Vater zu beten.
Sie begab sich in die Kapelle der Madonna, die in eine dunkle Ecke der Domkirche hineingebaut ist. Hier waren die Wände mit lauter Votivtafeln bedeckt, mit silbernen Herzen und Bildern, die von all denen gestiftet worden waren, denen die Madonna von Diamante geholfen hatte.
Das Standbild selbst war aus schwarzem Marmor, und als Donna Micaela es in seiner Nische stehen sah, hoch und dunkel und von einem goldnen Gitterwerk beinahe verdeckt, glaubte sie ein Gesicht zu sehen, das in sanfter Schönheit strahlte. Und ihr Herz wurde von froher Hoffnung erfüllt.
Ja, das war die mächtige Himmelskönigin, die gute Mutter Maria, die Tiefbetrübte, die alles Leid verstand, sie würde nicht zulassen, daß man ihr den Vater entriß.
Hier würde ihr sicher rasch geholfen. Sie brauchte nur vor ihr niederzufallen und ihr ihre Not zu klagen, dann stand ihr die schwarze Madonna bei.
Während sie betete, fühlte sie ganz deutlich, daß Don Ferrante in diesem Augenblick schon anderer Meinung geworden war. Wenn sie heimkam, würde er ihr entgegenkommen und ihr sagen, daß sie ihren Vater behalten dürfe.
*
Es war drei Wochen später.
Donna Micaela trat aus dem Sommerpalast, um zur Morgenmesse zu gehen. Doch ehe sie sich in die Kirche begab, ging sie in Donna Elisas Laden, um ein Wachslicht zu kaufen. Es war noch so früh, daß sie fürchtete, der Laden sei vielleicht noch nicht geöffnet; aber er war schon offen, und sie freute sich, daß sie nun eine Gabe für die schwarze Madonna mitnehmen konnte.
Der Laden war leer, als Donna Micaela eintrat, und um Donna Elisa herbeizurufen, machte sie die Tür wiederholt auf und zu, daß die Klingel anschlug. Schließlich kam jemand, aber es war nicht Donna Elisa, sondern ein junger Mann.
Dieser junge Mann war Gaetano, den Donna Micaela kaum kannte. Denn Gaetano hatte so viel von ihr gehört, daß er sich vor einem Zusammentreffen mit ihr förmlich fürchtete, und wenn sie zu Donna Elisa gekommen war, hatte er sich jedesmal in seine Werkstatt eingeschlossen. Donna Micaela wußte nichts weiter von ihm, als daß er von Diamante fortreisen wolle und daß er ständig Heiligenbilder schnitze, damit Donna Elisa etwas zu verkaufen habe, während er in Argentinien große Reichtümer sammeln wollte.
Als nun Donna Micaela Gaetano sah, fand sie ihn so schön, daß sein Anblick Freude in ihrem Herzen hervorrief. Sie war voller Unruhe wie ein gehetztes Reh, aber kein noch so großer Kummer hätte sie daran hindern können, sich an etwas Schönem zu erfreuen.
Sie fragte sich, wo sie ihn schon früher gesehen haben könnte, und da fiel ihr ein, daß sie in der herrlichen Gemäldesammlung im Palast ihres Vaters zu Catania dieses Gesicht gesehen hatte. Aber der dort abgebildete junge Mann hatte keine Arbeiterbluse getragen, sondern einen weichen schwarzen Filzhut mit einer langen, wallenden weißen Feder und einen breiten Spitzenkragen über dem Samtrock. Und er war von dem großen Meister van Dyck gemalt gewesen.
Donna Micaela bat Gaetano um ein Wachslicht, und er begann nach einem solchen zu suchen. Aber wie merkwürdig! Gaetano, der doch jeden Tag in dem kleinen Laden war, schien ganz fremd darin zu sein. Er suchte das Wachslicht in den Rosenkranzschubladen und in den kleinen Medaillenkästen, fand aber natürlich keines. Da wurde er so ungeduldig, daß er die Schubladen von unterst zu oberst kehrte und die Kästen zerbrach. Dadurch entstand eine große Unordnung und Verwirrung. Donna Elisa würde bestimmt recht ärgerlich sein, wenn sie nach Hause kam.
Aber Donna Micaela sah mit Wohlgefallen, wie Gaetano seine üppigen Locken aus dem Gesicht schüttelte und daß seine feurigen Augen leuchteten wie goldener Wein, der vom Sonnenlicht durchstrahlt wird. Der Anblick eines so schönen Menschen wirkte tröstend auf sie.
Da bat Donna Micaela den edlen Herrn, den der große van Dyck gemalt hatte, um Verzeihung in ihrem Herzen. Denn sie hatte oft zu ihm gesagt: »Ach Signore, Ihr seid zwar sehr schön, aber so finster und so bleich und so schwermütig könnt Ihr in Wirklichkeit doch nicht ausgesehen haben. Und Ihr habt auch keine solchen Feueraugen gehabt, sondern der Meister, der Euch malte, hat das alles in Euer Gesicht hineingelegt.« Als aber Donna Micaela Gaetano sah, fand sie, daß das alles doch in einem Gesicht vorhanden sein könne und daß der Meister es nicht nötig gehabt hatte, etwas hinzuzufügen. Deshalb leistete sie dem alten edlen Herrn Abbitte.
Indessen hatte Gaetano die langen Lichtschachteln gefunden, die unter dem Ladentisch an derselben Stelle standen, wo sie immer zu stehen pflegten. Er gab Donna Micaela die gewünschte Kerze, aber er wußte nicht, was sie kostete, und sagte, sie könne ja später wiederkommen, um sie zu bezahlen. Und als sie um ein Papier zum Einwickeln bat, geriet er so in Verlegenheit, daß sie ihm beim Suchen helfen mußte.
Da wurde ihr angst, daß ein solcher Mensch daran dachte, nach Argentinien zu reisen.
Er ließ Donna Micaela ihre Kerze selbst einwickeln und sah nur immerfort die Signora an. Sie hätte ihn gern gebeten, sie doch nicht so anzusehen, jetzt, wo ihr Gesicht nur Hoffnungslosigkeit und Jammer widerspiegelte.
Gaetano hatte seinen Blick nur eine kleine Weile forschend auf ihren Zügen ruhen lassen, als er auch schon die kleine Leiter hinaufsprang und von dem obersten Regalbrett ein Bild herabnahm, mit dem er wieder zu ihr trat. Es war ein kleiner vergoldeter und angemalter, aus Holz geschnitzter Engel – ein kleiner heiliger Michael im Kampf mit dem Erbfeind – den er aus Papier und Watte herauswickelte.
Er reichte Donna Micaela das Bild und bat sie, es von ihm anzunehmen. Er möchte es ihr schenken, weil es das beste sei, das er je geschnitzt habe. Er sei ganz sicher, daß es eine größere Macht habe als seine andern Bilder, und er habe es auf das oberste Brett gestellt, damit nicht der erste beste es sehe und kaufe. Er habe auch Donna Elisa gesagt, sie dürfe es nur verkaufen, wenn einmal jemand mit einem sehr großen Kummer es haben wolle.
Donna Micaela stand unschlüssig da. Gaetano kam ihr fast aufdringlich vor.
Aber Gaetano machte sie darauf aufmerksam, wie schön das Bild geschnitzt sei. Sie solle nur sehen, wie die Flügel des Erzengels sich im Zorn sträubten, und wie Luzifer seine Klaue in die Stahlschiene auf dessen Bein drücke. Und wie San Michele ihm den Speer hineinstoße und die Stirn runzle und die Lippen zusammenpresse.
Er wollte ihr das kleine Schnitzwerk in die Hand geben, aber sie schob es sanft zurück. Sie sehe wohl, daß es schön und mächtig sei, sagte sie, aber sie wisse, daß es ihr nicht helfen könne. Sie danke ihm für seine Gabe, die sie aber nicht annehmen könne.
Da zog Gaetano hastig das Bild zurück, wickelte es wieder ein und stellte es auf seinen vorigen Platz.
Und er sprach kein Wort, bis er es eingewickelt und wieder weggestellt hatte.
Dann aber fragte er sie, warum sie ein Wachslicht kaufen wolle, wenn sie doch nicht gläubig sei? Ob sie damit sagen wolle, daß sie nicht an San Michele glaube? Ob sie denn nicht wisse, daß er der mächtigste unter den Engeln sei, daß er den Luzifer besiegt und ihn in den Ätna gestürzt habe? Ob sie etwa an der Wahrheit dieser Legende zweifle? Dann wisse sie wohl auch nicht, daß San Michele bei dem Kampf eine Schwungfeder verloren habe, die in Caltanisetta gefunden wurde. Ob sie das wisse, oder ob sie es nicht wisse? Oder ob sie meine, San Michele könne ihr nicht helfen? Ob sie denn glaube, daß kein Heiliger imstande sei, zu helfen? Und er stehe doch den ganzen Tag in seiner Werkstatt und schnitze nichts als Heilige. Ob er das wohl tun würde, wenn sie nichts taugten? Ob sie ihn denn für einen Betrüger halte? Da aber Donna Micaela ebenso gläubig war wie Gaetano, fand sie seine Worte ungerecht, und das reizte sie zum Widerspruch.
»Es kommt doch bisweilen vor, daß Heilige nicht helfen«, sagte sie zu ihm. Und als Gaetano sie nur mißtrauisch ansah, überkam sie eine unwiderstehliche Lust, ihn zu überzeugen, und sie sagte ihm, man habe ihr im Namen der Madonna gelobt, ihr Vater dürfe ein sorgenfreies Alter bei ihr genießen, wenn sie Don Ferrante eine treue Gattin werde. Jetzt aber wolle ihr Mann ihren alten Vater in eine Brüderschaft aufnehmen lassen, wo es ja armselig zugehe wie in einem Armenhaus und so streng wie in einem Gefängnis. Und die Madonna habe es nicht verhindert, schon in acht Tagen solle es geschehen.
Gaetano hörte ihr mit tiefem Ernst zu, und dadurch wurde sie veranlaßt, ihm ihre ganze Geschichte anzuvertrauen.
»Donna Micaela«, sagte er, »Ihr müßt Euch an die schwarze Madonna in der Domkirche wenden.«
»Meint Ihr denn, das hätte ich nicht schon getan?«
Da errötete Gaetano und sagte beinahe heftig:
»Ihr wollt doch nicht sagen, daß Ihr Euch vergeblich an die schwarze Madonna gewandt habt?«
»Seit drei Wochen bete ich vergeblich zu ihr.«
Als Donna Micaela dies sagte, konnte sie kaum atmen. Sie hätte über sich selbst weinen mögen, weil sie jeden Tag Hilfe erwartet hatte und jeden Tag enttäuscht worden war, und doch keinen anderen Ausweg gewußt hatte, als immer wieder mit ihren Gebeten zu beginnen. Und man sah ihrem Gesicht an, daß ihre Seele noch einmal durchlebte, was sie gelitten hatte, während sie jeden Tag auf Erhörung hoffte und die Zeit darüber verstrichen war.
Aber Gaetano wurde nicht gerührt, sondern stand lächelnd da und trommelte mit den Fingern auf einem der Glaskästen, die auf dem Ladentisch standen.
»Habt Ihr zur Madonna nur gebetet?« fragte er.
Nur gebetet! Nur gebetet! Ach, sie hatte ihr auch gelobt, alle Sünden abzulegen. Sie war in das Gäßchen gegangen, in dem sie anfangs gewohnt hatte, und hatte die kranke Frau mit dem offenen Bein gepflegt. Sie ging an keinem Bettler vorüber, ohne ihm ein Almosen zu geben.
Nur gebetet! Und sie sagte ihm, wenn die Madonna imstande gewesen wäre, ihr zu helfen, hätte sie mit ihren Gebeten wohl zufrieden sein können. Ganze Tage habe sie in der Domkirche zugebracht. Und die Angst, die Angst, die sie peinigte! Sollte die nichts gelten?
Er aber zuckte nur die Achseln. Hatte sie sonst nichts versucht?
Sonst nichts! Aber es gab ja nichts auf der Welt, was sie nicht versucht hatte. Sie hatte silberne Herzen und Wachslichter geopfert. Sie hatte ständig den Rosenkranz in der Hand.
Gaetano regte sie auf. Nichts, was sie getan hatte, wollte er gelten lassen, sondern fragte nur immer wieder: »Sonst nichts? Sonst nichts?«
»Aber so begreift doch«, sagte sie, »Don Ferrante gibt mir nicht so sehr viel Geld. Ich kann nicht mehr tun. Jetzt erst ist es mir gelungen, Seidenstoff und Stickseide zu einem Altartuch zu kaufen. Das müßt Ihr doch begreifen.«
Aber Gaetano, der alle Tage mit den Heiligen Umgang pflegte und der die Macht der Begeisterung und der Leidenschaft kannte, die jene Menschen gehabt haben, als sie Gott zwangen, ihre Gebete zu erhören, er machte sich lustig über die arme Donna Micaela, die glaubte, die Madonna mit Wachslichtern und Altardecken zwingen zu können.
Er verstehe alles recht gut, sagte er, der ganze Zusammenhang sei ihm vollständig klar. Es gehe den armen Heiligen immer so. Die ganze Welt rufe sie um Hilfe an, aber nur wenige wüßten, wie sie es angreifen müßten, um erhört zu werden. Und hernach sage man, die Heiligen hätten keine Kraft. Allen, die verstünden, wie man beten müsse, werde geholfen.
In lebhafter Erwartung schaute Donna Micaela auf. Aus Gaetanos Worten schlug ihr eine solche Kraft der Überzeugung entgegen, daß sie zu glauben begann, er werde sie das rechte, das erlösende Wort lehren.
Aber Gaetano nahm die Kerze, die vor ihr auf dem Ladentisch lag, warf sie wieder zurück in den Kasten und sagte ihr, was sie tun müsse. Er verbot ihr, der Madonna Geschenke zu bringen oder zu ihr zu beten oder etwas für die Armen zu tun. Er sagte ihr, er werde das Altartuch zerreißen, wenn sie noch einen Stich daran mache.
»Zeigt ihr, Donna Micaela, daß es sich hier um etwas Wichtiges für Euch handelt«, sagte er, indem er seine Augen mit zwingender Kraft auf sie richtete. »Lieber Gott, Ihr müßt doch etwas ausfindig machen können, das ihr beweist, daß es Ernst ist und nicht ein Spiel! Ihr müßt ihr klarmachen können, daß Ihr nicht länger leben wollt, wenn Euch nicht geholfen wird. Wollt Ihr Don Ferrante auch weiterhin eine treue Gattin sein, wenn er Euren Vater fortschickt? Das denkt Ihr natürlich. Aber wenn die Madonna das nicht zu fürchten braucht, was Ihr in der Verzweiflung tun könntet, warum sollte sie Euch dann helfen?«
Donna Micaela trat einen Schritt zurück. Er aber kam schnell hinter dem Ladentisch hervor und hielt sie am Mantelärmel fest.
»Versteht mich recht, Ihr müßt ihr zeigen, daß Ihr fähig seid, Euch wegzuwerfen, wenn sie Euch nicht hilft. Ihr müßt ihr drohen, daß Ihr Euch in Sünde und Schande stürzen könntet, wenn es nicht nach Eurem Willen ginge. Auf solche Weise zwingt man die Heiligen.«
Sie riß sich von ihm los und ging fort, ohne ein Wort zu sagen. Sie eilte die schneckenförmige Gasse hinauf, kam zum Dom und warf sich ganz entsetzt vor dem Altar der schwarzen Madonna nieder.
Dies geschah an einem Samstagmorgen, und am Sonntagabend sah Donna Micaela Gaetano wieder. Denn es war schöner Mondschein, und in Diamante ist es Sitte, daß an den Mondscheinabenden alle Leute ihre Häuser verlassen und auf die Straße herausgehen. Sobald nun die Bewohner des Sommerpalasts auf die Straße herauskamen, trafen sie Bekannte. Donna Elisa hatte den Cavaliere Palmeri untergefaßt und der Sindaco Voltaro sich Don Ferrante angeschlossen, um mit ihm über die Wahlen zu sprechen.
Gaetano aber kam auf Donna Micaela zu, weil er hören wollte, ob sie seinen Rat befolgt hatte.
»Habt Ihr aufgehört, an dem Altartuch zu nähen?« fragte er.
Aber Donna Micaela antwortete, daß sie gestern den ganzen Tag daran genäht habe.
»Dann steht Ihr Euch wirklich selbst im Wege, Donna Micaela.«
»Ja, nun ist da nichts mehr zu machen, Don Gaetano.«
Sie richtete es so ein, daß sie ein wenig hinter den anderen zurückblieben, denn sie wollte über etwas mit ihm reden. Und als sie zur Porta Ätna kamen, bog sie vom Weg ab; sie gingen hinaus durchs Tor und wanderten auf den Wegen, die sich unter den Palmenhainen des Monte Chiaro hinziehen, auf und ab.
Sie hätten nicht drinnen auf den belebten Straßen gehen können. Wenn die Leute in Diamante gehört hätten, was Donna Micaela sagte, hätte man sie gesteinigt.
Donna Micaela fragte Gaetano, ob er jemals die schwarze Madonna in der Domkirche richtig angesehen habe. Sie habe sie erst gestern wirklich gesehen. Die Madonna habe sich wahrscheinlich in eine so dunkle Ecke des Doms gestellt, damit sie niemand genau sehen sollte. Sie sei ja schwarz und mit einem Gitter abgeschlossen. Kein Mensch könne sie sehen.
Aber heute habe Donna Micaela sie gesehen. Heute habe die Madonna einen Festtag gehabt, und da sei sie aus der Nische herausgenommen worden. Der Boden und die Wände ihrer Kapelle seien mit weißen Mandelblüten bedeckt gewesen, und sie selbst habe unten auf dem Altar gestanden, dunkel und groß, ganz umgeben von weißer Blütenpracht.
Als aber Donna Micaela das Bild gesehen habe, sei sie in eine wahre Verzweiflung geraten. Denn das Bild stelle gar keine Madonna dar. Die, zu der sie gebetet habe, sei gar keine Madonna! Ach, welche Schande! Welche Schande! Es sei offenbar eine alte Göttin. Wer je eine solche gesehen habe, könne sich darin gar nicht täuschen. Sie habe keine Krone auf, sondern einen Helm, sie habe kein Kind im Arm, sondern einen Schild. Es sei eine Pallas Athene, aber keine Madonna. Ach nein! Ach nein!
Und hier in Diamante werde ein solches Bild verehrt! Hier mußte man ein solches heidnisches Bild aufstellen und es verehren! Und ob er auch wisse, was das Schlimmste daran sei? Ihre Madonna sei häßlich! Sie sei ganz verwittert und nie ein richtiges Kunstwerk gewesen. Sie sei so häßlich, daß man sie gar nicht ansehen könne.
Ach, daß man sich durch all die tausend Votivbilder habe täuschen lassen, die in der Kirche hingen! Daß man sich von allen den Sagen, die über sie im Umlauf seien, an der Nase habe herumführen lassen! Daß sie drei Wochen verloren habe, während sie zu ihr betete! Nun wisse sie, warum ihr nicht geholfen worden sei. Es sei gar keine Madonna, es sei gar keine Madonna!
Die beiden schlugen den Weg ein, der sich außerhalb der Stadtmauer rings um den Monte Chiaro hinzieht. Die ganze Welt um sie her war weiß. Weißer Nebel umkränzte den Fuß des Berges, und die Mandelbäume drüben auf dem Ätna waren über und über weiß. Bisweilen kamen sie selbst an einem Mandelbaum vorbei, der seine wie Silber glänzenden Blütenzweige über sie ausbreitete. Der Mondschein lag so hell auf der Erde, daß alles seiner Farbe beraubt war und weiß schimmerte. Man wunderte sich fast, daß man den hellen Schein nicht fühlte, daß er nicht wärmte und einem nicht die Augen blendete.
Donna Micaela fragte sich, ob wohl der Mondschein Gaetano so weich stimmte, daß er sie nicht ergriff und in den Simeto hinabschleuderte, weil sie die schwarze Madonna lästerte.
Er ging still und ruhig neben ihr her, aber sie fürchtete sich vor dem, was er noch tun könnte. Doch so groß auch ihre Angst war, sie konnte nicht schweigen.
Das Schrecklichste, was sie zu sagen hatte, war noch übrig. Sie sagte, sie habe den ganzen Tag versucht, an die wahre Madonna zu denken und sich daher alle Bilder, die sie je von dieser gesehen habe, ins Gedächtnis zurückgerufen. Aber alles sei vergeblich gewesen. Sobald sie an die strahlende Himmelskönigin denke, komme die schwarze Madonna und stelle sich dazwischen. Sie sehe sie als eine vertrocknete, geschäftige alte Jungfer daherkommen, und dann entschwinde die Himmelskönigin, so daß es für sie nun überhaupt keine Madonna mehr gebe. Sie glaube auch, daß die wahre Madonna ihr zürne, weil sie zuviel für die andere getan habe, und daß sie deshalb ihre Gnade und ihr Angesicht vor ihr verberge. Aber um der falschen Madonna willen werde ihr Vater nun ins Unglück gestürzt. Nun werde sie ihn nicht zu Hause behalten dürfen. Nun werde sie niemals seine Verzeihung erlangen. Ach Gott! Ach Gott!
Und das alles sagte sie Gaetano, der die schwarze Madonna am höchsten verehrte.
Er trat ganz nahe zu Donna Micaela, und diese fürchtete, ihre letzte Stunde sei gekommen. Mit schwacher Stimme, wie um sich zu entschuldigen, sagte sie: »Ich bin wahnsinnig. Die Angst macht mich wahnsinnig. Ich kann gar nicht mehr schlafen.«
Aber Gaetano hatte, während er neben ihr herging, immer nur gedacht, welch ein Kind sie doch sei, wie sie es so gar nicht verstehe, sich im Leben zurechtzufinden. Fast unbewußt zog er sie plötzlich ganz sanft an sich und küßte sie, weil sie ein so verschüchtertes und törichtes Kind war. Sie war so überrascht, daß sie gar nicht daran dachte, sich ihm zu entziehen, und weder schrie noch entfloh. Sie fühlte sofort, daß er sie geküßt hatte, wie man ein Kind küßt. Sie ging nur schnell weiter, und dann begann sie zu weinen. Gerade dieser Kuß hatte es ihr zum Bewußtsein gebracht, wie machtlos und verlassen sie war und wie sehr sie sich nach jemand sehnte, der stark und gut war und sich ihrer annahm.
Es war schrecklich, daß dieser Fremde hier Mitleid mit ihr empfinden mußte, während sie doch einen Vater und einen Gatten hatte.
Als Gaetano ihre Gestalt in leisem Schluchzen erbeben sah, fühlte er, daß auch er zu zittern begann. Eine starke, leidenschaftliche Rührung ergriff ihn.
Er trat wieder dicht zu ihr und legte ihr die Hand auf den Arm. Und als er sprach, war seine Stimme nicht rein und hell, sondern dumpf und wie von Erregung erstickt.
»Wollt Ihr mit mir nach Argentinien fliehen, wenn Euch die Madonna nicht hilft?«
Nun aber schüttelte Micaela ihn ab. Sie fühlte plötzlich, daß er jetzt nicht mehr mit ihr sprach wie mit einem Kind; sie kehrte auf dem Weg um und ging in die Stadt zurück. Gaetano folgte ihr nicht. Auf der Stelle, wo er sie geküßt hatte, blieb er stehen, und es war, als wolle er diesen Platz nie mehr verlassen.
Zwei Tage lang ging er umher und träumte von Donna Micaela, aber am dritten ging er in den Sommerpalast, um mit ihr zu reden.
Er traf sie auf dem Dach und eröffnete ihr sofort, daß sie mit ihm fliehen müsse. Seit sie sich getrennt hätten, habe er immerfort daran denken müssen. Er habe in seiner Werkstatt gestanden und über alles nachgegrübelt, was geschehen war, und nun sei ihm alles ganz klargeworden.
Sie sei eine Rose, die der starke Schirokko von ihrem Zweig losgerissen und unsanft durch die Luft gewirbelt habe, damit sie um so besser Ruhe und Schutz an einem liebenden Herzen fände. Gott und alle Heiligen verlangten, ja – forderten, daß sie einander liebten; das müsse sie einsehen, sonst hätte ihr großes Unglück sie nicht in seine Nähe geführt. Und wenn die Madonna ihr ihre Hilfe verweigerte, tue sie es nur, weil sie Donna Micaela von ihrem Gelübde gegen Don Ferrante lösen wolle. Denn alle Himmlischen wüßten, daß sie für ihn, Gaetano, bestimmt sei. Für ihn sei sie geschaffen, für ihn sei sie herangewachsen, für ihn lebe sie.
Als er sie auf dem Weg im Mondschein geküßt habe, sei er wie ein verlorenes, verirrtes Kind gewesen, das in der Einöde lange umhergesucht habe und nun endlich an die heimatliche Pforte gelangt sei. Er besitze nichts, aber sie sei seine Heimat und sein Herd, sie sei das Erbteil, das Gott ihm bestimmt habe, das einzige auf der Welt, das ihm gehöre. Deshalb könne er sie auch nicht zurücklassen, sie müsse ihm folgen, sie müsse, sie müsse.
Er kniete gar nicht vor ihr nieder, sondern stand aufrecht da und sprach mit geballten Fäusten und flammenden Augen. Er bat nicht, er befahl ihr, mit ihm zu gehen, weil sie sein eigen sei. Es sei keine Sünde, sie zu entführen, es sei viel eher seine Pflicht, es zu tun. Wie würde es ihr ergehen, wenn er sie verließe?
Donna Micaela hörte ihn an, ohne sich zu rühren. Sie schwieg eine ganze Weile, selbst als er zu sprechen aufgehört hatte, schwieg sie noch lange.
»Wann wollt Ihr abreisen?« fragte sie endlich.
»Ich reise am Samstag von Diamante ab.«
»Und wann geht das Dampfschiff?«
»Am Sonntagabend von Messina.«
Donna Micaela stand auf und ging auf die Terrassentreppe zu.
»Mein Vater muß am Samstag nach Catania reisen«, sagte sie. »Ich werde Don Ferrante bitten, mich ihn begleiten zu lassen.«
Sie stieg ein paar Stufen hinab, als ob sie nichts weiter zu sagen habe. Dann blieb sie stehen. »Wenn Ihr mich dann in Catania trefft, werde ich Euch folgen, wohin Ihr wollt.«
Sie eilte die Treppe hinab. Gaetano versuchte nicht, sie zurückzuhalten. Die Zeit würde schon noch kommen, wo sie vor ihm nicht mehr floh. Er wußte, daß sie gar nicht anders konnte als ihn lieben.
Den ganzen Freitagnachmittag brachte Donna Micaela in der Domkirche zu. Sie trat zu der Madonna und warf sich verzweifelt vor ihr nieder.
»O Madonna mia, Madonna mia! Werde ich morgen eine entlaufene Gattin sein? Werden die Menschen das Recht haben, Böses über mich zu sagen?«
Alles erschien ihr gleich schrecklich. Ihr graute davor, mit Gaetano zu fliehen, und sie wußte doch nicht, wie sie es weiter bei Don Ferrante aushalten sollte. Sie haßte den einen wie den anderen. Keiner von beiden schien ihr etwas anderes als Unglück bieten zu können.
Sie sah wohl, daß die Madonna ihr nicht half. Und nun endlich fragte sie sich, ob es nicht ein größeres Elend sei, mit Gaetano zu fliehen als bei Don Ferrante zu bleiben. War es wohl der Mühe wert, sich zugrunde zu richten, um sich an dem eigenen Mann zu rächen? Und konnte es etwas Verabscheuungswürdigeres geben, als mit einem Mann zu fliehen, den man nicht liebte?
Ihre Qual war groß. Die ganze Woche hindurch hatte sie eine verzehrende Unruhe umhergejagt. Das Schreckliche aber war, daß sie gar nicht mehr schlafen konnte und deshalb nicht mehr fähig war, einen gesunden, klaren Gedanken zu fassen.
Immer wieder fing sie ihre Gebete von vorne an. Aber dann dachte sie: »Die Madonna kann mir doch nicht helfen.« Und sie hörte sofort wieder auf.
Dann mußte sie an das Leid der früheren Zeit denken, und sie erinnerte sich an das kleine Bild, das ihr einmal beigestanden hatte, als sie in ebensogroßer Verzweiflung gewesen war.
Mit leidenschaftlichem Eifer richtete sie ihre Gebete nun an das arme kleine Kind. »Hilf, hilf mir! Hilf meinem alten Vater und hilf mir selbst, daß ich mich nicht verführen lasse zu Unrecht und Rache.«
Als sie sich an diesem Abend zur Ruhe legte, kämpfte und stritt sie noch immer. »Ach, wenn ich nur eine einzige Stunde schlafen könnte!« seufzte sie. »Dann wüßte ich sicher, was ich will.«
Gaetano mußte am nächsten Morgen in aller Frühe abreisen, und endlich beschloß sie, vor seiner Abreise noch einmal mit ihm zu sprechen, um ihm zu sagen, daß sie nicht mit ihm gehen könne. Sie könnte es nicht ertragen, als Ehebrecherin angesehen zu werden.
Kaum hatte sie diesen Entschluß gefaßt, als sie auch schon einschlief und erst am nächsten Morgen, als es eben neun Uhr schlug, erwachte. Da war Gaetano schon abgereist, und sie konnte ihm nicht mehr sagen, daß sie sich anders besonnen hätte.
Aber daran dachte sie auch nicht. Während des Schlafs war etwas Neues und Fremdes über sie gekommen. Es war ihr, als habe sie die Nacht im Himmel verbracht und Seligkeit geatmet.
*
Welcher Heilige tut den Menschen wohl mehr Gutes als San Pasquale? Kommt es nicht bisweilen vor, daß zwei oder drei Menschen draußen im Wald an einem einsamen Platz oder auf dem Feld stehen und entweder jemanden verleumden oder einen bösen Anschlag aushecken! Und plötzlich, wenn sie so mitten im Reden sind, hören sie neben sich ein Geprassel; sie sehen sich verwundert um und fragen sich, ob jemand einen Stein nach ihnen geworfen habe. Es hat aber keinen Sinn, sich umzusehen, und es ist besser, man sucht nicht nach dem, der den Stein geworfen hat. Denn der Stein kam von San Pasquale. So gewiß, als es eine Gerechtigkeit im Himmel gibt, hatte San Pasquale gehört, daß sie Böses redeten, und einen seiner Steine nach ihnen geworfen, um sie zu warnen.
Und wer nicht gestört werden will, wenn er bei der Ausführung einer seiner bösen Anschläge ist, soll sich ja nicht damit trösten, daß San Pasquales Vorrat an Steinen wohl bald erschöpft sein wird. San Pasquales Vorrat erschöpft sich nie. Er hat so viele Steine, daß sie bis zum jüngsten Tage ausreichen. Denn als San Pasquale auf Erden wandelte, wißt ihr, was er da tat? Wißt ihr, woran er vor allem dachte? San Pasquale hob alle kleinen Kieselsteine, die auf seinem Wege lagen, auf und sammelte sie in seinem Sack. Ihr, mein Herr, ihr würdet euch kaum bücken, um einen Soldo aufzuheben, aber Don Pasquale bückte sich nach jedem kleinen Kieselstein, und als er starb, nahm er sie alle mit sich in den Himmel, und da sitzt er nun und wirft sie nach denen, die etwas Unrechtes tun wollen.
Dies ist jedoch nicht das einzige Gute, das San Pasquale den Menschen tut. Er ist auch der Heilige, der ein Zeichen gibt, wenn jemand heiraten soll oder wenn jemand sterben muß, und er kann auch noch auf andere Art als nur mit seinen Steinen Zeichen geben. Als die alte Mutter Saraedda in Randazzo einst am Krankenbett ihrer Tochter wachte, schlief sie ein. Die Tochter aber verlor das Bewußtsein und war dem Tod nahe, und nun konnte niemand den Pfarrer benachrichtigen. Aber wie wurde die Mutter noch rechtzeitig geweckt? Ihr Stuhl begann zu wackeln und knarrte und krachte, bis sie erwachte. Und das hatte San Pasquale getan.
Wer anders als San Pasquale würde an so etwas denken?
Es gibt auch noch eine andere Sage von San Pasquale, die ich erzählen will, die von dem langen Christophorus von Tre Castagni. Er war nicht gerade ein schlechter Mensch, aber er hatte eine sehr schlechte Angewohnheit. Er konnte seinen Mund nicht aufmachen, ohne zu fluchen. Keine zwei Worte konnte er sprechen, ohne daß eines davon ein Fluch gewesen wäre. Und meint ihr, es habe etwas geholfen, wenn ihm seine Frau und die Nachbarn deswegen Vorwürfe machten? Aber über seinem Bett hing ein kleines Bild, das San Pasquale darstellte, und diesem kleinen Bild gelang es, ihn von seiner schlechten Gewohnheit zu heilen. Jede Nacht schaukelte es in seinem Rahmen hin und her, stärker oder schwächer, je nachdem, wieviel Christophorus im Lauf des Tages geflucht hatte. Und da merkte er, daß er keine Nacht mehr schlafen dürfe, bis er das Fluchen aufgegeben habe.
In Diamante hat San Pasquale eine Kirche, die vor Porta Ätna liegt, ein kleines Stückchen bergab. Es ist eine kleine ärmliche Kirche, aber die weißen Mauern und die rote Kuppel nehmen sich, von schönen Mandelbäumen umgeben, äußerst malerisch aus.
Sobald daher im Frühling die Mandelbäume in Blüte stehen, wird San Pasquales Kirchlein das schönste von Diamante. Denn über ihm wölben sich die blühenden Zweige, dicht bedeckt mit weißen schimmernden Blüten, und umhüllen es wie ein Prachtgewand.
San Pasquales Kirche ist aber sehr traurig und verlassen, weil kein Gottesdienst mehr darin gehalten werden kann. Denn als die Garibaldianer, die Sizilien befreiten, nach Diamante kamen, quartierten sie sich in der Kirche San Pasquale und in dem Franziskanerkloster, das neben der Kirche liegt, ein. In der Kirche brachten sie unvernünftige Tiere unter, und sie selbst führten da ein so wildes Leben mit Weibern und mit Kartenspiel, daß die Kirche seitdem als entheiligt und unrein betrachtet wurde und deshalb dem Gottesdienst nicht wieder geöffnet werden durfte.
Deshalb halten es die Fremden und die vornehmen Leute auch nur dann für der Mühe wert, die Kirche San Pasquale zu besuchen, wenn die Mandelbäume blühen. Denn obgleich die ganzen Ätnaabhänge weiß sind von Mandelblüten, stehen doch die größten und schönsten Bäume um die alte verlassene Kirche.
Die armen Leute kommen jedoch das ganze Jahr über nach San Pasquale. Obgleich die Kirche immer verschlossen ist, geht man doch hin, um sich bei dem Heiligen Rat zu holen. Es steht nämlich dort dicht neben dem Eingang eine Bildsäule von ihm unter einem steinernen Baldachin, und sie pflegt man anzurufen, wenn man etwas über die Zukunft erfahren will. Niemand sagt die Zukunft besser voraus, als San Pasquale.
Nun geschah es, daß gerade an dem Morgen, wo Gaetano abreiste, sich so dichte Wolken den Ätna herabwälzten, daß es aussah, als sei es Staub, der von unzähligen Herden aufgewirbelt werde, und diese Wolken waren wie schwarz beschwingte Drachen, die Regen ausspieen und die Luft mit Nebel verfinsterten. Und der Nebel wurde so dicht in Diamante, daß man nicht mehr quer über die Straße sehen konnte. Die Feuchtigkeit durchdrang alles, der Boden war ebenso naß wie die Dächer, das Wasser lief an den Türpfosten herunter, und auf den Treppengeländern standen große Tropfen. Der Nebel wogte durch alle Gänge, daß man hätte glauben können, sie seien voller Rauch.
Aber gerade an diesem Morgen fuhr in aller Frühe, noch ehe es zu regnen anfing, eine reiche englische Dame in ihrem großen Reisewagen von Catania ab, um die Fahrt rund um den Ätna zu machen. Nachdem sie ein paar Stunden gefahren war, begann der heftige Regen, und die ganze Landschaft hüllte sich in Nebel. Da sich aber die Dame das Panorama der herrlichen Gegend nicht entgehen lassen wollte, beschloß sie, in dem nächsten Ort, den sie erreichen würde, anzuhalten und dort das schlechte Wetter abzuwarten. Diese Stadt aber war zufällig Diamante.
Die englische Dame war eine Miß Tottenham und dieselbe Dame, die in den Palazzo Palmeri zu Catania eingezogen war. Unter allem anderen, was sie in ihren Koffern mit sich führte, war auch das kleine Christusbild, zu dem Donna Micaela am vorhergehenden Abend im Dom gebetet hatte. Denn dieses Bild, so alt und mitgenommen es jetzt auch war, führte Miß Tottenham ständig mit sich zur Erinnerung an einen alten Freund, der ihr seine Reichtümer vermacht hatte.
Aber man hätte glauben sollen, San Pasquale wisse, welch wundertätiges Bild das war, denn er schien es begrüßen zu wollen. In dem Augenblick, als Miß Tottenhams Reisewagen durch die Porta Ätna fuhr, begannen die Glocken in der Kirche San Pasquale zu läuten.
Und sie läuteten von selbst den ganzen Tag hindurch. Die Glocken von San Pasquale sind nicht viel größer als die Glocken, die man auf den Gütern hat, um die Arbeiter heimzurufen; und wie auf den Gütern, hängen auch sie auf dem Dach in einem kleinen Glockenstuhl und werden durch einen Strick, der außen an der Kirchenmauer herabhängt, geläutet.
Es ist keine schwere Arbeit, die Glocken in Bewegung zu setzen, aber doch geht dies nicht so leicht, daß sie von selbst läuten könnten. Wer dem alten Fra Felice vom Franziskanerkloster einmal zugesehen hat, wie er den Fuß in die Strickschlinge stellte und dann den Strick auf- und niedertrat, um die Glocken in Gang zu bringen, versteht recht gut, daß sie nicht von selbst läuten können.
Aber gerade das taten sie an jenem Morgen. Der Strick war an einem Haken an der Wand festgebunden, und niemand rührte ihn an. Auch war nicht etwa jemand auf das Dach zu dem Glockentürmchen hinaufgeklettert und hatte sie dort in Gang gesetzt. Man sah deutlich, wie die Glocken hin- und herschwangen und wie die Schwengel an die Erzwände schlugen. Man konnte nicht erklären, wie die Glocken in Bewegung gekommen waren.
Als Donna Micaela erwachte, war das Glockenläuten schon in vollem Gang, und sie lag lange ganz still und lauschte und lauschte. Noch nie hatte sie etwas so Schönes gehört. Sie wußte nicht, daß es ein Wunder war, aber sie dachte, wie wunderbar schön dieses Glockengeläute doch sei. Ja, sie fragte sich, ob Glocken aus gewöhnlichem Erz so klingen könnten!
Man kann ja freilich auch nicht wissen, was das für ein Erz war, das an jenem Tag in San Pasquales Glocken klang. Ihr war es, als sagten ihr die Glocken, daß sie nun froh sein solle, daß sie von jetzt an leben und lieben dürfe, ja, daß sie etwas Großem und Schönem entgegengehe und daß sie jetzt nie mehr Reue empfinden und niemals mehr traurig sein werde.
Da begann ihr Herz mächtig zu schlagen, und unter Glockengeläut zog sie feierlich in eine große Burg ein. Und wem gehörte wohl die Burg? Wer war der Herr dieses prächtigen Orts, wenn nicht die Liebe?
Ja, es kann nicht länger verborgen bleiben: Als Donna Micaela erwachte, fühlte sie, daß sie Gaetano liebte und daß sie keinen größeren Wunsch hatte, als mit ihm zu ziehen.
Als dann Donna Micaela den Fensterladen öffnete und in den grauen Morgen hinaussah, warf sie diesem einen Handkuß zu und flüsterte: »Du, der Morgen des Tages, an dem ich fortgehen darf, du bist der schönste Morgen, den ich je gesehen habe, und so grau du auch bist, ich möchte dich doch liebkosen und küssen.«
Aber am besten gefiel ihr doch das Glockengeläute.
Daran kann man mit Bestimmtheit erkennen, daß ihre Liebe stark war, denn auf alle anderen Menschen machten diese Glockentöne, die gar nicht wieder aufhörten, einen höchst peinlichen Eindruck. In der ersten halben Stunde hörte man das Läuten überhaupt kaum, aber in der zweiten und in der dritten ...
Glaube doch ja niemand, daß San Pasquales kleine Glocken sich nicht Gehör verschaffen könnten! Sie hatten zwar immer einen starken Klang, aber jetzt war es, als ob der Klang zunähme und zunähme. Es war, als seien da in dem Nebel lauter Glocken, als hänge der ganze Himmel voll davon, obgleich man sie wegen der Wolken nicht sehen könne.
Als Donna Elisa zuerst das Läuten hörte, meinte sie, es sei die kleine Glocke von San Guiseppe, später aber war es ihr, als sei es die der Domkirche selbst. Dann glaubte sie, die Glocke der Dominikanerkirche einfallen zu hören, und schließlich war sie überzeugt, daß alle Glocken der Stadt zusammen läuteten, so stark sie nur konnten, alle Glocken der fünf Klöster und der sieben Kirchen. Sie meinte, jede einzelne davon unterscheiden zu können, bis sie schließlich jemanden fragte und erfuhr, daß es einzig und allein die kleinen Glocken von San Pasquale waren.
Während der ersten Stunden und solange man noch nicht überall wußte, daß die Glocken ganz von selbst läuteten, merkte man nur, daß die Regentropfen im Takt mit den Glockenschlägen fielen und daß alle Leute, die etwas sagten, einen starken Metallklang in der Stimme hatten. Man merkte auch, daß es unmöglich war, Mandoline oder Gitarre zu spielen, weil die Glockentöne sich mit den Saitenklängen zu einem ohrenbetäubenden Klang verbanden. Man konnte auch nicht lesen, denn die Buchstaben bewegten sich wie Glockenschwengel hin und her; die Worte nahmen eine Stimme an und lasen sich selbst laut vor.
Bald konnten die Menschen keine Blumen mehr ansehen, die an langen Stielen hingen, denn es war ihnen, als schwankten sie immerfort hin und her. Und sie beklagten sich, daß den Blumen Laute entströmten anstatt Düfte.
Andere aber behaupteten, der Nebel, der die Luft erfüllte, bewege sich im Takt mit dem Geläute, und ebenso behaupteten sie auch, alle Perpendikel richteten sich nach den Glockenschlägen, und die Menschen, die draußen im Regenwetter vorübergingen, machten es ebenso.
Und so war es schon, als die Glocken erst ein paar Stunden geläutet hatten und die Menschen noch darüber lachten.
Aber schon in der dritten Stunde schien der Glockenton an Stärke immer mehr zuzunehmen. Da stopften sich die einen Watte in die Ohren, während andere den Kopf in die Kissen vergruben. Trotzdem aber fühlten alle, wie die Luft unter den Glockenschlägen erbebte, und es war ihnen, als bewege sich alles im Takt danach. Die, welche auf den Boden hinaufgeflüchtet waren, fanden den Ton dort so hell und schallend, als komme er geradewegs aus dem Himmel, und die, welche im Keller Zuflucht gesucht hatten, vernahmen ihn dort so stark und dröhnend, als stünde die Kirche San Pasquale unter der Erde.
Und alle Menschen von Diamante wurden von Entsetzen ergriffen, ausgenommen Donna Micaela, die die Liebe vor aller Angst beschützte.
Dann begann man sich zu fragen, ob es nicht etwas bedeute, daß gerade die Glocken von San Pasquale so läuteten? Und alle fingen an, zu fragen, was wohl der Heilige ihnen damit verkündigen wolle? Jeder einzelne hatte seine besondere Angst und glaubte, San Pasquale prophezeie gerade ihm, was er am wenigsten zu hören wünschte. Und jeder einzelne entsann sich irgendeiner Tat, die ihm das Gewissen beschwerte, und glaubte nun, San Pasquale verkündige ihm die Strafe des Himmels.
Als aber um die Mittagszeit die Glocken immer noch läuteten, wußte man ganz genau, daß San Pasquale ein großes Unglück über Diamante einläutete und daß man mindestens den Tod sämtlicher Einwohner im Laufe des nächsten Jahres zu erwarten habe.
Und die schöne Giannita kam erschreckt und weinend zu Donna Micaela und klagte, daß gerade dieser Heilige läutete. »Ach lieber Gott, wenn es doch nur ein anderer Heiliger wäre, nur nicht gerade San Pasquale!«
»Er sieht vom Himmel droben, daß uns etwas Furchtbares droht«, begann Giannita wieder. »Der Nebel hindert ihn nicht, er sieht, so weit er will. Er sieht, daß eine feindliche Flotte auf dem Meere heraufzieht. Er sieht, daß aus dem Ätna eine Aschenwolke aufsteigt, die über uns herfallen und uns begraben wird.«
Aber Donna Micaela lachte sie aus und sagte, sie wisse wohl, woran San Pasquale denke. »Er läutet die schönen Mandelblüten zu Grabe, die vom Regen zerstört werden«, sagte sie zu Giannita.
Sie ließ sich von niemandem in Angst jagen, denn sie glaubte ja, die Glocken läuteten nur allein für sie. Sie wiegten sie in Träume; sie saß ganz ruhig im Musiksaal und gab sich ihrer Freude hin. Aber die ganze Welt um sie her war von großer Furcht, Unruhe und Schrecken erfüllt.
Jetzt konnte man nicht mehr ruhig bei seiner Arbeit sitzen, man konnte an nichts anderes mehr denken als an das große Unglück, das San Pasquale prophezeite.
Man fing an, den Bettlern so große Gaben zu geben, wie diese noch nie bekommen hatten; aber die Bettler freuten sich nicht darüber, denn sie glaubten, sie würden den nächsten Tag nicht erleben.
Und die Priester konnten sich auch nicht freuen, obgleich so viele Beichtkinder um sie versammelt waren, daß sie den ganzen Tag im Beichtstuhl sitzen mußten, und obgleich eine Gabe um die andere vor dem Altar des Heiligen niedergelegt wurde.
Nicht einmal der Briefschreiber Vincenzo da Lozzo freute sich an diesem Tag, obschon sein Schreibtisch unter der Rathausloggia immerfort förmlich belagert war und man ihm gerne einen Soldo für das Wort gab, wenn man an diesem letzten Tag nur ein Wort an die ferne Geliebte geschrieben bekam.
Es war ganz unmöglich, an diesem Tag Schule zu halten, denn die Kinder weinten immerfort. Um Mittag aber kamen die Mütter mit schreckensbleichen Gesichtern und holten ihre Kleinen nach Hause, damit man doch wenigstens beisammen sei, wenn etwas geschehe.
Ebenso hatten die Schneider- und Schusterlehrlinge einen freien Tag. Aber die armen Burschen wagten nicht so recht, ihn zu genießen, sondern blieben in banger Erwartung in den Werkstätten sitzen.
Auch noch am Nachmittag hielt das Läuten an.
Da zog der alte Türhüter des Palazzo Geraci, worin jetzt nur noch Bettler wohnten, zu denen er in seinen ärmlichen Lumpen selbst gehörte, seine hellgrüne Samtlivree an, die er sonst nur an den Festen der Heiligen und am Geburtstag des Königs trug.
Und niemand sah ihn in diesem Staat in seinem Torweg sitzen, ohne daß es ihm eiskalt den Rücken hinabgelaufen wäre, denn jedermann begriff, daß der Greis erwartete, kein geringerer Gewaltiger als der Weltuntergang werde durch das Tor, das er bewachte, seinen Einzug halten.
Es war schrecklich, wie die Menschen einander mit ihrer Furcht ansteckten.
Da ging nun der arme Torino, der einst ein wohlhabender Mann gewesen war, von Haus zu Haus und rief, nun sei die Zeit gekommen, wo alle, die ihn betrogen und zum armen Mann gemacht hätten, ihre Strafe ereilen werde. Er ging in all die kleinen Läden am Korso hinein, schlug mit der Faust auf den Ladentisch und schwor, daß nun alle in der Stadt ihr Urteil bekommen würden, weil sie sich daran beteiligt hätten, ihn zu betrügen.
Und ebenso erschütternd war das, was man von den Kartenspielern im Café Europa hörte. Dort hatten tagaus, tagein dieselben vier Spieler gesessen, und man hätte nicht geglaubt, daß sie etwas anderes tun könnten als spielen. Aber nun hatten sie plötzlich die Karten fallenlassen und einander gelobt, nie wieder eine Karte anzurühren, wenn sie an diesem Schreckenstag mit dem Leben davonkämen.
Donna Elisas Laden war gedrängt voll mit Menschen, die, um die Heiligen zu rühren und die Gefahr abzuwenden, all die heiligen Dinge erstanden, die Donna Elisa zu verkaufen hatte. Aber Donna Elisa dachte nur immer an Gaetano, der unterwegs war, und sie glaubte, ihr teile San Pasquale mit, daß Gaetano auf dieser Reise umkommen werde. Deshalb freute sie sich gar nicht über das viele Geld, das sie einnahm. Als jedoch San Pasquales Glocken auch noch den ganzen Nachmittag läuteten, konnte man das Leben kaum noch ertragen.
Denn nun wußte man, daß die Glocken ein Erdbeben verkündigten und daß ganz Diamante in Trümmer gehen werde.
In den kleinen Gäßchen, wo sogar die Häuser sich vor einem Erdbeben zu fürchten scheinen und sich dicht zusammendrängen, um sich gegenseitig zu stützen, schafften die Bewohner ihre alten ärmlichen Möbel trotz des Regens auf die Straße hinaus und spannten Zelte aus Bettdecken darüber her. Sie trugen sogar die kleinen Kinder in den Wiegen hinaus und deckten sie mit Kisten zu.
Trotz des Regens war auch ein solcher Verkehr auf dem Korso, daß man sich kaum hindurchdrängen konnte. Denn jedermann wollte zur Porta Ätna hinaus, um zu sehen, wie die Glocken läuteten und läuteten, und um sich zu vergewissern, daß niemand an dem Strick ziehe, sondern daß dieser noch immer angebunden sei. Und alle, die hinkamen, sanken auf dem Weg, wo das Wasser in Strömen floß und der Schmutz bodenlos war, auf die Knie.
Die Pforten der Kirche San Pasquale waren wie immer verschlossen, aber vor der Kirche ging der alte graue Bruder San Felice mit einem Messingteller zwischen den Betenden umher und nahm Gaben entgegen.
In geordnetem Zug wanderten die erschrockenen Menschen zu dem Bild San Pasquales unter dem steinernen Baldachin und küßten ihm die Hand. Eine alte Frau trug ganz vorsichtig etwas herbei, das sie mit einem grünen Regenschirm beschützte. Es war ein Glas mit Wasser und Öl, worin ein kleiner Docht schwamm, der mit einem schwachen Flämmchen brannte. Sie stellte das Glas vor das Bild und kniete dann selbst davor nieder.
Obgleich viele dachten, man sollte eigentlich versuchen, die Glocken anzubinden, wagte doch niemand den Vorschlag zu machen. Denn keiner wagte, die Stimme Gottes zum Schweigen zu bringen.
Ebensowenig wagte irgend jemand zu sagen, daß es eine Erfindung des alten San Felice sein könnte, Geld zu sammeln. Denn Fra Felice war sehr beliebt. Wer so etwas ausgesprochen hätte, dem wäre es schlecht ergangen.
Auch Donna Micaela kam zur Kirche San Pasquale hinaus, und zwar in Begleitung ihres alten Vaters. Erhobenen Hauptes schritt sie daher und hatte durchaus keine Angst. Sie kam, um San Pasquale zu danken, daß er so die große Leidenschaft ihrer Seele einläutete.
»Heute beginnt mein Leben«, sagte sie zu sich selbst.
Auch Don Ferrante sah nicht aus, als ob er sich fürchtete, aber grimmig und böse war er. Denn alle Leute meinten ja, sie müßten zu ihm in den Laden kommen, um ihm zu sagen, was sie dachten, und um seine Ansicht zu hören, nur weil er einer der Alagonas war, die seit so vielen Jahren die Stadt regiert hatten.
Den ganzen Tag hindurch kamen schreckensbleiche, zitternde Menschen in seinen Laden. Und alle stellten sich vor ihn hin und sagten: »Das ist ein schreckliches Glockenläuten, Don Ferrante. Was wird aus uns werden, Don Ferrante?«
Es gab kaum einen Bewohner der Stadt, der nicht in seinem Laden gewesen wäre, um ihn um seine Ansicht zu fragen. Solange das Läuten dauerte, blieben sie da und lungerten um den Ladentisch herum, ohne auch nur für einen einzigen Soldo etwas zu kaufen.
Sogar der milzsüchtige Advokat Ugo Favara kam herein, nahm sich einen Stuhl und setzte sich hinter den Ladentisch. Und den ganzen Tag hatte Don Ferrante ihn nun da sitzen, todesbleich und ganz unbeweglich. Er litt offenbar die fürchterlichsten Qualen, sagte aber kein Wort.
Aber alle fünf Minuten kam Torino-il-Martello herein, schlug mit der Faust auf den Tisch und erklärte, nun sei die Stunde gekommen, wo Don Ferrante seine Strafe ereilen werde.
Don Ferrante war ein harter Mann, aber auch er konnte das Glockenläuten so wenig ertragen wie die anderen Leute. Je länger er es hörte, desto mehr begann er sich zu fragen, warum wohl alle Leute gerade in seinen Laden hereinströmten. Es war, als meinten sie etwas Besonderes damit. Sie wollten ihn offenbar für das Läuten und für das Böse, das es bedeutete, verantwortlich machen.
Er hatte es niemandem gesagt, aber seine Frau hatte es wahrscheinlich ausgestreut. Er fing an zu glauben, daß alle dasselbe dachten, obgleich es keiner zu sagen wagte. Er dachte, der Advokat sitze nur hier und warte darauf, daß er seine Schuld bekenne. Er glaubte, die ganze Stadt komme zu ihm, um zu sehen, ob er es wirklich wagen werde, seinen Schwiegervater fortzuschicken.
Donna Elisa, die in ihrem eigenen Laden so viel zu tun hatte, daß sie nicht selbst kommen konnte, schickte unaufhörlich die alte Pacifica zu ihm und ließ fragen, was er von dem Glockenläuten denke. Und der Geistliche der Stadt trat auch einen Augenblick in den Laden und sagte wie alle anderen:
»Habt Ihr jemals ein so schreckliches Läuten gehört, Don Ferrante?«
Und Don Ferrante hätte gern gewußt, ob der Advokat und Don Matteo und all die anderen nur gekommen seien, um ihm Vorwürfe zu machen, daß er den Cavaliere Palmeri fortschicken wollte.
Das Blut fing an in seinen Schläfen zu hämmern; der ganze Laden drehte sich vor ihm im Kreise. Und unaufhörlich kam jemand herein und fragte: »Habt Ihr schon ein solch schreckliches Glockenläuten gehört, Don Ferrante?«
Wer aber nicht kam und nicht fragte, war Donna Micaela. Sie brauchte nicht zu kommen, denn sie hatte ja keine Angst. Sie war nur entzückt und stolz, daß die Leidenschaft, die ihr ganzes Leben ausfüllen sollte, nun über sie gekommen war. »Es wird mir noch ein großes herrliches Leben zuteil werden«, sagte sie. Und sie erschrak beinahe darüber, daß sie bisher nur ein Kind gewesen war.
Sie und ihr Vater sollten mit dem Postwagen reisen, der um zehn Uhr abends durch Diamante kam. Als es auf vier Uhr ging, dachte sie, nun müsse sie ihrem Vater alles sagen, denn nun sei es Zeit, mit dem Einpacken zu beginnen.
Aber selbst das erschien ihr nicht schwer. Sie würde ja ihren Vater bald nach Argentinien nachkommen lassen. Sie wollte ihn bitten, sich einige Monate zu gedulden. Sie war fest davon überzeugt, daß er Don Ferrante gern verließ.
Sie ging wie in einem schönen Traum befangen umher. Alles, was ihr hätte Schrecken einjagen können, war gar nicht vorhanden. Weder Schande noch Gefahr, nichts, nichts!
Sie sehnte sich einzig danach, den Postwagen herbeirasseln zu hören.
Da drang plötzlich das Geräusch vieler Stimmen an ihr Ohr; es kam von der Treppe, die vom Hof nach dem oberen Stockwerk führte. Sie hörte eine Menge schwerer sich nähernder Schritte. Durch den offenen Säulengang, der den Hof rings umgab und durch den man gehen mußte, um in die Zimmer zu gelangen, sah sie eine Menge Menschen daherkommen. Sie sah, daß sie etwas Schweres zwischen sich trugen, aber sie konnte wegen des Gedränges nicht erkennen, was es war.
Der bleiche Advokat ging voran. Er trat zu ihr und sagte, Don Ferrante habe den Torino aus seinem Laden hinauswerfen wollen, da habe Torino mit seinem Messer nach Don Ferrante gestochen. Die Wunde sei nicht gefährlich. Don Ferrante sei schon verbunden und werde in vierzehn Tagen wiederhergestellt sein.
Jetzt wurde Don Ferrante hereingetragen, und seine Augen irrten sogleich im Zimmer umher, aber nicht um Donna Micaela zu suchen, sondern den Cavaliere Palmeri. Als er diesen gewahrte, machte er, ohne ein Wort zu sagen, nur mit ein paar Handbewegungen seiner Frau verständlich, daß ihr Vater niemals sein Haus zu verlassen brauche, niemals, niemals.
Da preßte Donna Micaela die Hände auf ihre Augen. Wie, wie! Ihr Vater mußte nicht fort! Sie war gerettet! Es war ein Wunder geschehen, damit ihr geholfen würde.
Ach, nun hätte sie froh und glücklich sein sollen! Aber sie war es nicht. Sie empfand im Gegenteil den furchtbarsten Schmerz. Nun konnte sie nicht abreisen. Ihr Vater durfte in Diamante bleiben, nun war sie verpflichtet, Don Ferrante treuzubleiben. Sie kämpfte mit sich selbst, um sich das klarzumachen. Ja, es war so. Sie durfte nicht fortgehen.
Sie versuchte, der Sache eine andere Auslegung zu geben. Vielleicht war es ein falscher Schluß. Sie war ja vorhin so verwirrt gewesen. Nein, nein, es war so, sie durfte nicht fort.
Da überkam sie plötzlich eine wahre Todesmattigkeit. Sie war ja den ganzen Tag nur gereist und gereist. Sie war ja so lange unterwegs gewesen. Und nun würde sie niemals weiterkommen. Nie würde sie ans Ziel gelangen. Da sank sie zusammen. Sie war wie betäubt und ganz kraftlos. Es blieb ihr jetzt nichts anderes übrig, als sich nach der langen Fahrt, die sie hinter sich hatte, auszuruhen. Aber das gelang ihr wohl niemals. Sie begann zu weinen, weil sie nun nie ihr Ziel erreichen würde. Ihr ganzes Leben lang mußte sie reisen, reisen und kam doch nie ans Ziel.