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IV. Das alte Martyrium

Vom Sommerpalast in Diamante gingen in dieser Zeit viele Briefe an Gaetano Alagona ab, der im Gefängnis zu Como saß. Aber der Briefträger hatte nie einen Brief von Gaetano, der an den Sommerpalast adressiert gewesen wäre. Denn Gaetano war in sein lebenslängliches Gefängnis gegangen, als sei es ein Grab. Und das einzige, was er begehrte und wünschte, war, daß es ihm die Vergessenheit und Ruhe des Grabes schenken möge. Er fühlte sich als Toter und sagte zu sich selbst, er wolle die Klagen und den Jammer der Überlebenden nicht hören. Er wollte sich auch weder falschen Hoffnungen hingeben noch durch zärtliche Worte verlocken lassen, sich nach Freunden und Verwandten zu sehnen. Ebensowenig wollte er hören, was in der Welt draußen vorging, da er nicht die Macht hatte, einzugreifen.

Er verschaffte sich Arbeitsmaterial und schnitzte nun im Gefängnis ebenso schöne Kunstwerke wie vorher. Aber er nahm weder einen Brief noch einen Besuch an. Er glaubte, er werde auf diese Weise am ehesten das Gefühl der Bitterkeit über sein Unglück loswerden. Er glaubte, er werde sich soweit bringen, sein Leben lang zwischen vier engen Wänden auszuhalten. Daher kam es, daß Donna Micaela nie eine Antwort auf ihre Briefe erhielt.

Schließlich schrieb sie an den Gefängnisdirektor und fragte bei ihm an, ob Gaetano noch lebe. Und dieser antwortete ihr, daß der Gefangene, nach dem sie gefragt habe, niemals einen Brief lese. Er habe gebeten, mit allen Nachrichten von der Außenwelt verschont zu werden.

Da schrieb sie nicht mehr. Statt dessen arbeitete sie weiter für ihre Eisenbahn. In Diamante wagte sie zwar kaum mehr davon zu reden, trotzdem aber dachte sie an nichts anderes. Sie selbst nähte und stickte, und sie ließ auch ihre Dienerschaft kleine billige Sachen anfertigen, die auf dem Bazar verkauft werden sollten. Im Laden suchte sie allerlei alten Kram für die Tombola aus. Sie ließ den Türhüter Pietro bunte Laternen anfertigen, sie überredete ihren Vater, Schilder und Plakate zu malen, und sie veranlaßte ihre Kammerjungfer Lucia, die von Capri war, Korallenhalsbänder und Schneckenkästchen herzustellen.

Sie war allerdings gar nicht sicher, ob überhaupt ein Mensch zu ihrem Fest kommen werde. Alle waren gegen sie; niemand wollte ihr helfen. Es gefiel den Leuten nicht einmal, daß sie sich auf der Straße sehen ließ, daß sie von Geschäften redete. Das war unpassend für eine feine Dame.

Nur der alte Fra Felice versuchte ihr beizustehen, denn er war ihr sehr zugetan, weil sie ihm mit dem Bild geholfen hatte. Eines Tages, als Donna Micaela ihm klagte, daß sie niemanden von der Notwendigkeit einer Eisenbahn überzeugen könne, nahm er sein Käppchen ab und deutete auf seinen kahlen Schädel.

»Seht mich an, Donna Micaela«, sagte er, »so kahl wird diese Eisenbahn Euer Haupt machen, wenn Ihr fortfahrt, wie Ihr angefangen habt.«

»Wie meint Ihr das, Fra Felice?«

»Donna Micaela«, sagte der Greis, »wäre es nicht eine Torheit, wenn sich jemand auf ein gefährliches Abenteuer einlassen würde, ohne einen Freund oder Helfer zu haben?«

»Ich habe wohl versucht, Freunde zu finden, Fra Felice.«

»Ja, Menschen«, sagte der Alte, »aber was können Menschen helfen? Wenn jemand auf den Fischfang hinausfährt, weiß er, daß er San Pietro anrufen muß, wenn jemand ein Pferd kaufen will, muß er zu San Antonio Abbate beten. Aber an wen ich mich für Eure Eisenbahn wenden soll, das weiß ich nicht.«

Damit wollte Fra Felice ihr sagen, daß sie einen Fehler gemacht habe, als sie sich keinen Schutzpatron für ihre Eisenbahn gewählt hatte. Er wollte, sie solle das gekrönte Kind, das in seiner Kirche stand, zum ersten Freund und Schutzpatron der Eisenbahn wählen. Er sagte, wenn sie das tue, werde ihr sicherlich geholfen werden.

Donna Micaela war so gerührt über Fra Felices guten Willen, ihr zu helfen, daß sie sogleich versprach, das Kind in San Pasquale für ihre Eisenbahn um Hilfe zu bitten.

Fra Felice aber ging hin und kaufte eine große Sammelbüchse, auf die er mit schönen deutlichen Buchstaben malen ließ: Gaben für die Ätnaeisenbahn. Und er hängte die Büchse in seiner Kirche neben dem Christusbild auf.

Gleich am nächsten Tag kam Signor Antonios Frau, Donna Emilia, zu dem alten verlassenen Kirchlein, um San Pasquale, der der klügste von allen Heiligen ist, um Rat zu fragen. Seit dem Herbst war nämlich Don Antonios Theater schlecht gegangen; was ja auch zu einer Zeit, wo es bei allen Leuten mit dem Geld spärlich bestellt ist, nicht anders zu erwarten war.

Don Antonio hatte dann versucht, den Betrieb des Theaters etwas billiger einzurichten. Er hatte ein paar Lampen weniger angezündet und es unterlassen, große und prächtig gemalte Maueranschläge aufkleben zu lassen.

Aber das war eine große Torheit gewesen. Der Augenblick, wo die Leute die Lust am Theater verlieren, ist nicht die richtige Zeit, um die seidenen Schleppen der Prinzessinnen zu kürzen und an der Vergoldung der Königskronen zu sparen.

Vielleicht ist das bei einem anderen Theater nicht so gefährlich, aber bei einem Marionettentheater ist es mehr als gewagt, Veränderungen einzuführen. Und das kommt daher, daß der Zuschauerkreis eines Marionettentheaters hauptsächlich aus halberwachsener Jugend besteht. Erwachsene Leute können begreifen, daß man manchmal sparen muß, aber Kinder wollen immer alles gleich haben.

Immer weniger Zuschauer stellten sich bei Don Antonio ein, und er sparte immer mehr. So fiel ihm ein, er könne die beiden Geigenspieler, Vater Elia und Bruder Tomaso, entbehren, die sonst in den Zwischenakten und bei den Kriegsszenen gespielt hatten.

Diese Blinden, die sich dadurch, daß sie in den Trauerhäusern sangen, sehr viel Geld verdienten und die den ganzen Sommer hindurch während der Festtage sichere Einnahmen hatten, verlangten nämlich eine sehr hohe Bezahlung. Deshalb verabschiedete sie Don Antonio und schaffte einen Leierkasten an.

Aber dies wurde ihm verhängnisvoll. Alle Lehrlinge und Laufburschen von ganz Diamante hörten auf, ins Theater zu gehen. Sie wollten keinen Leierkasten hören. Sie verabredeten untereinander, so lange vom Theater wegzubleiben, bis Antonio die blinden Spielleute wieder angenommen habe. Und sie hielten ihr Wort. Don Antonios Puppen mußten vor leeren Bänken auftreten.

Diese jungen Burschen, die sonst lieber auf ihr Abendbrot als aufs Theater verzichteten, hielten sich nun Abend für Abend vom Theater fern. Sie waren überzeugt, daß sie Don Antonio schließlich zwingen würden, alles wieder wie früher einzurichten.

Aber Don Antonio stammt aus einer Künstlerfamilie. Sein Vater und sein Bruder haben Marionettentheater, sein Schwager, alle seine Verwandten sind Männer vom Fach. Und Don Antonio versteht seine Kunst. Er kann seine Stimme ins Unendliche verändern, er kann ein ganzes Heer Puppen gleichzeitig in Bewegung setzen, und er kann den Text zu einem ganzen Schauspielzyklus auswendig, der auf der Chronik von Carolus Magnus aufgebaut ist.

Und nun fühlte sich Don Antonio in seinem Künstlerstolz gekränkt. Er wollte sich nicht zwingen lassen, die Blinden wieder anzustellen. Er verlangte, daß man seinetwegen und nicht der Blinden wegen in sein Theater komme.

Er änderte seinen Spielplan und gab große Stücke mit glänzender Ausstattung; aber es war vergeblich. Es gibt ein Schauspiel, das heißt »Der Tod des Paladins«, das von dem Kampf Rolands bei Ronceval handelt. Dieses Stück erfordert eine so verwickelte Maschinerie, daß ein Puppentheater zwei Tage vorher geschlossen bleiben muß, wenn es aufgeführt werden soll. Das Publikum hat das Stück so gern, daß man es gewöhnlich zu erhöhten Preisen und bei vollem Hause einen ganzen Monat lang spielen kann. Don Antonio ließ nun dieses Schauspiel vorbereiten; aber er hätte sich die Mühe sparen können, denn es kamen keine Zuschauer.

Danach war Antonios Widerstand gebrochen. Er versuchte, Vater Elia und Bruder Tomaso wieder anzuwerben; aber diese beiden wußten nun, was sie für ihn wert waren und stellten so große Forderungen, daß Don Antonio sich ruiniert hätte, wenn er darauf eingegangen wäre. Man konnte zu keiner Verständigung kommen.

Und nun lebte das Künstlerpaar in der kleinen Wohnung hinter dem Marionettentheater wie in einer belagerten Festung. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als zu hungern. Donna Emilia und Don Antonio waren alle beide junge frohe Menschen, aber jetzt lachten sie niemals mehr. Es war nicht so sehr die Not, die sie so düster stimmte, aber Don Antonio war ein stolzer Mann, und er konnte den Gedanken nicht ertragen, daß seine Kunst die Zuschauer nicht mehr anzulocken vermochte.

Da ging, wie schon gesagt, Donna Emilia in die Kirche San Pasquale, um den Heiligen um einen guten Rat zu bitten. Es war ihre Absicht gewesen, vor dem großen Steinbild an der Kirche neun Vaterunser zu sprechen und dann wieder nach Hause zu gehen; aber ehe sie zu beten begann, bemerkte sie, daß die Kirchentür offenstand.

»Warum steht denn San Pasquales Kirchentür offen?« sagte Donna Emilia. »Das habe ich doch noch nie erlebt.«

Und sie trat in die Kirche.

Das einzige, was sie darin sah, war Fra Felices geliebtes Christusbild und die große Sammelbüchse. Und das Bild glänzte so schön mit seiner Krone und mit seinen Ringen, daß Donna Emilia zu ihm hingezogen wurde. Als sie ihm dann aber in die Augen sah, erschien es ihr so mild und trostreich, daß sie vor ihm niederkniete und betete. Und sie gelobte ihm, wenn es ihr und Don Antonio aus ihrer Not helfe, wolle sie die Einnahme eines ganzen Abends in die Opferbüchse, die neben dem Bild hing, legen.

Als sie ihr Gebet beendet hatte, verbarg sich Donna Emilia hinter der Kirchentür und versuchte zu erlauschen, was die Vorübergehenden sagten. Denn wenn das Bild da drinnen ihr helfen wollte, würde es sie nun ein Wort hören lassen, das ihr mitteilte, was sie tun müsse.

Sie hatte noch keine drei Minuten dagestanden, als die alte Assunta von der Treppe der Domkirche mit Donna Pepa und Donna Tura vorüberkam. Und sie hörte Assunta in feierlichem Ton sagen: »Es war in jenem Jahre, als ich zum erstenmal das alte Martyrium hörte.« Donna Emilia hörte es ganz deutlich, Assunta sagte wirklich, »das alte Martyrium«.

Donna Emilia war es, als komme sie heute nie mehr nach Hause. Ihre Beine schienen sie nicht schnell genug tragen zu können. Der Weg schien sich verlängert zu haben. Als sie endlich die Theaterecke mit der roten Laterne unter dem Dach und den großen bilderreichen Maueranschlägen sah, war es ihr, als habe sie viele Meilen zurückgelegt.

Als sie zu Don Antonio hineinkam, saß er unbeweglich da, den Kopf in die Hände gestützt und den Blick starr auf die Tischplatte gerichtet. Das Herz tat einem weh, wenn man Don Antonio nur ansah. In diesen letzten Wochen hatte sich sein Haar bedenklich gelichtet. Auf dem Scheitel war es so dünn geworden, daß die Haut durchschimmerte. Aber war das verwunderlich, wenn er so schwere Sorgen hatte? Während Donna Emilia fortgewesen war, hatte er alle seine Puppen herausgenommen und durchgesehen. Das tat er jetzt alle Tage. Dann betrachtete er die Puppe, die die Armida spielte. War sie etwa nicht mehr schön und verführerisch? fragte er dann oft. Und er versuchte, Rolands Schwert oder die Krone Karls des Großen auszubessern. Donna Emilia sah, daß er jetzt wieder die Kaiserkrone neu vergoldet hatte, wohl schon zum fünften Male. Aber dann hatte er mitten in der Arbeit aufgehört und war in Grübeleien versunken.

Er hatte selbst eingesehen, die Vergoldung war es nicht, an der es mangelte, es fehlte ihm an einer Idee.

Als Donna Emilia ins Zimmer trat, streckte sie ihrem Mann beide Hände entgegen.

»Sieh mich an, Don Antonio Greco«, sagte sie, »ich trage in meinen Händen goldene Schalen voller Königsfeigen.«

Und sie erzählte, wie sie gebetet hätte, was sie gelobt hätte und was für ein Rat ihr gegeben worden wäre.

Als sie Antonio alles das sagte, sprang er auf. Die Arme fielen ihm steif an der Seite herab, und das Haar sträubte sich auf seinem Kopfe. Ein unbeschreiblicher Schrecken bemächtigte sich seiner. »Das alte Martyrium!« schrie er. »Das alte Martyrium!«

Denn das alte Martyrium ist ein Mysterienspiel, das seinerzeit auf ganz Sizilien gespielt wurde. Es verdrängte damals alle anderen Oratorien und Mysterienspiele und wurde ein paar Jahrhunderte lang jedes Jahr in jeder Stadt gespielt. Aber jetzt wird es nicht mehr gespielt. Jetzt lebt es nur noch als Sage in der Erinnerung des Volks.

In früheren Zeiten wurde es wohl auch auf den Marionettentheatern aufgeführt. Aber dann war es für alt und unmodern erklärt worden, und nun hatte man es vielleicht schon seit dreißig Jahren nicht mehr gespielt.

Don Antonio begann zu schimpfen und zu schreien, Donna Emilia wolle ihn nur mit Torheiten plagen. Er wehrte sich gegen sie wie gegen einen Dämon, der sich seiner bemächtigen wollte. Es sei entsetzlich, es sei herzzerreißend, sagte er. Wie sie nur ein solches Wort habe auffangen können.

Aber Donna Emilia stand ganz ruhig da und ließ ihn toben. Sie sagte nur, was sie gehört habe, sei sicherlich Gottes Wille.

Don Antonio begann auch bald unsicher zu werden. Der große Gedanke gewann allmählich Gewalt über ihn. Kein anderes Stück war in Sizilien so beliebt gewesen und so oft gespielt worden. Wohnte denn nicht auch jetzt noch dasselbe Volk auf der edlen Insel? Liebten sie nicht noch immer dieselbe Erde, denselben Berg, denselben Himmel, die ihre Väter geliebt hatten? Warum sollten sie nicht auch das alte Martyrium noch lieben können?

Er wehrte sich dagegen, solange er konnte. Er hielt Donna Emilia vor, daß es zu teuer sei. Woher solle er Apostel mit langem Haar und Bart nehmen? Er habe keinen Tisch für das Abendmahl, und er habe die Maschinerie nicht, die zum Einzug in Jerusalem und zum Zug nach Golgatha, wo Jesus sein Kreuz trägt, nötig sei.

Aber Donna Emilia sah, daß er nachgeben würde, und ehe der Abend anbrach, ging er auch wirklich zu Fra Felice und erneuerte das Gelübde seiner Frau, die Einnahme eines ganzen Abends in die Sammelbüchse des Christusbildes zu legen, wenn es sich zeige, daß es ein guter Rat gewesen war.

Fra Felice erzählte Donna Micaela von dem Gelübde, und sie wurde sehr froh, aber zugleich auch ängstlich, wie die Sache wohl ablaufen werde.

In der Stadt verbreitete sich die Nachricht, daß Antonio das alte Martyrium aufzuführen im Sinn habe, und da lachte man über ihn. Don Antonio mußte den Verstand verloren haben. Ja, man hätte wohl gern wieder einmal das alte Martyrium gesehen, wenn man es so zu sehe bekäme, wie es früher gespielt worden war. Man hätte es wohl gerne so gesehen, wie es damals in Aci gespielt wurde, wo die Edelleute der Stadt die Könige und Kriegsknechte, und die Handwerker die Rollen der Juden und der Apostel darstellten, und wo so viele Szenen aus dem alten Testament eingebaut waren, daß das Schauspiel einen ganzen Tag dauerte.

Man hätte auch gerne die herrlichen Tage in Castelbuoco wieder erlebt, wo die ganze Stadt sich in ein Jerusalem verwandelte. Dort wurde das Mysterienspiel so aufgeführt, daß Jesus in die Stadt geritten kam und am Stadttor mit Palmen empfangen wurde. Dort war die Kirche der Tempel in Jerusalem, und das Rathaus der Palast des Pilatus. Petrus wärmte sich an einem Feuer im Hofe des Pfarrhauses, die Kreuzigung geschah auf einem Berg über der Stadt, und Maria suchte die Leiche ihres Sohnes in einer Grotte im Garten des Sindaco.

Wenn man solche Erinnerungen hatte, wie hätte man sich da mit einer Darstellung des alten Mysteriums auf Don Antonios Theater begnügen können?

Trotz alledem arbeitete Don Antonio mit dem größten Eifer an der Herstellung der Figuren und an der Instandsetzung der großen Maschinerie.

Und siehe da, nach einigen Tagen kam Meister Battista, der die Schilder malte, und schenkte ihm ein Plakat. Er habe sich so sehr gefreut, daß Don Antonio »Das alte Martyrium« spielen wolle, sagte er. Er habe es in seiner Jugend gesehen und sich daran erbaut.

Nun stand mit großen Buchstaben an der Theaterecke zu lesen: »Das alte Martyrium oder Der auferstandene Adam, Tragödie in drei Akten von Cavaliere Filippo Orioles.«

Don Antonio fragte sich Tag und Nacht, wie wohl die Volksstimmung sein würde. Aber die Eseltreiber und Lehrlinge, die an seinem Theater vorbeikamen, lasen die Aufschrift mit lautem Hohnlachen. Es sah sehr düster aus für Antonio; er arbeitete aber doch zuversichtlich weiter.

Als nun der Abend herankam und das Martyrium seinen Anfang nehmen sollte, war niemand unruhiger als Donna Micaela. »Wird mir das kleine Bild helfen?« fragte sie sich wieder und wieder.

Sie schickte ihr Mädchen Lucia aus, um aufzupassen. Ständen Gruppen vor dem Theater? Sähe es aus, als ob Leute kommen würden? Lucia solle ruhig hineingehen zu Donna Emilia, die an der Kasse saß und sie fragen, wie die Aussichten seien.

Als aber Lucia zurückkam, brachte sie keine hoffnungsvollen Nachrichten. Kein Mensch stand vor dem Theater. Die Jungen hatten Don Antonios Untergang beschlossen.

Gegen acht Uhr konnte es Donna Micaela vor lauter Spannung nicht mehr daheim aushalten. Sie überredete ihren Vater, mit ihr ins Theater zu gehen. Sie wußte zwar, daß noch nie eine Signora ihren Fuß in Don Antonios Theater gesetzt hatte, aber sie mußte sehen, wie die Sache ablief. Es wäre ein schwindelnd großer Fortschritt für ihre Eisenbahn, wenn es Don Antonio glückte.

Als Donna Micaela vor dem Theater ankam, fehlten nur noch ein paar Minuten bis acht Uhr, und Donna Emilia hatte noch nicht ein einziges Billet verkauft.

Aber sie war nicht niedergeschlagen. »Geht nur hinein, Donna Micaela!« sagte sie. »Wir spielen jedenfalls. Es ist so schön. Don Antonio wird für Euch und Euren Vater und für mich spielen. Es ist das Schönste, was er je aufgeführt hat.«

Donna Micaela kam in ein kleines Theater hinein. Es war schwarz ausgeschlagen, wie das bei großen Theatern früher immer war, wenn das alte Martyrium aufgeführt wurde. Schwarze Vorhänge mit silbernen Fransen umgaben die Bühne. Auch die kleinen Bänke waren schwarz überzogen. Gleich nachdem Donna Micaela eingetreten war, erschienen Don Antonios buschige Augenbrauen an einer kleinen Öffnung in den Kulissen.

»Donna Micaela!« rief er, gerade wie vorhin Donna Emilia. »Wir werden doch spielen. Es ist so schön. Wir brauchen keine Zuschauer.«

In demselben Augenblick öffnete Donna Emilia die Tür und sperrte sie, sich verneigend, weit auf. Don Matteo, der Pfarrer, trat ein.

»Was denkt Ihr von mir, Donna Micaela?« sagte er lachend. »Aber bedenkt, es ist das alte Martyrium. Ich habe es in meiner Jugend auf der großen Oper zu Palermo gesehen, und ich glaube fast, dies alte Stück hat mich zum Priester gemacht.«

Als die Tür wieder aufging, erschienen Vater Elia und Bruder Tomaso, die sich mit der Geige unter dem Arm so ruhig auf ihre gewohnten Plätze setzten, als hätten sie nie einen Streit mit Don Antonio gehabt.

Wieder ging die Tür auf. Ein altes Mütterchen aus dem Berggäßchen am Haus des kleinen Mauren kam herein. Sie war schwarz gekleidet und machte das Zeichen des Kreuzes, als sie eintrat.

Nach ihr kamen vier bis fünf alte Frauen, und Donna Micaela sah sie ganz ärgerlich an, während sie allmählich das Theater füllten. Sie wußte, daß Don Antonio nicht zufrieden sein würde, bis er sein eigenes Publikum wiedergewonnen hatte, bis er seinen eigensinnigen geliebten Jungen wieder vorspielen konnte.

Plötzlich hörte sie einen Lärm wie von einem Sturm oder Donnerwetter. Die Türen gingen weit auf, und alle auf einmal kamen herein! Es waren die Jungen. Sie setzten sich auf ihre gewohnten Plätze mit einer Sicherheit, als seien sie in ihrer Heimat eingezogen. Sie sahen einander ein wenig beschämt an. Aber es war ihnen unmöglich gewesen, mitanzusehen, wie ein altes Weib nach dem andern ins Theater hineinhumpelte, um das zu sehen, was doch für sie gespielt wurde. Es war ihnen ganz unmöglich gewesen, die ganze Straße voll alter Spinnweiber zu sehen, die in gemächlichem Zuge auf das Theater zusteuerten. Und da waren sie hineingestürmt.

Aber kaum hatte die Jugend ihre Plätze eingenommen, da merkte sie auch, daß sie einen Zuchtmeister bekommen hatte. Ach, das alte Martyrium, das alte Martyrium!

Es wurde nicht so aufgeführt wie in Aci und Castelbuoco. Es wurde nicht wie in der Oper zu Palermo gespielt. Es wurde nur von ärmlichen Marionetten mit unbeweglichen Gesichtern und steifen Körpern dargestellt, aber das alte Schauspiel hatte seine Kraft noch nicht verloren.

Donna Micaela erkannte das schon im zweiten Akt beim Abendmahl. Die Jungen begannen den Judas zu hassen. Sie riefen ihm Drohungen und Schimpfworte zu. Als die Leidensgeschichte ihren Fortgang nahm, legten sie die Hüte weg und falteten die Hände. Sie saßen ganz still da, die schönen braunen Augen auf die Bühne gerichtet. Hie und da perlten ein paar Tränen hervor. Ab und zu ballte sich eine Faust im Zorn.

Don Antonio sprach mit tränenerstickter Stimme. Donna Emilia kniete an der Ausgangstür. Don Matteo betrachtete mit mildem Lächeln die kleinen Puppen, und vor ihm stieg jenes herrliche Schauspiel in Palermo auf, das ihn zum Priester gemacht hatte.

Als aber Jesus gefesselt und gepeinigt wurde, schämten sich die Jungen über sich selbst. Auch sie hatten gehaßt und verfolgt. Sie waren wie diese Pharisäer, wie diese Römer. Es war eine Schande, nur daran zu denken. Wenn Don Antonio ihnen das nur auch verzieh!


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