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Gaetano war nun schon einen Monat bei Donna Elisa, und er war so glücklich, wie es nur ein Kind sein kann. Schon allein die Reise mit ihr war wie eine Fahrt ins Wunderland gewesen. Aber als er bei ihr wohnte, da war es ihm, als würde er auf einem mit großen Sonnenschirmen überdachten Thron getragen.
Dann kam der berühmte Franziskaner Pater Gondo nach Diamante, und Donna Elisa ging mit Gaetano auf den Markt, um ihn zu hören. Denn Pater Gondo predigte niemals in der Kirche, sondern sammelte die Leute immer beim Marktbrunnen oder am Stadttor um sich.
Es wimmelte von Menschen auf dem Marktplatz; aber Gaetano, der auf dem Geländer der Rathaustreppe saß, sah den Pater, der auf dem Brunnenrand stand, ganz deutlich. Er dachte hauptsächlich darüber nach, ob es wohl wahr sei, daß der Mönch unter seiner Kutte ein Stachelhemd trage, und ob der Strick um seinen Leib auch wirklich voller Knoten und Stacheln sei, so daß er als Geißel dienen könne.
Was Pater Gondo sprach, konnte er nicht verstehen, aber ein Schauer nach dem andern überlief ihn bei dem Gedanken, daß er einen Heiligen vor sich habe.
Als der Pater ungefähr eine Stunde lang gesprochen hatte, bedeutete er dem Volk mit einer Handbewegung, daß er einen Augenblick ausruhen wolle. Er stieg vom Brunnenrand herab, setzte sich nieder und stützte das Gesicht in die Hände. Während der Mönch dasaß, vernahm Gaetano ein so dumpfes Brausen, wie er noch nie eines gehört hatte. Er sah sich um, um zu erfahren, was das sein könnte. Und siehe! Alles Volk rief miteinander: »Heil! Heil! Heil!« Die meisten murmelten und flüsterten es nur, niemand rief es laut, dazu war die Andacht zu groß, aber alle hatten auf einmal dasselbe Wort gefunden. »Heil! Heil!« ertönte es auf dem ganzen Markt. »Heil deinen Lippen! Heil deiner Zunge! Heil deinem Herzen!«
Die Stimmen klangen dumpf, wie von Tränen und Rührung erstickt. Aber es war doch, als habe sich ein mächtiger Sturm erhoben. Es klang wie das Sausen in tausend Seemuscheln zugleich.
Dies ergriff Gaetano noch weit mehr als die Predigt des Mönches. Er wußte nicht, was er tun sollte. Denn dies leise Murmeln erfüllte ihn mit einer Rührung, die ihn zu ersticken drohte. Er kletterte an dem eisernen Gitter empor, reckte sich über alle anderen hinaus und stimmte in den Ruf der Menge mit ein, nur rief er viel lauter, so daß seine Stimme alle anderen übertönte.
Donna Elisa hörte ihn und schien ärgerlich zu werden. Sie zog ihn vom Geländer herunter und war nicht zu bewegen, noch länger dazubleiben, sondern ging mit ihm nach Hause.
Aber mitten in der Nacht fuhr Gaetano von seinem Lager auf. Er zog seine Kleider an, band alles, was ihm gehörte, in ein Bündel zusammen, setzte seinen Hut auf und nahm seine Schuhe unter den Arm. Er wollte fliehen, denn er konnte es bei Donna Elisa nicht mehr aushalten.
Seit er Pater Gondo gehört hatte, hatte Diamante und der Mongibello keinen Wert mehr für ihn. Es gab nichts Herrlicheres, als zu sein wie Pater Gondo und von den Menschen gesegnet zu werden. Gaetano konnte nicht mehr leben, wenn er nicht am Marktbrunnen sitzen und Legenden erzählen durfte.
Aber wenn Gaetano noch weiter in Donna Elisas Garten blieb und Pfirsiche und Mandarinen aß, würde er niemals das große Menschenmeer um sich her brausen hören. Er mußte fort, mußte ein Eremit auf dem Ätna werden, er mußte in einer der großen Höhlen wohnen und von Wurzeln und Früchten leben. Nie durfte er mit einem Menschen zusammenkommen, nie sein Haar schneiden und nichts anderes auf dem Leibe tragen als ein paar schmutzige Lumpen. Aber in zehn oder zwanzig Jahren würde er zurückkehren in die Welt. Dann würde er aussehen wie ein Tier und reden wie ein Engel.
Das würde etwas anderes sein als in Samtkleidern gehen und einen Hut aus Glanzleder tragen, wie er es jetzt tat; ja, es würde etwas ganz anderes sein, als bei dieser Donna Elisa im Laden zu sitzen, ihr den einen Heiligen und den andern vom Regal herunterzureichen und sie erzählen zu hören, was die Heiligen vollbracht hatten. Mehrere Male hatte er auch schon versucht, aus einem Stück Holz Heiligenbilder zu schnitzen, aber das war sehr schwer. Wieviel schwieriger mußte es sein, selbst ein Heiliger zu werden. Er fürchtete sich jedoch vor keinen Schwierigkeiten und Entsagungen.
Er schlich sich zu seinem Kämmerchen hinaus, über den Bodenraum hin und die Bodentreppe hinab. Nun brauchte er nur noch durch den Laden zu gehen, um auf die Gasse zu gelangen; aber auf der letzten Treppenstufe hielt er an. Links von der Treppe drang ein schwacher Lichtschein durch eine Türritze.
Das war die Tür zu Donna Elisas Zimmer, und Gaetano wagte nicht weiterzugehen, weil seine Pflegemutter noch Licht hatte. Wenn sie nicht schlief, würde sie hören, daß er die schweren Riegel der Ladentür öffnete. Er setzte sich leise auf die Treppe, um zu warten.
Plötzlich fiel ihm ein, daß Donna Elisa wohl so lange auf war und arbeitete, um für ihn Kleider und Nahrung zu beschaffen! Er fühlte sich sehr gerührt über diese opferfreudige Liebe und begriff plötzlich, welcher Schmerz es für sie sein müßte, wenn er fortging.
Als ihm das einfiel, begann er zu weinen.
Aber in demselben Augenblick fing er auch schon an, mit Donna Elisa ins Gericht zu gehen. Wie konnte sie so dumm sein und sich darüber grämen, wenn er fortging. Es sollte ja eine sehr große Freude für sie sein, daß er ein heiliger Mann werden wollte. Das sollte ihr Lohn sein, daß sie nach Palermo gekommen war und ihn geholt hatte. Er selbst weinte immer heftiger, während er so Donna Elisa zu trösten versuchte. Sie tat ihm so leid, denn sie wollte gar nicht verstehen, welchen Lohn sie da bekam.
Sie brauche ja gar nicht traurig zu sein, meinte er. Nur zehn Jahre wollte er auf dem Berg zubringen, dann würde er als der berühmte Eremit Fra Gaetano zurückkehren. Dann würde er durch die Straßen von Diamante ziehen, in Begleitung eines großen Volkshaufens, gerade wie Pater Gondo. Und in den Straßen würden dann die Fahnen heraushängen und alle Häuser mit Decken und Teppichen und Kränzen geschmückt sein; Donna Elisa würde ihn nicht erkennen, sondern Anstalten machen, vor ihm auf die Knie zu fallen. Aber das würde er nicht zulassen, er selbst würde vor Donna Elisa auf die Knie sinken und sie um Vergebung bitten, daß er vor zehn Jahren davongelaufen sei. »Gaetano«, würde Donna Elisa dann sagen, »du schenkst mir ein Meer der Freude für ein kleines Bächlein des Leids. Sollte ich dir da nicht vergeben?«
Gaetano sah dies alles vor sich, und es war so schön, daß er immer heftiger weinte. Er fürchtete nur, Donna Elisa könne sein Schluchzen hören und herauskommen und ihn hier finden. Und dann würde sie ihn nicht gehen lassen.
Er mußte recht vernünftig mit ihr reden. Könnte er ihr je eine größere Freude machen, als wenn er jetzt fortginge? wollte er sagen.
Aber es handelte sich nicht allein um Donna Elisa; da waren auch noch Luca und Pacifica, die ebenso glücklich sein würden, wenn er als ein Heiliger wiederkäme.
Sie würden alle mit ihm auf den Markt gehen. Da würden noch mehr Flaggen heraushängen als in den Straßen, und Gaetano würde von der Rathausstaffel aus sprechen. Und aus allen Gassen und Winkeln würden die Leute herbeiströmen.
Dann würde Gaetano so reden, daß alles Volk auf die Knie sänke und riefe: »Segne uns, Fra Gaetano, segne uns!«
Und dann würde er nicht mehr von Diamante fortgehen. Unter der großen Treppe vor Donna Elisas Laden würde er seine Heimstätte aufschlagen.
Und sie würden die Kranken zu ihm bringen, und die Betrübten würden zu ihm wallfahrten.
Wenn der Sindaco von Diamante vorbeikäme, würde er ihm die Hand küssen.
Donna Elisa würde Gaetanos Bild in ihrem Laden verkaufen. Und Donna Elisas Patenkind, Giannita, würde sich vor Gaetano verneigen und ihn niemals wieder einen dummen Mönchsjungen nennen. Und Donna Elisa würde sehr glücklich sein ...
*
Ah ...! Gaetano erwachte und sprang auf. Es war heller Tag; Donna Elisa und Pacifica standen vor ihm und betrachteten ihn. Gaetano saß auf der Treppe, die Schuhe unter dem Arm, den Hut auf dem Kopf und das Bündel zu seinen Füßen. Aber Donna Elisa und Pacifica weinten.
»Warum sitzt du denn hier, Gaetano?«
»Donna Elisa, ich wollte davonlaufen.«
Gaetano war guter Laune und antwortete so frisch, als wäre das Davonlaufen die natürlichste Sache der Welt gewesen.
»Du wolltest davonlaufen?« wiederholte Donna Elisa.
»Ja, ich wollte auf den Ätna gehen und Eremit werden.«
»Und warum sitzt du jetzt hier?«
»Ich weiß es nicht, Donna Elisa, ich muß eingeschlafen sein.«
Donna Elisa zeigte ihm nun, wie betrübt sie war. Sie preßte die Hände aufs Herz wie in großen Schmerzen und weinte heftig.
»Aber nun werde ich dableiben, Donna Elisa«, sagte Gaetano.
»Du, dableiben!« rief Donna Elisa. »Meinetwegen kannst du ruhig gehen. Sieh ihn an, Pacifica, so sieht ein Undankbarer aus! Er ist kein Alagona. Er ist ein Abenteurer.«
Gaetano stieg das Blut ins Gesicht; er stand auf und machte eine Bewegung mit der Hand, über die Donna Elisa erstaunte. Das war eine Gebärde, die alle Männer ihres Geschlechts an sich gehabt hatten. Das war ihr Vater und ihr Großvater; sie erkannte in dieser Bewegung alle die mächtigen Herren der Alagonas wieder.
»Ihr redet so, weil Ihr von nichts wißt«, sagte der Junge. »Nein, nein, Ihr wißt gar nichts, Ihr wißt nicht, warum ich Gott dienen muß. Aber ich werde es Euch jetzt sagen. Seht, es ist schon sehr lange her. Meine Eltern waren sehr arm, und wir hatten nichts zu essen. Vater ging fort, um Arbeit zu suchen; aber er kehrte nie wieder heim, und Mutter und wir Kinder, wir waren am Verhungern. Da sagte Mutter: ›Wir wollen gehen und Vater suchen.‹ Und wir machten uns auf den Weg. Es wurde Abend, und es kam ein heftiger Regen; an einer Stelle war der Weg ganz überschwemmt. Mutter fragte in einem Haus, ob wir da über Nacht bleiben dürften. Nein, man wies uns fort. Mutter und wir Kinder standen auf der Straße und weinten. Da raffte Mutter ihr Kleid hoch und ging in den Strom hinein, der über den Weg brauste. Sie hatte das kleine Schwesterchen auf dem Arm, die große Schwester an der Hand und ein großes Bündel auf dem Kopf. Ich ging so dicht wie möglich hinter ihr. Da sah ich, daß Mutter einen Fehltritt machte. Was sie auf dem Kopf trug, fiel ins Wasser; Mutter griff danach und ließ dabei das kleine Schwesterchen fallen. Sie griff nach dem Schwesterchen, und nun wurde die große Schwester fortgerissen. Mutter stürzte ihr nach, und da ergriff der Strom auch sie. Ich bekam Angst und sprang an Land. Pater Joseph hat mir gesagt, ich sei entkommen, damit ich Gott dienen und für die Toten beten könne. Und deshalb war zuerst bestimmt worden, daß ich Mönch werden solle. Deshalb wollte ich nun auch auf den Ätna gehen und Eremit werden. Es geht nicht anders, Donna Elisa, ich muß Gott dienen.«
Donna Elisa war ganz erschüttert.
»Ja, ja, Gaetano«, sagte sie, »aber es tut mir so leid. Ich will nicht, daß du mich verläßt.«
»Nein, ich werde auch nicht fortgehen«, sagte Gaetano. Er war in so guter Laune, daß er am liebsten hellauf gelacht hätte. »Nein, ich werde nicht gehen.«
»Soll ich nicht mit dem Priester reden, daß du in ein Seminar kommst?« fragte Donna Elisa.
»Nein, aber daß Ihr gar nichts versteht, Donna Elisa, daß Ihr auch gar nichts versteht! Ich sagte doch, daß ich nicht von Euch fortgehen werde. Ich habe mir etwas anderes ausgedacht.«
»Was hast du dir denn ausgedacht?« fragte sie. »Was meint Ihr wohl, was ich tat, als ich da auf der Treppe saß? Ich hatte einen Traum, Donna Elisa. Ich träumte, daß ich im Begriff sei, davonzulaufen. Ja, Donna Elisa, ich stand schon im Laden und wollte die Ladentür öffnen, aber ich konnte nicht, weil so viele Schlösser daran waren. Ich stand im Dunkeln und öffnete ein Schloß nach dem anderen, aber immer waren noch mehr da. Ich machte einen schrecklichen Lärm und dachte: ›Nun kommt gewiß Donna Elisa.‹ Endlich ging die Tür auf, und ich wollte hinausstürzen, aber gerade da fühlte ich Eure Hand auf meiner Schulter, und Ihr zogt mich zurück. Ich stieß mit den Füßen nach Euch und schlug um mich, weil Ihr mich nicht gehen lassen wolltet. Ihr aber hieltet ein Licht in der Hand, und ich sah, daß Ihr gar nicht mehr Donna Elisa wart, sondern meine Mutter.
Da wagte ich nicht mehr, mich zu widersetzen; ich fürchtete mich, denn meine Mutter ist ja tot. Aber Mutter nahm das Bündel, das ich trug, und begann es auszupacken. Sie lachte dabei und sah glücklich aus, und ich wurde auch froh, weil sie nicht böse auf mich war. Aber es war merkwürdig, was sie aus dem Bündel herausnahm. Die kleinen Heiligenbilder waren es, die ich geschnitzt hatte, während ich bei Euch im Laden war, und sie sahen sehr schön aus. ›Kannst du jetzt so schöne Bilder schnitzen, Gaetano?‹ fragte Mutter. – ›Ja‹, antwortete ich. –
›Dann kannst du damit Gott dienen‹, sagte Mutter. – ›Brauche ich dann nicht von Donna Elisa fortzugehen?‹ – ›Nein‹, sagte Mutter. Und gerade, als Mutter dies sagte, wecktet Ihr mich auf.«
Gaetano sah Donna Elisa triumphierend an.
»Was meinte nun meine Mutter damit?«
Donna Elisa war still vor Erstaunen.
Gaetano warf den Kopf zurück und lachte.
»Meine Mutter meinte, Ihr sollt mich in eine Lehre schicken, daß ich lerne, schöne Bilder von Engeln und Heiligen zu schnitzen, um damit Gott zu dienen.«