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Jetzt haben die blinden Sänger Woche um Woche von der Eisenbahn in Diamante gesungen, und die große Sammelbüchse in San Pasquales Kirche ist jeden Abend mit Gaben gefüllt gewesen. An den Ätnaabhängen mißt und steckt Signor Alfredo die Eisenbahn ab, und die Spinnweiber in den dunklen Gassen erzählen von herrlichen Wundern, die das kleine Christusbild in der verachteten Kirche vollbracht hat. Von den reichen und mächtigen Männern, die Land auf dem Ätna besitzen, kommt ein Brief nach dem anderen, in dem sie Boden für das segensreiche Unternehmen anbieten. In diesen letzten Wochen kommen alle Menschen mit Geschenken an. Einige bringen Backsteine zum Bahnhofsgebäude, einige schenken Pulver zum Sprengen der Lavablöcke, und wieder andere spenden Mahlzeiten für die Arbeiter. Aber die Armen in Corvaja, die nichts zu geben haben, kommen nachts, wenn sie mit ihrer Arbeit fertig sind. Sie schleichen sich mit Spaten und Schubkarren hinaus auf den Ätna, graben den Boden um und bauen an der Straße. Wenn dann Signor Alfredo und seine Leute am nächsten Morgen kommen, müssen sie glauben, die Wichtelmännchen des Ätnas hätten sich aus ihren Lavaströmen aufgemacht und ihnen bei der Arbeit geholfen.
Aber während dieser ganzen Zeit hat man gefragt und geforscht. Wo ist der Ätnakönig Falco Falcone? Wo ist der mächtige Falco, der seit fünfundzwanzig Jahren die Ätnaabhänge beherrscht? Er schrieb an Don Ferrantes Witwe, daß sie die Eisenbahn nicht bauen dürfe. Was meinte er mit dieser Drohung? Warum verhält er sich ruhig, wenn man seinem Gebot trotzt? Warum schießt er Corvajas Leute nicht nieder, wenn sie mit Schubkarren und Hacken bei Nacht daherkommen? Warum schleppt er die blinden Sänger nicht in den Steinbruch und peitscht sie aus? Warum läßt er Donna Micaela nicht aus dem Sommerpalast entführen, um als Lösegeld für sie die Einstellung des Eisenbahnbaues zu verlangen?
Und Donna Micaela selbst fragt: »Hat Falco Falcone sein Wort vergessen, oder wartet er mit dem Zuschlagen, bis er mich am härtesten treffen kann?«
Wann wird der Aschenregen über die Eisenbahn herabfallen und sie begraben? Wann wird die Sturmflut des Mongibello über sie hinbrausen? Wann ist der Augenblick gekommen, wo der mächtige Falco Falcone sie zerstören wird?
Während man so darauf wartet, daß Falco Falcone die Eisenbahn zerstören werde, wird sehr viel von ihm gesprochen, besonders unter den Arbeitern, die dem Signor Alfredo zur Seite stehen.
*
Dem Eingang der Kirche San Pasquale gerade gegenüber steht auf einem kahlen Felsenhang ein kleines Häuschen. Das Haus ist so schmal und hoch, daß es einer Schornsteinwand ähnlich sieht, die von einem abgebrannten Gebäude übriggeblieben ist. Es ist so eng darin, daß man keine Treppe anbringen konnte und diese sich nun draußen an der Mauer hinaufschlängelt. Da und dort hängt ein Balkon oder ein anderer Ausbau, die aber nicht gleichmäßiger angebracht sind als die Vogelnester an einem Baumstamm. In diesem Haus ist Falco Falcone geboren, und seine Eltern waren nur arme Arbeitsleute. Aber in dieser ärmlichen Wohnung war Falco der Hochmut eingepflanzt worden. Seine Mutter war eine unglückliche Frau, die während der ersten Jahre ihrer Ehe nur Töchter zur Welt brachte. Deshalb wurde sie von ihrem Mann und allen Nachbarn verachtet.
Diese arme Frau wünschte sich nun nichts anderes als einen Sohn, und als sie ihr fünftes Kind erwartete, streute sie jeden Tag Salz auf die Türschwelle und paßte genau auf, wer sie danach zuerst überschritt. Würde es ein Mann oder eine Frau sein! Je nachdem würde sie einen Sohn oder eine Tochter gebären. Jeden Tag rechnete sie immer wieder von neuem. Sie zählte die Buchstaben in dem Monat, wo das Kind zur Welt kommen sollte. Sie zählte die Buchstaben in dem Namen ihres Mannes und in ihrem eigenen. Sie zählte sie zusammen und zog sie voneinander ab. Es kam eine gerade Zahl heraus. Also würde sie einen Sohn gebären! Am nächsten Tag rechnete sie aufs neue. »Vielleicht habe ich falsch gerechnet«, sagte sie.
Als Falco zur Welt gekommen war, widerfuhr seiner Mutter so große Ehre, daß sie ihn schon darum lieber hatte als ihre anderen Kinder. Als der Vater ins Zimmer trat, um das Kind zu sehen, nahm er die Mütze ab und verbeugte sich tief vor ihr. Über der Tür des Hauses wurde als Ehrenzeichen ein Hut aufgestellt; das Badewasser des Kindes goß man auf die Türschwelle und ließ es auf die Straße laufen. Als Falco zur Kirche getragen wurde, legte man ihn auf den rechten Arm seiner Patin, und als die Nachbarinnen seine Mutter besuchten, verneigten sie sich vor dem Kind, das in der Wiege schlummerte.
Falco war auch größer und stärker, als kleine Kinder zu sein pflegen. Er brachte struppiges Haar mit zur Welt, und als er acht Tage alt war, bekam er schon den ersten Zahn. Aber wenn seine Mutter ihn an die Brust legte, war er sehr ungebärdig; doch sie lachte nur und sagte: »Ich glaube, ich habe einen Helden zur Welt gebracht.«
Sie erwartete immer große Taten von Falco, und sie war es auch, die ihm den Hochmut einpflanzte. Aber wer sonst erwartete wohl etwas von ihm? Falco konnte ja nicht einmal lesen lernen. Seine Mutter nahm das Buch und versuchte, ihn die Buchstaben zu lehren. Sie deutete auf das A. »Dies ist der große Hut.« Sie deutete auf das B. »Dies ist die Brille.« Sie deutete auf das C. »Dies ist die Schlange.« Das begriff er. Dann sagte seine Mutter: »Wenn du eine Brille und den großen Hut zusammensetzt, denn heißt es ›Ba‹. Das konnte er jedoch nicht begreifen. Er wurde zornig und schlug seine Mutter. Da ließ sie ihn in Ruhe. »Es wird doch ein großer Mann aus dir«, sagte sie.
Falco war in seiner Kindheit faul und boshaft. Als kleiner Knirps wollte er nicht spielen, als erwachsener junger Mann nicht tanzen, und er hatte auch keine Liebste. Aber er ging gern dahin, wo man mit Streitereien rechnen konnte.
Falco hatte zwei Brüder, die wie andere Menschen waren und viel höher geschätzt wurden als er. Falco fühlte sich verletzt, weil er sich hinter seinen Brüdern zurückgesetzt sah, aber er war zu stolz, um es zu zeigen. Und seine Mutter stand immer auf seiner Seite. Seit dem Tode seines Vaters ließ sie ihn stets oben am Tisch sitzen und erlaubte nie, daß man ihn verspottete. »Mein ältester Sohn ist der Vornehmste von euch allen«, pflegte sie zu sagen.
Wenn man sich nun in Diamante an alles das erinnerte, sagte man: »Falco ist hochmütig, er wird seine Ehre darauf setzen, die Eisenbahn zu zerstören.«
Und kaum hatte man sich damit in Angst versetzt, als einem auch noch weitere Geschichten von Falco Falcone einfielen.
Dreißig Jahre lang hatte Falco ganz wie andere arme Leute auf dem Ätna gelebt. Montag früh ging er mit seinen Brüdern zur Arbeit aufs Feld hinaus. Er hatte das Brot für die ganze Woche in seinem Beutel und kochte sich Suppe aus Bohnen und Reis wie jeder andere auch. Und er war froh, wenn er am Samstagabend wieder nach Hause zurückkehren konnte. Er war froh, den Tisch mit Wein und Makkaroni gedeckt und das Bett mit weichen Kissen ausgestattet zu finden.
Es war an einem solchen Samstagabend. Falco und seine Brüder befanden sich auf dem Heimweg, und Falco ging wie gewöhnlich ein Stück hinter den anderen, denn er hatte einen schwerfälligen und langsamen Gang. Aber sieh da, als die Brüder nach Hause kamen, stand kein Abendbrot bereit, die Betten waren nicht gemacht, und dicker Staub lag auf der Türschwelle. Was war denn das? Waren alle daheim gestorben? Da sahen sie ihre Mutter in einem dunklen Winkel am Boden kauern. Sie hatte das Haar über das Gesicht hereingezogen und zeichnete mit den Fingern auf den Fußboden.
»Was ist geschehen?« fragten die Brüder.
Sie sah nicht auf; sie sprach, als wende sie sich an die Erde: »Wir sind verarmt, verarmt!« sagte sie.
»Wollen Sie uns das Haus nehmen?« riefen die Brüder.
»Man will uns die Ehre und das Brot nehmen.«
Dann erzählte sie: »Eure älteste Schwester war im Dienst bei Bäcker Gasparo, und es ist ein guter Dienst gewesen. Signor Gasparo gab Pepa alles Brot, das im Laden übrigblieb, und sie brachte es mit. Es ist immer so viel gewesen, daß es für uns alle reichte. Ich war sehr froh, daß Pepa diesen Dienst hatte. Dies verschafft mir ein sorgenfreies Alter, dachte ich. Aber am letzten Montag kam Pepa weinend nach Hause. Signora Gasparo hatte sie fortgejagt.«
»Was hatte Pepa getan?« fragte Nino, der Zweitälteste der Brüder.
»Signora Gasparo hatte Pepa beschuldigt, sie stehle das Brot. Ich ging zu Signora Gasparo und bat sie, Pepa wieder aufzunehmen. ›Nein‹, sagte sie, ›das Mädchen ist nicht ehrlich.‹ ›Pepa hat das Brot von Signor Gasparo bekommen‹, sagte ich, ›fragt ihn nur.‹ ›Ich kann ihn nicht fragen‹, erwiderte die Signora, ›er ist verreist und kommt erst im nächsten Monat wieder zurück.‹ ›Signora‹, sagte ich, ›wir sind sehr arm. Nehmt Pepa wieder in Euren Dienst.‹ ›Nein‹, sagte sie, ›ich selbst werde Signor Gasparo verlassen, wenn er das Mädchen wieder anstellt.‹ ›Nimm dich in acht‹, sagte ich, ›wenn du mir das Brot nimmst, nehme ich dir das Leben.‹ Da bekam sie Angst und rief ihre Leute herbei, so daß ich gehen mußte.«
»Da ist nichts zu machen«, sagte Nino. »Pepa muß sich eben einen anderen Dienst suchen.«
»Nino«, sagte Mutter Zia, »du weißt nicht, was dieses Weib über Signor Gasparo und Pepa zu den Nachbarinnen gesagt hat.«
»Wer kann die Weiber am Klatschen hindern?« sagte Nino.
»Wenn Pepa nun nichts anderes zu tun hat, hätte sie wenigstens etwas für uns kochen können«, sagte Turiddo.
»Signora Gasparo hat gesagt, ihr Mann habe Pepa das Brot stehlen lassen, damit sie ...«
»Mutter«, unterbrach sie Nino mit dunkelrotem Kopf. »Ich habe keine Lust, mich um Pepas willen auf die Galeeren schicken zu lassen.«
»Gute Christen kommen nicht auf die Galeeren«, sagte Mutter Zia.
»Nino«, sagte Turiddo, »wir müssen in die Stadt gehen und etwas zum Essen holen.«
Als sie dies sagten, hörten sie jemand hinter sich lachen. Falco war es, der gelacht hatte.
Eine Weile später trat Falco in den Laden der Signora Gasparo und verlangte einen Laib Brot. Die arme Frau bekam Angst, als sie Pepas Bruder eintreten sah. Aber dann dachte sie: »Er kommt eben von der Arbeit zurück. Er ist noch nicht daheim gewesen. Er weiß noch nichts.«
»Beppo«, sagte sie zu ihm; denn Falco hieß damals noch nicht Falco, »wie steht es mit der Weinernte?« Und sie war darauf gefaßt, daß er ihr keine Antwort geben würde.
Aber Falco war gesprächiger als sonst. Und er erzählte ihr sogleich, wieviel Trauben sie schon in die Presse gebracht hatten. »Wißt Ihr«, sagte er dann, »daß gestern unser Pächter ermordet worden ist?«
»Ach ja, der arme Signor Riego, ja, ich habe es gehört.« Und sie fragte, wie es zugegangen sei.
»Salvatore hat es getan. Aber es ist für eine Signora zu schrecklich zum Anhören.«
»O nein, wenn es getan wird, kann man es wohl auch anhören.«
»Salvatore ging auf ihn zu – seht so, Signora!« Falcone zog sein Messer heraus und legte der Frau die Hand auf die Brust. »So schnitt er ihm die Kehle durch, von einem Ohr zum anderen.«
Aber indem Falcone dies sagte, tat er es auch. Die Frau konnte nicht einmal mehr einen Schrei ausstoßen. Der Schnitt war meisterhaft ausgeführt.
Danach kam Falco auf die Galeeren, und er blieb fünf Jahre fort.
Wenn man dies erzählt, wächst das Grausen in Diamante. »Falco ist mutig«, heißt es. »Nichts auf der Welt vermöchte ihm einen Schrecken einzujagen, so daß er sein Vorhaben aufgäbe.«
Und dann denkt man gleich noch an eine andere Geschichte.
Falco kam auf die Galeeren in Augusta, und dort lernte er seinen Kameraden Biagio kennen, der seither unzertrennlich von ihm ist. Eines Tages bekamen Falco und Biagio und noch ein dritter Gefangener den Befehl, auf Feldarbeit zu gehen. Einer der Aufseher wollte sich einen Garten um sein Haus herum anlegen. Sie gingen ruhig hin und gruben die Erde um, aber ihre Blicke spähten nach allen Seiten umher. Sie waren außerhalb der Mauern, sie sahen die Ebene und die Berge, ja sie konnten sogar den Ätna sehen. »Jetzt ist es Zeit«, flüsterte Falco Biagio zu. »Lieber sterben, als wieder zurück ins Gefängnis«, flüsterte Biagio. Dann flüsterten sie dem dritten Gefangenen zu, daß er ihnen helfen müsse. Doch dieser wollte nicht, weil er seine Strafe beinahe verbüßt hatte. »Dann bringen wir dich um«, sagten die beiden anderen. Da gab er nach.
Aber der Wachtsoldat stand mit geladenem Gewehr dicht hinter ihnen. Wegen ihrer Fußfesseln mußten sie mit gleichen Füßen auf ihn losspringen. Sie schwangen ihre Spaten über ihm, und ehe er nur ans Schießen denken konnte, war er niedergeworfen, geknebelt und ihm der Mund mit einem Stück Rasen verstopft. Nun schlugen die Gefangenen ihre Ketten mit dem Spaten entzwei, daß sie ausschreiten konnten. Dann schlichen sie sich über die Ebene hin und in die Berge hinein.
Als die Nacht anbrach, verließen Falco und Biagio den Gefangenen, den sie mitgenommen hatten, in aller Stille. Er war alt und schwach und hätte sie nur auf ihrer Flucht gehindert. Am nächsten Tag wurde er von den Karabinieri aufgegriffen und erschossen.
Man schaudert in Diamante, wenn man an diese Geschichte denkt. »Falco ist unbarmherzig«, heißt es. Man ist überzeugt, daß er die Eisenbahn nicht verschonen wird.
Eine Geschichte nach der anderen taucht auf und jagt den armen Menschen, die draußen auf dem Ätna arbeiten, Schrecken und Entsetzen ein. Man erzählt von den sechzehn Morden, die Falco Falcone begangen hat. Man erzählt von seinen Überfällen und Raubanschlägen.
Und eine Geschichte erschreckt die Leute noch mehr als alle anderen.
Als Falco von den Galeeren zurückkehrte, erzählt man, hielt er sich in Wäldern und Höhlen und in dem großen Steinbruch bei Diamante auf. Bald hatte er eine große Schar um sich versammelt. Und er wurde ein mächtiger und berüchtigter Räuberhauptmann. Von da an bekamen seine Angehörigen ein ganz anderes Ansehen als bisher. Man achtete sie, wie man die Gewaltigen achtet. Sie brauchten kaum zu arbeiten, denn Falco liebte seine Familie und war freigebig gegen sie. Aber er war nicht nachsichtig, sondern sehr streng.
Mutter Zia war tot; Nino hatte geheiratet und wohnte im väterlichen Haus. Eines Tages nun, als Nino Geld brauchte, wußte er sich keinen anderen Rat, als zum Pfarrer zu gehen, nicht zu Don Matteo, sondern zu dem alten Don Giovanni.
»Hochwürden«, sagte Nino zu ihm, »mein Bruder bittet Euch um fünfhundert Lire.«
»Woher sollte ich fünfhundert Lire nehmen?« sagte Don Giovanni.
»Mein Bruder braucht das Geld notwendig«, sagte Nino.
Da versprach der alte Don Giovanni, ihm das Geld zu geben, wenn er nur Zeit bekäme, es sich zu verschaffen. Nino ging nur ungern darauf ein. »Du kannst doch nicht verlangen, daß ich fünfhundert Lire aus meiner Schnupftabaksdose herausleere«, sagte Don Giovanni. Da bewilligte ihm Nino drei Tage Frist. »Aber hütet Euch, meinem Bruder während der Zeit zu begegnen«, sagte er.
Am nächsten Tag ritt Don Giovanni nach Ricolosi; er wollte sehen, ob es ihm gelänge, eine Forderung einzutreiben. Doch wem anders begegnete er auf dem Weg, als Falco mit zweien seiner Spießgesellen. Don Giovanni sprang von seinem Esel und warf sich vor Falco auf die Knie.
»Was soll das heißen, Don Giovanni?«
»Ich habe noch kein Geld für dich, Falco, aber ich will eben versuchen, es dir zu verschaffen. Habe Barmherzigkeit mit mir!«
Falco fragte, und Don Giovanni erzählte. »Hochwürden«, sagte Falco, »man hat Euch betrügen wollen.«
Und er befahl Don Giovanni, ihn nach Diamante zu begleiten. Als sie an dem alten Haus ankamen, ritt Don Giovanni hinter San Pasquales Mauer, und Falco rief Nino heraus. Nino trat auf einen der Balkone. »Ei, Nino«, sagte Falco und lachte. »Du hast dem Pfarrer Geld abgeschwindelt.«
»Weißt du es schon?« fragte Nino. »Ich wollte es dir eben erzählen.«
Da wurde Falco strenger. »Nino«, sagte er, »der Pfarrer ist mein Freund, und er glaubt nun, ich hätte ihn ausplündern wollen. Du hast sehr schlecht gehandelt.« Damit setzte er die Büchse an die Wange und schoß Nino nieder. Nachdem er dies getan hatte, wandte er sich an Don Giovanni, der vor Schreck beinahe von seinem Esel gefallen wäre. »Nun seht Ihr, Hochwürden, daß ich keinen Anteil an Ninos Anschlag gehabt habe.«
Das war vor zwanzig Jahren geschehen, als Falco erst fünf Jahre lang Räuber gewesen war.
Und wenn diese Geschichten erzählt werden, sagt man: »Sollte Falco die Eisenbahn verschonen, da er seinen eigenen Bruder nicht verschont hat?«
Man entsinnt sich auch noch anderer Beispiele.
Durch Ninos Ermordung zog Falco eine Vendetta auf sich. Als Ninos Frau ihren Mann tot fand, erschrak sie so sehr, daß sie auf einer Seite gelähmt wurde und nicht mehr gehen konnte. Aber von nun an war ihr Platz in der alten Hütte am Fenster. Da saß sie nun seit zwanzig Jahren, die Büchse neben sich, und wartete auf Falco. Und vor ihr fürchtete sich der große Räuber. Seit zwanzig Jahren war er nicht ein einziges Mal an seinem Elternhaus vorübergegangen.
Die Frau hatte ihren Posten nicht verlassen. Nie kam jemand in die Kirche San Pasquale, ohne daß ihre rachgierigen Augen durch das Fenster spähten. Wer sah sie je schlafen, wer sah sie arbeiten? Sie konnte nichts anderes tun, als dem Mörder ihres Mannes auflauern.
Wenn man das hört, wird man in Diamante noch ängstlicher. »Falco hat Glück«, heißt es. »Das Weib, das ihn töten will, vermag sich nicht von der Stelle zu bewegen. Er hat Glück. Es wird ihm auch gelingen, die Eisenbahn zu zerstören.«
Das Glück hat Falco noch nie verlassen. Die Karabinieri haben oft Jagd auf ihn gemacht, haben ihn aber nie fangen können. Die Karabinieri fürchteten sich fast mehr vor Falco, als Falco sich vor den Karabinieri fürchtete.
Man erzählt eine Geschichte von einem jungen Karabiniereleutnant, der einmal Falco fangen wollte. Er hatte eine Treibjagd angeordnet und verfolgte Falco von Dickicht zu Dickicht. Endlich war der Offizier ganz sicher, daß er ihn in einem Wäldchen eingeschlossen hatte. Das Gehölz war dicht umstellt, und der Offizier ging, die Büchse in der Hand, in den Wald hinein. Aber wie er auch suchte, er konnte Falco nicht entdecken. Er ging wieder heraus und begegnete einem Bauern. »Hast du Falco Falcone gesehen?« – »Ja, Signor, er ging eben an mir vorüber, und bat mich, Euch zu grüßen ...« – »Diavolo!« – »Er habe Euch drinnen im Dickicht gesehen und hätte Euch beinahe erschossen, aber er tat es nicht, weil er dachte, es sei wohl Eure Pflicht, ihn zu verfolgen.« – »Diavolo! Diavolo!« – »Wenn Ihr es jedoch noch einmal versuchen würdet ...« – »Diavolo! Diavolo! Diavolo!«
Meint ihr, der Leutnant sei wiedergekommen? Meint ihr nicht, daß er sich sogleich in eine andere Gegend versetzen ließ, wo er nicht Jagd auf Räuber zu machen brauchte?
Und die Arbeiter, die auf den Ätna hinausgehen, fragen sich: »Wer wird uns gegen Falco Falcone beistehen? Er ist fürchterlich. Selbst die Soldaten zittern vor ihm.«
Sie sagen sich, daß Falco Falcone nun ein alter Mann sei. Er plündert keine Postwagen mehr, er entführt auch keine Gutsbesitzer mehr. Meistens hält er sich ruhig in dem Steinbruch bei Diamante auf, und anstatt Geld und Gut zu rauben, nimmt er jetzt Geld und Gut in Obhut. Er erhebt Abgaben von den großen Gutsbesitzern dafür, daß er ihre Güter vor anderen Dieben schützt, und so ist es still und friedlich geworden auf dem Ätna, denn er gestattet niemandem, denen Böses zu tun, die ihm Abgaben entrichtet haben.
Aber das beruhigt niemand. Seit Falco der Freund der Großen geworden ist, kann er der Eisenbahn ja um so leichter schaden.
Und die Geschichte von Niccolo Gallo fällt ihnen ein, der am südlichen Ätna auf dem Gut des Marquis San Stephano Inspektor ist. Einmal streikten seine Arbeiter mitten in der Ernte. Niccolo Gallo geriet in Verzweiflung darüber. Der Weizen war vollständig reif, und er konnte ihn nicht schneiden lassen. Seine Arbeiter wollten nicht, sie schliefen am Wiesenrain.
Niccolo setzte sich auf einen Esel und ritt nach Catania hinunter, um seinen Herrn um Rat zu fragen. Auf dem Weg kamen ihm zwei Männer mit der Büchse auf der Schulter entgegen. »Wo willst du hin, Niccolo?«
Ehe Niccolo Auskunft geben konnte, faßten sie seinen Esel beim Zügel und drehten ihn um. »Du darfst nicht zum Marquis reiten, Niccolo.« – »Nicht?« – »Nein, du mußt nach Hause reiten.«
Rasch ging es die Straße wieder zurück; Niccolo saß zitternd auf seinem Esel. Als sie den Gutshof erreicht hatten, sagte der eine der Männer: »Zeige uns nun den Acker.« Und Niccolo führte sie zu den Arbeitern hinaus. »Wollt ihr wohl arbeiten, ihr Faulenzer! Der Marquis hat Falco Falcone seine Abgabe bezahlt. Ihr könnt anderswo streiken, aber nicht hier!« – Nun, das Feld wurde geschnitten wie kein anderes. Falco stand auf der einen Seite des Ackers und Biagio auf der anderen. Wenn man solche Inspektoren hat, ist die Arbeit schnell getan.
Wenn man sich an all das erinnert, wird die Furcht in Diamante nicht geringer. »Falco hält Wort«, heißt es. »Er wird seine Drohung wahr machen. Noch ist keiner so lange Räuberhauptmann gewesen wie Falco. Alle anderen berühmten Helden sind gefallen oder gefangen worden. Er allein hält sich mit unglaublichem Glück und großer Kunst in seinem Handwerk am Leben.«
Ganz allmählich hat er alle seine Verwandten um sich versammelt. Seine Schwäger und Neffen sind alle bei ihm. Die meisten sind schon auf den Galeeren gewesen. Keiner von ihnen fragt danach, was er im Gefängnis erduldet hat, die Hauptsache ist ihm, ob Falco mit ihm zufrieden ist. In den Zeitungen wird oft von Falcos Heldentaten berichtet. Man weiß, daß die Engländer ihrem Führer einen Zehnlireschein in die Hand drücken, wenn er ihnen Falcones Steinbruch zeigt; man weiß, daß die Karabinieri nicht mehr auf ihn schießen, weil er der letzte große Räuber ist.
Er hat so wenig Angst, gefangen zu werden, daß er oft nach Messina und Palermo geht. Er ist sogar über die Meerenge gefahren und in Italien gewesen. Er fuhr nach Neapel, als Kaiser Wilhelm und König Umberto dort waren und das Panzerschiff tauften. Er reiste nach Rom, als Umberto und Margherita ihre silberne Hochzeit feierten.
Man denkt an das alles und zittert. »Falco ist beliebt und bewundert«, sagen die Arbeiter. »Man huldigt Falco. Er hat die Freiheit, zu tun, was er will.«
Man weiß auch, daß Falco bei der silbernen Hochzeit der Königin Margherita unter den Zuschauern war; das Fest gefiel ihm so gut, daß er sagte: »Wenn ich fünfundzwanzig Jahre auf dem Ätna gelebt habe, werde ich meine silberne Hochzeit mit dem Mongibello feiern.«
Die Menschen haben darüber gelacht und gesagt, Falco habe da einen guten Gedanken gehabt. Er habe zwar niemals eine Geliebte gehabt, aber der Mongibello mit seinen Höhlen und Wäldern und Kratern und Eisfeldern habe ihm wie eine Frau gedient und ihn beschützt. Niemandem auf der Welt sei Falco mehr Dank schuldig als dem Mongibello.
Man fragt, wann Falco und der Mongibello ihre silberne Hochzeit feiern werden? Und die Antwort lautet: In diesem Frühling. Da denken die Arbeiter: »An diesem Tag wird er unsere Eisenbahn zerstören.«
Sie sind voller Angst und Sorge. Sie wagen fast nicht, weiter zu arbeiten. Je näher die Zeit heranrückt, wo Falco seinen Bund mit dem Mongibello feiern wird, desto mehr Arbeiter verlassen Don Alfredo. Bald ist er fast allein bei der Arbeit.
*
Es gibt nicht viele Leute in Diamante, die den großen Steinbruch auf dem Ätna draußen gesehen haben. Die meisten meiden ihn, weil Falco Falcone dort haust. Sie haben sich wohl gehütet, in die Schußweite seiner Büchse zu kommen.
Sie haben die große Schlucht an der einen Seite des Mongibello nicht gesehen, jene Schlucht, aus der ihre Vorväter, die alten Griechen, in längst entschwundenen Zeiten ihre Steine holten. Sie haben die herrlich schimmernden Wände und die riesigen Felsblöcke, die geborstenen Säulen gleichen, nicht gesehen. Und sie wissen vielleicht nicht, daß auf dem Grunde des Steinbruchs prächtigere Blumen blühen, als in einem Gewächshaus. Dort ist nicht mehr Sizilien, dort ist Indien.
Im Steinbruch stehen die Mandarinenbäume mit gelben Früchten so über und über beladen, daß man sie für riesengroße Sonnenblumen halten kann, und die Rosen werden da so groß wie Tamburinböden. Und auf dem Boden zwischen den Bäumen liegen große Mengen herrlicher Königsfeigen und mit Flaum bedeckte Pfirsiche, die auf abgefallenen Rosenblättern ruhen.
Eines Abends sitzt Falco allein im Steinbruch. Er windet einen Kranz und hat eine große Menge Blumen vor sich liegen. Sein Bindfaden ist so dick wie ein Strick, und er hält das Knäuel mit dem Fuß fest, damit es ihm nicht davonrolle. Er hat seine Brille aufgesetzt, aber sie gleitet ihm immer wieder über die gebogene Nase tief herab.
Falco stößt wilde Flüche aus, denn seine Hände sind steif von harten Schwielen, die er von dem beständigen Handhaben der Büchse hat, und verstehen nicht, mit Blumen umzugehen. Seine Finger halten die Blüten wie mit eisernen Zangen fest. Und Falco schilt, daß die Blätter der Lilien und Anemonen zerfallen, wenn er sie nur ansehe.
Falco sitzt in seinen Lederhosen und dem langen, zugeknöpften Rock so von Blumen umringt da, wie ein Heiliger an seinem Namenstag. Biagio und sein Neffe Passafiore haben die Blumen für ihn gesammelt, einen ganzen Ätna der schönsten Blumen des Steinbruchs haben sie vor ihm aufgehäuft. Falco hat nur zu wählen zwischen Lilien und Kaktusblüten und Rosen und Pelargonien. Und er brüllt die Blumen an, er will sie unter seinen Ledersandalen zertreten, wenn sie sich nicht seinem Willen fügen.
Noch nie hat Falco Falcone etwas mit Blumen zu tun gehabt. Sein ganzes Leben lang hat er nie einem Mädchen ein Sträußchen gebunden, noch eine Rose gepflückt, um sie in sein Knopfloch zu stecken. Er hat nicht einmal einen Kranz auf das Grab seiner Mutter gelegt.
Deshalb werden auch die zarten Blüten widerspenstig in seinen Händen. Blumenranken setzen sich in seinem Haar fest und bleiben ihm am Hut hängen, und auch in seinem borstigen Bart haben sich Blumenblätter verfangen. Er schüttelt heftig den Kopf, und die Narbe auf seiner Wange wird feuerrot wie in früheren Tagen, als er mit den Karabinieri kämpfte.
Trotzdem wächst der Kranz; dick wie ein Baumstamm schlingt er sich um Falcones Füße. Falco flucht darüber, als sei es die eiserne Kette, die er einst zwischen den Fußgelenken trug. Wenn er sich an einem Dorn reißt oder an einer Nessel brennt, jammert er lauter als damals, als die Peitsche des Galeerenaufsehers ihm den Rücken wund schlug. Biagio und sein Neffe Passafiore wagen nicht zum Vorschein zu kommen, sondern halten sich in einer Höhle versteckt, bis alles fertig ist. Sie lachen aus vollem Hals über Falco, denn ein solches Jammergestöhne hat man im Steinbruch nicht vernommen, seit unglückliche Kriegsgefangene hier ihre Zwangsarbeit verrichten mußten. Aber Biagio richtet den Blick auf den großen Ätna, der im Abendschein rot erglüht.
»Sieh den Mongibello an«, sagt er zu Passafiore, »sieh, wie er errötet; er ahnt, was Falco hier unten im Steinbruch tut.« Und Passafiore antwortet: »Der Mongibello hätte wohl nie geglaubt, daß er etwas anderes auf seinen Scheitel bekommen würde als Asche und Schnee.«
Aber plötzlich hört Biagio auf zu lachen. »Das geht nicht gut, Passafiore«, sagt er. »Falco ist hochmütig geworden. Ich fürchte, der große Mongibello wird ihm einen Streich spielen.«
Die beiden Banditen sehen einander forschend in die Augen. »Es ist gut, wenn es nur Hochmut ist«, sagt Passafiore. Aber dann wenden sie die Augen ab; sie wagen nicht, noch mehr zu sagen. Derselbe Gedanke, dieselbe Angst hat beide ergriffen. Falco ist auf dem Weg, wahnsinnig zu werden. In manchen Augenblicken ist er es jetzt schon. So geht es mit den großen Räuberhelden. Sie können ihre Ehre und ihre Größe nicht ertragen, sie werden alle wahnsinnig. Passafiore und Biagio sehen es schon lange kommen, aber jeder hat es im tiefsten Herzen verschlossen, und jeder hatte von dem anderen gehofft, daß er es nicht gemerkt habe. Nun wissen sie, daß beide Kenntnis davon haben. Sie drücken einander schweigend die Hand. Es ist noch immer sehr viel großes an Falco. Alle beide, Biagio und Passafiore, werden wohl acht geben; kein Mensch soll erfahren, daß Falco nicht mehr der ist, der er früher war.
Endlich ist Falco mit seinem Kranz fertig geworden. Er hängt ihn auf seinen Büchsenlauf und gesellt sich nun zu den anderen. Dann gehen sie alle drei aus dem Steinbruch heraus und zum nächsten Hof. Dort nehmen sie Pferde, um den Gipfel des Mongibello so schnell wie möglich zu erreichen.
Sie reiten im Galopp, so daß sie nicht miteinander sprechen können, aber wenn sie an den Höfen vorüberjagen, sehen sie die Leute auf den platten Dächern tanzen. Und aus den Schuppen, wo die Feldarbeiter ihr Nachtlager haben, tönt Lachen und munteres Reden. Dort sitzen frohe, friedliche Menschen, die Rätsel lösen und Scherzreime machen. Aber Falco stürmt vorüber. Das ist nichts für ihn. Falco ist ein großer Mann.
Sie jagen den Berg hinauf. Zuerst reiten sie zwischen Mandelbäumen und Kaktusbüschen, dann unter Platanen und Pinien, dann unter Eichen und Kastanien dahin.
Aber die Nacht ist nicht hell, sie sehen nichts von der Herrlichkeit des Mongibello. Sie sehen nicht den rebenumschlungenen Monte Rosa, nicht die zweihundert Kratermündungen, die den schneebedeckten Gipfel des Ätna rings umgeben wie die Türme eine befestigte Stadt, sie sehen auch nicht den weiten, blumengeschmückten Waldboden.
Bei der Casa del Bosco, wo der Weg aufhört, steigen sie von den Pferden; Biagio und Passafiore nehmen den Kranz und tragen ihn zwischen sich. Aber während sie hinaufsteigen, fängt Falco ein Gespräch an. Er spricht gern, seit er alt geworden ist.
Und Falco sagt, der Berg gleiche den fünfundzwanzig Jahren seines Lebens, die er auf ihm zugebracht habe. In den Jahren, wo der Grund zu seiner Größe gelegt worden sei, habe es ringsum von seinen Heldentaten geblüht. Wer da mit ihm umhergezogen sei, dem sei es gewesen, als wandle er in einer endlosen Pergola, wo Zitronen und Trauben auf ihn herabhingen. Damals seien seine Taten zahllos gewesen wie die Orangen, die um den Fuß des Ätna wachsen. Als er höher hinaufgekommen sei, seien die Taten spärlicher geworden, aber alle, die er noch ausführte, seien gewaltig gewesen wie die Eichen und Kastanien an den steilen Abhängen. Und jetzt, wo er auf der Höhe seiner Größe stehe, verachte er die Taten. Sein Leben sei nun so kahl wie der Gipfel, er begnüge sich damit, die Welt zu seinen Füßen zu sehen. Aber soviel sei sicher, wenn er jetzt etwas unternehme, könne ihm niemand widerstehen. Er sei furchtbar wie die feuerspeiende Spitze.
Falco geht laut sprechend voran, Passafiore und Biagio folgen ihm in stummem Schmerz. Nur undeutlich sehen sie unter sich die gewaltigen Abhänge des Mongibello mit Städten und Feldern und Wäldern. Und Falco behauptet, er sei ebenso gewaltig wie das alles zu ihren Füßen. Je höher sie hinaufsteigen, desto unheimlicher wird es ringsumher. Die gähnenden Bergschluchten, der Schwefelrauch aus den Kratern, der sich bergab wälzt, weil er zu schwer ist, um gleich in die Luft zu steigen, das zitternde Beben des Berges, das beständige dumpfe Rollen in seinem Innern, das zugleich schlüpfrige und doch holperige Eisfeld mit den schäumenden Eiswasserbächen, die unbeschreibliche Kälte, der beißende Wind, alles das macht die Wanderung unheimlich. Und Falco sagt, dies gleiche ihm selbst! Wie mußte es dann in seiner Seele aussehen! Herrschte da eine Kälte und ein Grauen, die mit denen des Ätna zu vergleichen waren?
Sie stolpern über Eisstücke, sie arbeiten sich durch Schnee hindurch, der oft ellenhoch liegt. Der Bergwind reißt sie beinahe um, sie müssen durch halbgeschmolzenen Schnee und durch große Wasserlachen waten, denn am Tag davor hat die Sonne viel Schnee aufgetaut. Und während sie vor Kälte erstarren, erzittert die Erde unter ihnen vor dem ewigen Feuer.
Sie erinnern sich daran, daß Luzifer und alle die Verdammten da unten liegen.
Sie schaudern, daß Falco sie zur Pforte der Hölle geführt hat.
Aber sie gelangen doch über das Eisfeld hinüber und erreichen den steilen Aschenkegel auf dem Gipfel des Berges. Sie kämpfen sich hinauf, durch Bimssteingeröll und tiefe Asche hindurch, die ihnen unter den Füßen weggleiten. Als sie den Kegel zur Hälfte erstiegen haben, nimmt Falco den beiden anderen den Kranz ab und winkt ihnen, zurückzubleiben. Allein will er den Gipfel besteigen.
In diesem Augenblick beginnt es hell zu werden; der Tag graut, und als Falco die Höhe erreicht, bricht die Sonne hervor. Da wird der große Mongibello und auch der große Ätnaräuber auf seinem Gipfel von dem herrlichen Morgenschimmer rot überflutet. Aber der Schatten des Ätna fällt über ganz Sizilien hin, und es ist, als ob Falco, der da oben steht, quer über die Insel hin von Meer zu Meer reichte.
Falco steht da oben und schaut sich um. Er sieht nach Italien hinüber, er glaubt Neapel und Rom zu sehen. Er läßt seinen Blick über das Meer hinschweifen zum Land des Großfürsten im Osten und zum Reich der Sarazenen im Süden. – Alles liegt ihm zu Füßen und erkennt seine Größe an!
Dann legt Falco den Kranz auf dem Gipfel des Ätna nieder.
Als er zu seinen Kameraden zurückkehrt, drückt er ihnen ernst die Hände. Während er vom Kegel herabsteigt, sehen sie, daß er einen Bimsstein aufhebt und in die Tasche steckt. Falco nimmt ein Andenken mit an die schönste Stunde seines Lebens. So groß wie dort auf dem Gipfel des Mongibello hat er sich noch nie gefühlt.
Aber an diesem Freudentag will Falco nicht arbeiten. Am nächsten Tag, da wird er ans Werk gehen und den Mongibello von der Eisenbahn befreien, sagt er.
*
Zwischen Paterno und Aderno liegt ein einsames Gehöft am Wege. Es ist sehr ansehnlich und gehört Donna Silvia, einer Witwe, die viele kräftige Söhne hat. Es sind mutige Leute, die es wagen, das ganze Jahr über allein auf dem Lande zu leben.
Es ist am Tag, nachdem Falco den Mongibello bekränzt hat. Donna Silvia sitzt mit ihrem Spinnrocken vor der Tür. Sie ist ganz allein zu Hause, außer ihr befindet sich niemand auf dem Hofe. Da schleicht ein Bettler leise durchs Hoftor herein.
Es ist ein alter Mann mit einer langen, gebogenen Nase, die über die Oberlippe herabhängt, mit einem borstigen Bart und blassen, rotumränderten Augen. Es sind die häßlichsten Augen, die man sich denken kann; sie schielen, und das Weiße darin ist ganz gelb. Der Bettler ist sehr groß und mager; beim Gehen bewegt er den Körper in einer Weise, daß es aussieht, als winde er sich daher. Er tritt so leise auf, daß Donna Silvia ihn nicht kommen hört. Das erste, was sie von ihm sieht, ist sein Schatten, der sich dünn wie eine Schlange zu ihr herbewegt.
Als sie den Schatten bemerkt, schaut sie auf. Da verbeugt sich der Bettler vor ihr und bittet um Makkaroni. »Ich habe Makkaroni auf dem Feuer«, sagt Donna Silvia. »Setz dich und wart ein wenig, dann kannst du dich satt essen.«
Der Bettler setzt sich neben Donna Silvia, und sie beginnen miteinander zu sprechen. Das Gespräch kommt bald auf Falcone.
»Ist es wahr, daß Ihr Eure Söhne an Donna Micaelas Eisenbahn arbeiten laßt?« sagt der Bettler.
Donna Silvia preßt die Lippen zusammen und nickt bejahend.
»Ihr seid eine mutige Frau, Donna Silvia. Falco könnte sich dafür rächen.«
»Dann soll er sich nur rächen«, sagt Donna Silvia. »Aber ich will nicht jemandem gehorchen, der meinen Vater getötet hat. Er zwang ihn, aus dem Gefängnis in Augusta zu fliehen, und mein Vater wurde eingefangen und erschossen.«
Als sie dies gesagt hatte, steht sie auf und geht hinein, um das Essen zu holen.
Als sie in der Küche steht, fällt ihr Blick durchs Fenster auf den Bettler, der draußen auf der Bank sitzt und sich hin- und herwiegt. Er sitzt nicht einen Augenblick still, und vor ihm schlängelt sich sein Schatten schmal und geschmeidig wie eine Schlange.
Da erinnert sich Donna Silvia an einen Ausspruch, den Caterina, die mit Falcos Bruder Nino verheiratet gewesen war, einmal getan hatte. »Wie willst du Falco nach mehr als zwanzig Jahren wiedererkennen?« hatte man sie gefragt – »Sollte ich den Mann mit dem Schlangenschatten nicht wiedererkennen?« hatte sie geantwortet. »Den verliert er nicht, solange er lebt.«
Donna Silvia preßt die Hand aufs Herz. Da draußen auf dem Hof sitzt Falco Falcone. Er ist gekommen, um sich zu rächen, weil sie ihre Söhne an der Eisenbahn arbeiten läßt. Will er das Haus in Brand stecken, oder will er sie ermorden?
Donna Silvia zittert am ganzen Körper, als sie ihm die Makkaroni herausschöpft.
Aber Falco wird die Zeit lang, während er da auf der Steinbank sitzt. Da kommt ein kleiner Hund herbeigelaufen und reibt sich an seinem Bein. Falco faßt in die Tasche nach Brot, findet aber nur einen Stein, den er dem Hund hinwirft.
Der Hund springt nach dem Stein und bringt ihn gleich zu Falco zurück. Falco wirft ihn noch einmal fort. Der Hund holt den Stein wieder, aber nun läuft er mit ihm davon. Da fällt es Falco ein, daß das der Stein ist, den er vom Mongibello mitgenommen hat, und er geht dem Hund nach, um ihn wiederzubekommen. Er pfeift dem Hund, der auch eilig zurückkehrt.
»Gib den Stein her!«
Der Hund legt den Kopf auf die Seite und will ihn nicht hergeben.
»Gib den Stein her, Kanaille!«
Der Hund schließt die Schnauze; er hat ja gar keinen Stein. »Komm, laß sehen!« sagt Falco.
Er beugt den Kopf des Hundes zurück und reißt ihm das Maul auf. Der Stein liegt tief drinnen, hinter dem Gaumen, und Falco versucht, ihn herauszuholen. Da beißt ihn der Hund; und es fließt Blut.
Falco erschrickt. Er geht zu Donna Silvia hinein. »Ist Euer Hund auch gesund?« fragt er. »Mein Hund? Ich habe keinen Hund. Er ist tot.« »Aber da draußen läuft einer herum.« »Ich weiß nicht, welchen Hund Ihr meint«, sagt sie. Falco sagt nichts mehr; er tut auch Donna Silvia nichts zuleide, sondern geht still fort. Er hat Angst. Er denkt, der Hund sei toll gewesen, und nun werde er am Ende auch die Tollwut bekommen.
*
Eines Abends sitzt Donna Micaela allein in ihrem Musiksaal. Sie hat die Lampe gelöscht und die Balkontüren geöffnet. Sie liebt es, abends und nachts auf die Straße hinauszulauschen. Dann ist der Lärm der Schmiede, Steinschleifer und Ausrufer verstummt. Dann ertönt nur Gesang, Lachen, Flüstern und Mandolinenspiel.
Plötzlich sieht sie, daß sich eine dunkle Hand auf das Balkongeländer legt. Der Hand folgt ein Arm und ein Kopf, und im nächsten Augenblick schwingt sich ein Mensch über den Balkon. Sie sieht ihn ziemlich deutlich, denn die Straßenlaternen brennen noch. Es ist ein kleiner, breitschultriger Mann, mit einem großen Bart. Er ist wie ein Hirte gekleidet, mit Ledersandalen, Schlapphut und einem auf dem Rücken festgebundenen Regenschirm.
Sobald er auf den Füßen steht, reißt er seine Büchse von der Schulter, und mit dieser zwischen den Händen tritt er in den Musiksaal. Donna Micaela sitzt ganz still, ohne ein Lebenszeichen zu geben. Sie hat keine Zeit, Hilfe herbeizurufen oder zu entfliehen. Sie hofft nun, der Mann werde nehmen, was er haben wolle, und dann wieder gehen, ohne sie zu bemerken, denn sie sitzt weit hinten in dem dunklen Zimmer.
Der Mann nimmt die Büchse zwischen die Knie, und sie hört, daß er ein Streichholz anzündet. Sie schließt die Augen; dann kann er denken, sie schlafe.
Als der Räuber das Streichholz angezündet hat, sieht er sie sogleich. Er hustet, um sie aufzuwecken. Als sie sich nicht rührt, schleicht er zu ihr hin und legt vorsichtig einen Finger auf ihren Arm.
»Rührt mich nicht an! Rührt mich nicht an!« schreit sie auf. Nun kann sie sich nicht mehr ruhig verhalten. Der Mann tritt sogleich zurück.
»Liebe Donna Micaela, ich wollte Euch nur aufwecken.«
Sie bebt und zittert vor Angst, und er hört, daß sie heftig schluchzt.
»Liebe Signora! Liebe Signora!« sagt er.
»Macht Licht, damit ich sehe, wer Ihr seid!« ruft sie.
Er zündet ein neues Streichholz an, nimmt die Kuppel von der Lampe und zündet sie so gewandt an wie ein Kammerdiener. Dann stellt er sich wieder an die Tür, so weit entfernt von ihr wie nur möglich. Und auf einmal geht er mit seiner Büchse auf den Balkon hinaus.
»Nun könnt Ihr doch keine Angst mehr haben, Signora.« Als sie aber nicht zu weinen aufhört, sagt er:
»Signora, ich bin Passafiore, Falco Falcones Neffe, und ich habe einen Auftrag von Falco an Euch. Er will Eure Eisenbahn nicht mehr zerstören.«
»Seid Ihr gekommen, um Euren Scherz mit mir zu treiben?« sagt sie.
Da antwortet der Mann fast weinend: »Ach, wenn es doch ein Scherz wäre! Wenn doch Falco noch der wäre, der er gewesen ist!«
Er erzählt, daß Falco den Mongibello erstiegen und dessen Gipfel bekränzt habe. Aber das habe dem Berg wohl nicht behagt, denn nun habe er Falco gestürzt. Ein einziges Steinchen vom Mongibello habe genügt, den Gefürchteten zu vernichten.
»Nun ist es vorbei mit Falco«, sagt Passafiore. »Er sitzt drunten im Steinbruch und wartet auf den Ausbruch der Krankheit. Seit acht Tagen hat er weder geschlafen noch etwas gegessen. Er ist noch nicht krank, aber die Wunde an seiner Hand heilt auch nicht, und er glaubt, daß er das Gift im Körper habe. ›Bald werde ich ein toller Hund sein‹, sagt er. Kein Wein, keine Speise lockt ihn. Er hat keine Freude daran, wenn ich seine Taten preise. ›Was hat es für einen Wert, von ihnen zu reden?‹ sagt er. ›Ich werde mein Leben als ein toller Hund beschließen.‹«
Donna Micaela sieht Passafiore scharf an. »Was soll denn ich dabei tun? Du denkst doch wohl nicht, daß ich zu Falco Falcone in den Steinbruch gehen soll?«
Passafiore schaut zu Boden und wagt nichts zu erwidern. Sie erklärt ihm, was sie durch diesen Falco gelitten hat. Er hat ihre Arbeiter verscheucht. Er hat sich ihren liebsten Wünschen widersetzt.
Plötzlich sinkt Passafiore vor ihr auf die Knie. Er wagt nicht, ihr einen Schritt näher zu treten, aber er fällt auf die Knie nieder.
Er bittet sie, sich doch klarzumachen, um was es sich handle. Sie wisse nicht, sie verstehe nicht, wer Falco sei. Falco sei ein großer Mann. Schon als ganz kleines Kind habe er, Passafiore, von ihm reden hören. Sein ganzes Leben lang habe er danach getrachtet, in den Steinbruch zu kommen, um mit ihm zusammen zu sein. Alle seine Vettern seien zu Falco gegangen, die ganze Familie sei bei ihm. Aber der Pfarrer habe es sich damals in den Kopf gesetzt gehabt, daß Passafiore nicht hingehen dürfe. Er habe einen Schneider aus ihm gemacht; denkt nur, einen Schneider! Er habe mit ihm gesprochen und ihm gesagt, er solle ja nicht hingehen. Es sei eine schreckliche Sünde, mit Falco zu leben. Passafiore habe auch um Don Matteos Willen viele Jahre dagegen angekämpft. Schließlich aber habe er nicht mehr widerstehen können und sei doch in den Steinbruch gegangen. Nun sei er erst ein Jahr lang bei Falco gewesen, und nun sei dieser schon zugrunde gerichtet. Es sei gerade, als sei der Schein der Sonne am Himmel erloschen. Sein ganzes Leben sei zerstört.
Passafiore sieht Donna Micaela an. Er sieht, daß sie ihn anhört und ihn versteht.
Er erinnert Donna Micaela daran, daß sie einem Jettatore und einer Ehebrecherin geholfen habe. Warum sollte sie da hart gegen einen Räuber sein? Das Christusbild in San Pasquale erhöre ja alle ihre Bitten. Er wisse bestimmt, daß sie das Christuskind gebeten habe, ihre Eisenbahn vor Falco zu beschützen. Und es habe sie erhört, deshalb habe der Bimsstein des Mongibello Falcos Kraft gebrochen. Aber nun solle sie doch auch ihm gnädig sein und ihnen helfen, daß Falco seine Gesundheit wieder erlangen und dem Land wieder das sein könne, was er ihm früher gewesen sei.
Es gelang Passafiore wirklich, Donna Micaela zu rühren. Plötzlich begreift sie, wie es dem alten Räuber da drunten in dem dunklen Steinbruch zumute sein muß. Sie sieht ihn dort sitzen und auf den Wahnsinn warten. Sie denkt daran, wie stolz er einst war und wie er nun vernichtet und zerschmettert ist. Nein, nein, niemand darf so leiden. Es ist zuviel, zuviel!
»Passafiore!« ruft sie, »Sag, was du wünschst. Ich werde tun, was in meiner Macht steht. Ich fürchte mich nicht mehr. Nein, ich fürchte mich nicht mehr.« »Donna Micaela, wir haben Falco gebeten, zu dem Christusbild zu gehen und es um Gnade anzuflehen. Aber Falco will nicht an das Bild glauben. Er will nichts anderes tun, als ruhig das Unglück erwarten. Aber heute, als ich ihn wieder bat und anflehte, doch hinzugehen und zu beten, sagte er: ›Du weißt, wer dort in dem alten Haus der Kirche gerade gegenüber auf mich wartet. Geh zu ihr und frage sie, ob sie mir die Erlaubnis geben will, an ihr vorüber in die Kirche zu gehen. Wenn sie sie gibt, dann will ich an das Bild glauben und zu ihm beten.‹« »Nun?« fragt Donna Micaela.
»Ich bin bei der alten Caterina gewesen, und sie hat die Erlaubnis gegeben. Sie sagte: ›Er soll in die Kirche San Pasquale hineingehen dürfen, ohne daß ich ihn erschieße.‹« Passafiore liegt noch immer auf den Knien. »Ist Falco schon in der Kirche gewesen?« fragt Donna Micaela.
Passafiore rutscht ein paar Schritte näher. Er ringt voll Verzweiflung die Hände.
»Donna Micaela, Falco ist sehr krank. Er war schon krank, ehe das mit dem Hund passierte.«
Passafiore kostet es einen großen Kampf, ehe er die Wahrheit auszusprechen wagt. Schließlich aber bekennt er, daß Falco, trotzdem er ein so großer Mann sei, doch zeitweise an Wahnsinn leide. Und nun habe er nicht nur von der alten Caterina gesprochen, sondern auch gesagt: »Wenn Caterina mich in die Kirche hineingehen läßt und wenn Donna Micaela in den Steinbruch kommt und mir die Hand reicht, dann will ich zu dem Bild gehen.« Davon sei er nicht mehr abzubringen. Donna Micaela, die vornehmste und erste und heiligste aller Frauen müsse zu ihm kommen, sonst gehe er nicht.
Trotzdem Passafiore ausgesprochen hat, hält er doch den Kopf noch tief gesenkt. Er wagt nicht aufzuschauen. Aber Donna Micaela zögert keinen Augenblick, sobald von dem Christuskind die Rede ist. Sie scheint gar nicht daran zu denken, daß Falco schon wahnsinnig ist. Sie deutet mit keinem Wort an, wie sehr sie sich fürchtet. Ihr Vertrauen zu dem Bild ist so groß, daß sie ganz ruhig wie ein unterwürfiges und gehorsames Kind sagt: »Passafiore, ich werde dich begleiten.« Und sie geht mit ihm, als wandle sie im Schlaf. Sie zögert nicht, mit ihm in den Steinbruch zu gehen. Sie schreckt nicht davor zurück, ihn auf den Ätna zu begleiten. Sie bedenkt sich nicht, an den steilen Felswänden des Steinbruchs hinab zuklettern. Ganz bleich, aber mit wunderbar glänzenden Augen tritt sie zu dem alten Räuber in seine Felsenhöhle und reicht ihm die Hand. Und er steht auf, gespensterhaft bleich wie sie selbst, und geht mit ihr. Es ist, als seien sie keine Menschen, sondern Gespenster. Ganz stumm schreiten sie ihrem Ziel entgegen. Ihr eigenes Ich ist tot, ein mächtigerer Geist führt und leitet sie.
Schon am nächsten Tag kommt es Donna Micaela wie eine Sage vor, daß sie so etwas getan hat. Sie ist überzeugt, daß durchaus nicht ihre eigene Barmherzigkeit oder ihre Nächstenliebe ihr die Kraft gegeben hätten, sich bei Nacht in die Räuberhöhle zu wagen, sondern daß eine fremde Macht sie geleitet habe.
Während Donna Micaela in der Räuberhöhle ist, sitzt die alte Caterina an ihrem Fenster und wartet auf Falco. Sie hatte eingewilligt, fast ohne daß man sie zu bitten gebraucht hatte.
»Er soll freie Bahn zur Kirche haben«, sagte sie. »Ich habe seit zwanzig Jahren auf ihn gewartet, aber er soll ungehindert in die Kirche gehen dürfen.«
Bald darauf kommt Falco an Donna Micaelas Hand dahergeschritten. Passafiore und Biagio gehen hinter ihnen. Falco schreitet gebeugt vorwärts. Man sieht, daß er alt und schwach ist. Er betritt allein die Kirche, die anderen bleiben außen.
Die alte Caterina hat ihn deutlich gesehen; aber sie hat sich nicht bewegt. Sie sitzt ganz still da, während Falco in der Kirche ist. Ihre Nichte, die bei ihr wohnt, glaubt, sie bete und danke Gott, daß sie ihre Rachgier habe überwinden können.
Endlich bittet Caterina die Nichte, ein Fenster zu öffnen.
»Ich will sehen, ob er noch den Schlangenschatten hat«, sagt sie.
Aber sie ist sanft und freundlich. »Nimm die Büchse weg, wenn du willst.« Und die Nichte legt die Büchse auf die andere Seite des Tisches hinüber.
Endlich kommt Falco wieder aus der Kirche heraus. Der Mond scheint ihm genau ins Gesicht, und Caterina sieht, wie wenig er dem Falco gleicht, der in ihrer Erinnerung lebt. Der schreckliche Trotz und Stolz in seinem Gesicht sind nicht mehr vorhanden. Er schreitet gebeugt und gebrochen daher. Er flößt ihr fast Mitleid ein.
»Das Bild hilft mir«, sagt er laut zu Passafiore und Biagio. »Es hat versprochen, mir beizustehen.«
Die Räuber wollen nun gehen; aber Falco ist so froh, daß er zuerst von seinem Glück mit ihnen reden muß.
»Ich fühle kein Brausen mehr in meinem Kopf, alle Unruhe, alle Hitze ist wie weggeblasen. Es hilft mir!«
Die Kameraden nehmen ihn bei der Hand, um ihn fortzuführen.
Falco macht ein paar Schritte, dann bleibt er wieder stehen. Er richtet sich auf und macht dabei eine Bewegung, so daß der Schlangenschatten sich auf dem Weg bewegt und krümmt.
»Ganz gesund soll ich werden, ganz gesund«, sagt er.
Die Männer ziehen ihn mit sich fort, aber es ist zu spät.
Caterinas Blick ist auf den Schlangenschatten gefallen. Da kann sie sich nicht mehr halten, sie wirft sich über den Tisch, ergreift die Büchse und drückt ab. Und sie trifft Falco. Sie hatte freilich nicht die Absicht gehabt, auf ihn zu schießen, aber als sie ihn sah, war es ihr unmöglich, ihn frei weggehen zu lassen. Zwanzig Jahre lang hatte sie die Rachegedanken in sich genährt. Er war stärker als sie.
»Caterina, Caterina!« schreit die Nichte.
»Er bat mich nur um freie Bahn in die Kirche«, erwidert die Alte.
Der alte Biagio legt Falcos Leiche zurecht und sagt mit grimmiger Miene:
»Ganz gesund sollte er werden, ganz gesund!«