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Zu der Zeit, als die Normannen auf Sizilien herrschten, lange bevor das Geschlecht der Alagonas auf die Insel kam, wurden in Diamante die beiden herrlichen Bauwerke, der Palazzo Geraci und der Palazzo Corvaja, gebaut.
Die hochedlen Herren von Geraci bauten ihr Haus an den Markt ganz oben auf dem Monte Chiaro. Die Herren von Corvaja dagegen bauten das ihrige ganz unten am Berg und umgaben es mit Gärten.
Die schwarzen Lavamauern des Palazzo Geraci umschlossen einen viereckigen Hof, der äußerst stimmungsvoll und edel gehalten war. Eine hohe Treppe mit einem wappengeschmückten Portal führte zu dem oberen Stockwerk. Nicht rings um den Hof, sondern nur da und dort an den unerwartetsten Stellen öffneten sich die Mauern und gaben Raum für kleine, von leichten Pfeilern getragene Loggien. Die Wandfelder waren mit Reliefs bekleidet, mit Platten aus buntem sizilianischem Marmor und mit den Wappenschildern der hochadeligen Geracis. Die Fenster waren sehr klein, aber mit prächtig gearbeiteten Rahmen; bald waren sie rund und mit so kleinen Lichtöffnungen, daß man sie mit einem Rebenblatt hätte zudecken können, bald länglich und so schmal, daß nicht mehr Licht hindurchfallen konnte, als durch einen Spalt zwischen zwei Vorhängen.
Die hohen Barone von Corvaja dachten nicht daran, den Hof ihres Palastes zu schmücken, aber im Erdgeschoß des Hauses wurde ein prachtvoller Saal eingerichtet. In den Boden wurde eine große Schale für Goldfische eingelassen, in den mosaikbekleideten Wandnischen wurden Springbrunnen aufgestellt, deren klares Wasser in riesige Muscheln herabfiel. Über dem ganzen Saal wölbte sich eine maurische, von leichten, mit Mosaikranken umwundenen Säulen getragene Decke. Es war ein Saal, wie seinesgleichen nur allein in dem Sarazenenschloß zu Palermo zu finden war.
Je weiter die beiden Bauwerke voranschritten, desto größer wurde der Wetteifer zwischen den beiden Familien. Der Palazzo Geraci bekam einen Balkon, der Palazzo Corvaja dafür seine hohen gotischen Bogenfenster. Als das Dach des Palazzo Geraci mit reich ausgehauenen Zinnen versehen wurde, schmückte man den Palast Corvaja mit einem ellenhohen, weißeingelegten Fries aus schwarzem Marmor. Das Haus der Geraci hatte einen hohen Turm, der Palast der Corvaja ein plattes Dach mit antiken Vasen rings um das Geländer.
Als die Paläste endlich fertig waren, entstand nun auch Eifersucht zwischen den Familien. Die Feindschaft und der Streit schien von den Häusern auf die Bewohner überzugehen. Ein Baron Geraci hatte nie dieselbe Ansicht wie ein Baron Corvaja. Als Geraci für Anjou kämpfte, stritt Corvaja für Manfred. Änderten die Geracis ihren Standpunkt und halfen Aragonien, dann zog Corvaja nach Neapel und kämpfte für Robert und Johanna.
Aber damit war es noch nicht genug. Es war etwas ganz Feststehendes, daß die Corvajas, sobald die Geracis sich einen Schwiegersohn zulegten, ihre Macht auch durch eine reiche Heirat vergrößern mußten. Die beiden Geschlechter konnten niemals zur Ruhe kommen. Man mußte um die Wette essen, sich um die Wette ergötzen, um die Wette arbeiten. Die Geracis zogen an den Hof der Bourbonen nach Neapel, nicht aus Sucht nach Auszeichnung, sondern weil die Corvajas dort waren. Die Corvajas mußten ihrerseits Weinbau treiben und Schwefel graben, weil die Geracis sich für Ackerbau und Bergwerksbetrieb interessierten. Wenn ein Geraci eine Erbschaft machte, mußte ein alter Verwandter der Corvajas sich auch zum Sterben niederlegen, damit die Ehre des Geschlechts nicht gefährdet werde. Der Palazzo Geraci mußte immer sehr genaue Aufsicht über die Zahl seiner Diener führen, um sich nicht von dem Palazzo Corvaja überflügeln zu lassen. Aber es war nicht genug mit den Dienern, man mußte auch die Schnüre an den Mützen, das Wagen- und Pferdegeschirr auf gleichem Fuß erhalten. Die Fasanenfeder auf dem Kopf der Wagenpferde der Corvajas durfte nicht einen Zoll länger sein als die der Geracis. Ihre Ziegenherden mußten im gleichen Maße vergrößert werden und die Ochsen der Geracis ebenso lange Hörner haben wie die er Corvajas.
Man sollte meinen, daß die Feindschaft zwischen den beiden Palästen jetzt vorbei sei, denn heutzutage gibt es ebensowenig einen Corvaja in dem einen Palast als einen Geraci in dem anderen.
Jetzt ist der Hof der Geracis ein schmutziger Winkel, in dem sich Esel- und Schweineställe und Hühnerhäuser befinden. Auf der hohen Treppe werden Lumpen getrocknet, und die Reliefbilder sind abgestoßen und verwittert. In der einen der beiden Vorhallen wird ein Handel mit Grünzeug betrieben, und in der andern ist eine Schuhmacherwerkstätte. Der Torwächter sieht aus wie der zerlumpteste Bettler, und vom Keller bis hinauf zum Bodenraum wohnen nur arme verkommene Leute.
Um nichts besser ist es im Palazzo Corvaja. In dem großen Saal findet sich keine Spur mehr von der Mosaikbekleidung, sondern da sind nur nackte kahle Wände. Dort wohnen keine Bettler, weil der Palast zum größten Teil in Trümmern liegt. Nur allein seine schöne Front mit den verzierten Fensterbögen ragt noch zum hellen sizilianischen Himmel empor.
Aber die Feindschaft zwischen den Geracis und den Corvajas ist darum doch noch nicht zu Ende.
In den alten Zeiten wetteiferten nicht nur die hohen Herren miteinander, sondern auch ihre Nachbarn und Untergebenen. Ganz Diamante ist noch immer in Geracis und Corvajas geteilt. Es geht noch immer eine hohe, zackige Mauer mitten durch die Stadt und trennt den Teil der Einwohnerschaft, der auf Seite der Geracis steht, von dem, der sich für die Corvajas erklärt. Noch in unseren Tagen will keiner, der den Geracis angehört, ein Mädchen aus der Partei der Corvajas heiraten. Sie haben nicht einmal denselben Heiligen. Die Geracis beten zu San Pasquale, die schwarze Madonna ist die Schutzpatronin der Corvajas.
Ein Mann von den Geracis kann nichts anderes glauben, als daß ganz Corvaja voller Schwarzkünstler, Hexen und Werwölfe sei. Ein Mann von Corvaja wird seiner Seele Seligkeit verpfänden, daß es in Geraci nur Schelme und Diebesgesindel gebe.
Donna Micaela wohnte auf dem Gebiet Geraci, und bald waren die Bewohner dieses ganzen Stadtteils Anhänger der Eisenbahn. Und da konnte Corvaja nichts anderes tun, als sich ihr zu widersetzen. Die Bewohner von Corvaja waren hauptsächlich gegen zweierlei aufgebracht. Sie wachten eifersüchtig über das Ansehen der schwarzen Madonna, und deshalb gefiel es ihnen nicht, daß noch ein wundertätiges Bild nach Diamante kam; dies war das eine.
Das andere aber war, daß sie fürchteten, der Mongibello werde ganz Diamante unter Feuer und Asche begraben, wenn man ihn mit einer Eisenbahn umgäbe.
Einige Tage nach dem Bazar begann der Palazzo Corvaja, sich feindlich zu zeigen. Donna Micaela fand eines Morgens auf ihrem Dach eine Zitrone, die so dicht mit Stecknadeln besteckt war, daß sie einem Ball aus Stahl glich.
Es war ein Zaubermittel des Palazzo Corvaja, der ihr auf diese Weise soviel Kopfschmerzen zu verursachen suchte, wie Nadeln in der Zitrone staken.
Dann wartete Corvaja ein paar Tage, um die Wirkung der Zitrone zu sehen. Da aber Donna Micaelas Leute ruhig wieder auf den Ätna hinausgingen, um die Eisenbahn abzustecken, riß man dort eines Nachts die Pfähle heraus. Und als diese am nächsten Tag wieder eingesteckt wurden, schlug man in San Pasquale die Fenster ein und bewarf das Christusbild mit Steinen.
Auf der Südseite des Monte Chiaro liegt ein kleiner, schmaler Markt. Auf beiden Längsseiten stehen dunkle, hohe Gebäude. Auf der einen Querseite ist ein jäher Abgrund, und auf der anderen ragt ein steiler Berg empor. Auf dem Abhang waren einst Terrassen angelegt gewesen, aber die Treppen sind eingesunken, und auf der breitesten dieser Terrassen erheben sich die stattlichen Ruinen des Palazzo Corvaja.
Die vornehmste Zierde dieses Platzes ist ein prächtiges ovales Wasserbecken, das gerade unter den Terrassen, dicht an der Bergwand steht. Da steht es, schneeweiß, mit Reliefs geschmückt, voll klaren, kühlen Wassers. Es ist von der ganzen früheren Herrlichkeit der Corvajas am besten erhalten.
An einem schönen, stillen Frühlingsabend kamen zwei schwarzgekleidete Damen auf den Markt gewandert. In diesem Augenblick war er fast leer, kaum ein Mensch war zu sehen. Die beiden Frauen schauten sich um, und da sie niemanden sahen, setzten sie sich auf die Bank neben dem Brunnen und warteten.
Bald kamen ein paar neugierige Kinder herbei und starrten sie an, und die eine der beiden Frauen, die schon älter war, redete eines der Kinder an. Sie wolle ihnen Geschichten erzählen, solche, die stets mit »Es war einmal« anfangen, sagte sie.
Dann erzählte sie den Kindern von dem Christuskind, das sich in Rosen und Lilien verwandelte, als die Madonna einem der Soldaten des Herodes begegnete, der den Befehl hatte, alle Kinder zu ermorden. Und sie erzählte ihnen auch die Legende, nach der das Christuskind einmal Vöglein aus Lehm bildete. Als nun ein böser Junge daherkam und die Tierchen zerschlagen wollte, klatschte das Christuskind in die Hände, da bekamen die Vöglein Flügel und flogen davon.
Während die alte Frau so erzählte, versammelten sich viele Kinder um sie, und allmählich gesellten sich auch erwachsene Leute dazu. Es war gerade ein Samstagabend, wo die Arbeiter vom Feld heimkehrten. Die meisten traten im Vorbeigehen an den Brunnen der Corvajas, um zu trinken, ehe sie nach Hause gingen. Als sie hörten, daß hier Legenden erzählt wurden, blieben sie stehen und hörten zu. Die beiden Frauen waren bald von einer dunklen Mauer aus groben, schwarzen Mänteln und Schlapphüten umgeben.
Plötzlich sagte die alte Dame zu den Kindern: »Habt ihr das Christuskind lieb?«
»Ja, ja!« riefen die Kinder, und ihre großen dunklen Augen strahlten.
»Ihr möchtet es wohl gerne sehen?«
»Ja, ja!«
Die Dame schlug ihre Mantille zurück und zeigte den Kindern ein kleines Christusbild in ringbehängtem Wickelband mit einer goldenen Krone auf dem Kopf und goldenen Schuhen an den Füßen.
»Hier ist es«, sagte sie. »Ich habe es mitgenommen, um es euch zu zeigen.«
Die Kinder waren ganz entzückt. Zuerst falteten sie die Hände vor dem ernsten Antlitz des Bildes, dann warfen sie ihm Kußhände zu.
»Es ist schön, nicht wahr?« sagte die Dame.
»Schenk es uns! Schenk es uns!« riefen die Kinder.
Doch nun drängte sich ein großer, grobknochiger Arbeiter vor, ein Mann von dunkler Hautfarbe und mit einem borstigen schwarzen Bart. Er wollte das Bild an sich reißen. Die alte Dame hatte eben noch Zeit, es hinter ihrem Rücken zu verstecken.
»Gebt her, Donna Elisa, gebt her!« sagte der Mann.
Die arme Donna Elisa warf einen Blick auf Donna Micaela, die die ganze Zeit still und mißmutig neben ihr gesessen hatte. Donna Micaela hatte sich nur mit Mühe überreden lassen, mit nach Corvaja zu gehen, um den Leuten dort das Bild zu zeigen.
»Das Bild hilft uns, wenn es will«, sagte sie. »Wir dürfen es nicht zu einer Wundertat zwingen.«
Aber Donna Elisa hatte durchaus hingehen wollen und gesagt, das Bild warte nur darauf, zu den armen Ungetreuen in Corvaja gebracht zu werden. Nach alldem, was es schon getan habe, könnten sie wohl soviel Vertrauen zu ihm haben, zu glauben, daß es auch jene gewinnen werde.
Aber nun stand sie diesem Mann gegenüber und wußte nicht, wie sie ihn daran hindern könnte, ihr das Bild zu entreißen.
»Gebt es mir freiwillig, Donna Elisa«, sagte der Mann, »sonst nehme ich es mir bei Gott doch. Ich will es in kleine Stücke zerhauen, in ganz kleine Stücke. Ihr werdet schon sehen, wieviel von Eurer hölzernen Puppe übrigbleiben wird. Ihr werdet sehen, ob sie gegen die schwarze Madonna aufkommen kann.«
Donna Elisa drückte sich gegen die Bergwand, sie sah keinen Ausweg. Sie konnte weder davonlaufen, noch mit dem Mann kämpfen.
»Micaela!« jammerte sie, »Micaela!«
Donna Micaela war sehr blaß geworden. Sie preßte die Hände aufs Herz, wie es ihre Gewohnheit war, wenn sie etwas erregte. Es war schrecklich, diesen dunklen Männern als Feind gegenüberstehen zu müssen. Vor solchen Männern in Schlapphüten und kurzen Mänteln hatte sie sich von jeher gefürchtet.
Aber jetzt, als Donna Elisa sie anrief, wandte sie sich jäh um, riß das Bild an sich und hielt es dem Mann hin.
»Da nehmt es«, sagte sie trotzig. Und sie trat einen Schritt auf ihn zu. »Nehmt es, und macht damit, was Ihr könnt!«
Sie hielt das Bild in ihren ausgestreckten Armen und kam dem dunklen Arbeiter immer näher.
Er wandte sich an seine Kameraden. »Sie glaubt, ich könne der Puppe nichts tun«, sagte er höhnisch. Und die ganze Arbeiterschar schlug sich auf die Knie und brach in lautes Lachen aus.
Aber er nahm das Bild nicht, sondern faßte statt dessen die große Hacke, die er in der Hand hielt, fester: Er trat einen Schritt zurück, hob die Hacke über seinen Kopf empor und spannte alle Muskeln an zu einem Schlag, der auf einmal die ganze verhaßte Holzpuppe zerschmettern sollte.
Donna Micaela schüttelte warnend den Kopf.
»Du kannst es nicht«, sagte sie und zog das Bild nicht zurück. Er sah, daß sie doch Angst hatte, und es machte ihm Spaß, sie zu erschrecken.
Er hielt die Hacke viel länger erhoben, als es nötig gewesen wäre.
»Piero!« erklang plötzlich eine Stimme laut und angstvoll. »Piero! Piero!«
Der Mann ließ die Hacke sinken, ohne zuzuschlagen. Er sah erschrocken aus.
»Piero!« erklang es gellend und durchdringend wie ein Notschrei.
»Gott, das ist Marcia!« sagte er.
In demselben Augenblick stürmte ein ganzer Menschenhaufen aus einer kleinen Hütte heraus, die in die Ruinen des Palazzo Corvaja hineingebaut war. Es waren etwa zehn Frauen in heftigem Handgemenge mit einem Karabiniere. Der Karabiniere hielt ein Kind im Arm, und die Frauen versuchten, ihm das Kind zu entreißen. Aber der Diener der Gerechtigkeit, ein großer starker Mann, riß sich von ihnen los, schwang das Kind auf seine Schulter und sprang die Terrassentreppe herunter.
Der dunkle Piero hatte zugesehen, ohne sich zu rühren. Als der Karabiniere sich losriß, beugte er sich zu Donna Micaela vor und sagte schnell:
»Wenn das kleine Kind dies verhindern kann, dann soll ganz Corvaja sein Freund werden.«
Nun war der Karabiniere auf dem Markt angekommen. Piero macht ein Zeichen mit der Hand. Sogleich schlossen alle seine Kameraden einen Ring um den Fliehenden. Er drehte sich im Kreis herum. Überall war ein geschlossener Ring von Männern, die ihm mit ihren Hacken und Spaten drohten.
Dann entstand ein furchtbares Durcheinander. Die Frauen, die mit dem Karabiniere gekämpft hatten, stürzten mit lautem Schreien herbei.
Das Mädchen, das der Karabiniere im Arm hielt, schrie aus Leibeskräften und versuchte, sich ihm zu entwinden. Die Leute liefen von allen Seiten herbei. Alles schrie und fragte durcheinander.
»Komm, laß uns gehen«, sagte Donna Elisa zu Donna Micaela. »Jetzt denken sie nicht mehr an uns.«
Aber Donna Micaelas Aufmerksamkeit war auf eine der Frauen gerichtet. Diese schrie am wenigsten, aber man sah sogleich, daß es sich hier um sie handelte. Sie sah aus, als sollte sie das Glück ihres Lebens verlieren.
Es war eine Frau, die einmal sehr schön gewesen sein mußte, obgleich jetzt alle Frische verschwunden war, denn die Frau war nicht mehr jung. Immerhin war es noch ein recht bedeutendes Gesicht mit großgeschnittenen Zügen. Hier wohnt eine Seele, die lieben und leiden kann, sagte dieses Gesicht. Donna Micaela fühlte sich zu dieser armen Frau wie zu einer Schwester hingezogen.
»Nein, noch ist es nicht Zeit zu gehen«, sagte sie zu Donna Elisa.
Der Karabiniere fragte immer wieder, ob sie ihn denn nicht durchlassen wollten.
Nein, nein, nein! Erst wenn er das Kind losgelassen habe.
Das Kind gehörte Piero und seiner Frau Marcia. Sie waren jedoch nicht die richtigen Eltern des Kindes. Und darum drehte sich der Streit.
Der Karabiniere suchte die Leute im Guten auf seine Seite herüberzuziehen. Er suchte sie zu überzeugen, nicht Piero und Marcia, aber die anderen.
»Ninetta ist die Mutter des Jungen, das wißt ihr doch«, sagte er. »Sie hat das Kind nicht bei sich haben können, solange sie nicht verheiratet war, jetzt aber ist sie verheiratet, und nun will sie ihr Kind zu sich nehmen. Jetzt aber weigert sich Marcia, das Kind herauszugeben. Das ist doch hart für Ninetta, die ihr Kind acht Jahre lang hat entbehren müssen. Marcia will es ihr nicht abtreten. Sie jagt Ninetta fort, wenn sie kommt und um das Kind bittet. Es blieb Ninetta nichts anderes übrig, als beim Sindaco zu klagen. Und der Sindaco hat uns befohlen, ihr das Kind zu verschaffen«, sagte der Karabiniere überredend. Aber er hatte damit nicht viel Erfolg bei den Männern von Corvaja.
»Ninetta ist eine Geraci«, rief Piero; und der Kreis um den Karabiniere blieb fest geschlossen.
»Als wir herkamen, um das Kind zu holen«, fuhr der Karabiniere fort, »fanden wir es nicht. Marcia aber trug Trauerkleider; ihr Zimmer war schwarz ausgeschlagen, und ein ganzer Haufen Weiber saß bei ihr, und sie klagten mit ihr. Sie zeigten uns den Totenschein des Kindes. Da gingen wir zu Ninetta zurück und sagten ihr, ihr Kind liege auf dem Kirchhof.
Nun gut, nun gut, eine Weile später hatte ich hier auf dem Markt die Wache. Ich betrachtete die Kinder, die hier spielten. Aber wer war am stärksten von ihnen, und wer schrie am lautesten? Wahrhaft eines der Mädchen. ›Wie heißt du?‹ fragte ich das Kind. ›Francesco‹, antwortete es sogleich.
Da kam mir der Gedanke, daß dieses Mädchen Francesco am Ende Ninettas Junge sei. Ich blieb stehen und wartete. Und gerade vorhin sah ich Francesco in Marcias Haus hineingehen. Ich ging ihm nach, da saß das Mädchen Francesco mit Marcia beim Abendbrot. Sie und alle Betroffenen schrien laut auf, als ich eintrat. Ich aber ergriff diese Signorina Francesco und lief mit ihr davon. Denn es ist nicht Marcias Kind. Versteht doch, Signori, es gehört Ninetta, Marcia hat kein Recht darauf.«
Nun endlich begann Marcia zu sprechen. Sie sprach mit tiefer Stimme, die einen zwang, ihr zuzuhören, und sie machte nur wenige, aber edle Gebärden. Sie habe allerdings kein Recht auf das Kind; aber wer habe ihm denn Nahrung und Kleidung gegeben? Es wäre schon tausendmal gestorben, wenn sie nicht gewesen wäre. Ninetta habe es ja La Felucca gegeben. Alle Umstehenden kennten ja La Felucca. Ihr sein Kind übergeben, das sei soviel wie zu ihm sagen: »Du mußt sterben.« Und außerdem, Recht! Recht! Was solle das heißen? Wer den Jungen liebe, der habe ein Recht auf ihn. Ja, wer ihn liebe, der habe ein Recht auf ihn. Piero und sie liebten ihn wie ihren eigenen Sohn, sie könnten sich nicht von ihm trennen.
Die Frau war ganz verzweifelt, aber vielleicht noch mehr über ihren Mann. Er drohte dem Karabiniere, sobald dieser sich bewegte. Dennoch meinte dieser zu bemerken, daß er schließlich gewinnen würde. Man hatte gelacht, als er von der »Signorina Francesco« sprach.
»Schlag mich nieder, wenn du willst«, sagte er zu Piero.
»Hilft dir das vielleicht? Darfst du dann das Kind behalten? Es gehört nicht dir, sondern Ninetta.«
Piero wandte sich an Donna Micaela. »Bittet ihn, daß er mir helfe!« Er deutete auf das Bild.
Doch nun trat Donna Micaela rasch zu Marcia. Sie war schüchtern und zitterte vor dem, was sie zu tun im Begriff war; aber jetzt war nicht der Augenblick, sich zurückzuhalten. »Marcia«, flüsterte sie. »Bekenne! Bekenne, wenn du es wagst.«
Die Frau sah sie erschreckt an.
»Ich sehe es ja«, flüsterte Donna Micaela. »Ihr seht euch ähnlich wie ein Ei dem anderen. Aber wenn du nicht willst, sage ich nichts.«
»Er bringt mich um«, sagte Marcia.
»Ich weiß einen, der nicht zulassen wird, daß er dich umbringt«, sagte Donna Micaela. »Bekenne, sonst nimmt man dir das Kind weg«, fügte sie hinzu.
Alle Leute ringsum verstummten und hefteten ihre Blicke auf die beiden Frauen. Man sah, wie Marcia mit sich kämpfte. Es zuckte heftig in ihrem kräftigen Gesicht. Dann bewegte sie die Lippen.
»Es ist mein Kind«, sagte sie, aber so leise, daß es niemand verstand. Dann wiederholte sie die Worte, und diesmal klang es wie ein durchdringender Schrei. »Es ist mein Kind!«
»Was wirst du nun mit mir tun, da ich es dir gestanden habe«, sagte sie zu ihrem Mann. »Es ist mein Kind, aber nicht deines. Es wurde in jenem Jahr geboren, als du in Messina in Arbeit warst. Ich gab es La Felucca, und da war auch Ninettas Junge. Eines Tages, als ich zu La Felucca kam, sagte sie zu mir: ›Ninettas Junge ist tot.‹ Zuerst dachte ich nur: ›Ach, wenn es doch der meine gewesen wäre!‹ Dann sagte ich zu La Felucca: ›Laß meinen Jungen tot sein und Ninettas leben.‹ Ich gab La Felucca meinen silbernen Kamm, und dann ging ich nach Hause. Als du von Messina heimkamst, sagte ich zu dir: ›Laß uns ein Pflegekind annehmen. Wir haben uns nie recht vertragen. Wir wollen es nun mit einem Pflegekind versuchen.‹ Der Vorschlag gefiel dir, und ich nahm mein eigenes Kind zu mir. Und du hast es liebgehabt, und wir haben seither wie im Paradies miteinander gelebt.«
Noch ehe sie ihre Erzählung beendet hatte, setzte der Karabiniere das Kind auf den Boden. Die dunklen Männer traten still auseinander, und er entfernte sich. Aber Donna Micaela überlief ein kalter Schauer, als sie den Karabiniere fortgehen sah. Gerade jetzt hätte er dableiben müssen, um das arme Weib zu beschützen. Daß er ging, war, wie wenn er gesagt hätte: »Sie steht außerhalb des Gesetzes. Ich kann sie nicht beschützen.« Und deshalb fühlten alle herumstehenden Männer und Frauen: »Sie steht außerhalb des Gesetzes.«
Einer nach dem anderen machte sich davon.
Piero, der Ehegatte, stand noch auf demselben Fleck und hob die Augen nicht vom Boden auf. Aber etwas Unheimliches und Böses stieg in ihm auf. Zorn und Schmerz krampften ihm das Herz zusammen. Etwas Fürchterliches wollte sich Luft schaffen; er wartete nur, bis er mit Marcia allein sein würde.
Das Schrecklichste aber war, daß die Frau nichts tat, um ihrem Schicksal zu entgehen. Von der Gewißheit gelähmt, daß ihr Urteil gefällt war und daß nichts es umstoßen konnte, stand sie unbeweglich da. Sie bat weder um Gnade, noch floh sie. Sie kauerte sich zusammen wie ein Hund vor seinem erzürnten Herrn. Die sizilianischen Frauen wissen, was sie erwartet, wenn sie die Ehre ihres Mannes gekränkt haben.
Die einzige, die sie zu verteidigen suchte, war Donna Micaela.
Sie sagte zu Piero, niemals würde sie Marcia aufgefordert haben, zu bekennen, wenn sie gewußt hätte, daß er so wäre. Sie habe geglaubt, er sei ein edler Mann. Ein edler Mann würde in einem solchen Fall wie diesem gesagt haben: »Du hast schlecht gehandelt, aber da du, um das Kind zu retten, deine Schuld vor allen bekannt und dich meinem Zorn ausgesetzt hast, hast du dein Verbrechen gesühnt. Das ist Strafe genug.« Ein edler Mann würde das Kind auf den Arm nehmen, den andern um seine Frau legen und froh mit ihr nach Hause gehen. So würde ein Signor handeln. Er aber sei kein Signor, er sei ein Bluthund.
Doch sie konnte reden, was sie wollte, der Mann hörte sie gar nicht, und die Frau hörte sie auch nicht. Es schien, als prallten ihre Worte an einer undurchdringlichen Mauer ab.
In diesem Augenblick kam das Kind leise herbei und faßte nach der Hand des Vaters. Er sah das Kind grimmig an. Jetzt, wo es Mädchenkleider trug, wo das Haar glatt gekämmt und an den Ohren zurückgestrichen war, trat die Ähnlichkeit mit Marcia, die ihm bisher nicht aufgefallen war, unverkennbar hervor. Er stieß Marcias Kind mit dem Fuß zurück.
Eine unheimliche Stimmung lag über dem Markt. Die Nachbarn entfernten sich noch immer still und langsam. Viele entfernten sich widerwillig und zögernd, aber sie gingen doch. Der Mann schien nur darauf zu warten, bis der letzte gegangen sein würde.
Donna Micaela sprach nicht mehr; statt dessen nahm sie das Christusbild und legte es Marcia in die Arme. »Nimm es, meine Schwester Marcia, und möge es dich beschützen«, sagte sie.
Der Mann sah es, und das schien seinen Zorn noch zu steigern. Es war, als könne er den Augenblick nicht mehr erwarten, wo er allein mit seiner Frau blieb. Sein Körper krümmte sich, es war, als setze ein Raubtier zum Sprung an. Aber das Bild lag nicht umsonst in den Armen der Frau. Der Verstoßene befähigte sie zu einer Tat der größten Liebe.
»Was wird Christus im Paradies zu mir sagen, zu mir, die ihren Mann zuerst betrogen und dann noch zum Mörder gemacht hat?« dachte sie. Und sie dachte daran, wie sie diesen großen Piero in den Tagen der Jugend geliebt hatte. Damals hätte sie nie geglaubt, daß sie je solches Elend über ihn bringen würde.
»Nein, Piero, nein, töte mich nicht!« schrie sie erregt. »Du kommst dann auf die Galeere. Du sollst mich auch so nicht mehr sehen müssen!«
Sie stürzte auf die andere Seite des Marktes, wo der gähnende Abgrund begann. Man sah wohl, was sie zu tun beabsichtigte. Ihr Gesicht verriet es.
Mehrere eilten ihr nach, aber sie hatte einen guten Vorsprung. Da entglitt ihr das Bild, das sie noch auf dem Arm trug, und es fiel ihr vor die Füße. Sie stolperte darüber und fiel hin. Da wurde sie eingeholt.
Sie versuchte sich loszureißen, aber ein paar Männer hielten sie fest.
»Ach, laßt mich, laßt mich! Es ist besser für ihn, wenn ich es tue!«
Aber nun holte auch ihr Mann sie ein. Er hatte ihr Kind ergriffen und es auf den Arm genommen. Er war tief gerührt. »So, Marcia, nun wollen wir es gut sein lassen«, sagte er. Er war verlegen, aber seine dunklen Augen leuchteten glücklich in ihren tiefen Höhlen und sagten mehr als seine Worte. »Vielleicht hätte es nach altem Brauch nicht so sein sollen, aber ich kümmere mich nicht darum. So, nun komm. Es wäre schade um eine solche Frau, wie du eine bist, Marcia.« Er schlang seinen Arm um sie und ging mit ihr zu seinem Haus droben in den Ruinen des Palazzo Corvaja. Es war, als zöge einer der alten Barone dort ein. Die Leute von Corvaja standen auf beiden Seiten des Weges und verneigten sich vor ihm und Marcia.
Als sie an Donna Micaela vorbeikamen, blieben beide stehen; sie verneigten sich vor ihr und küßten das Bild, das man ihr zurückgegeben hatte. Aber Donna Micaela küßte Marcia:
»Bete für mich in deinem Glück, Schwester Marcia«, sagte sie.