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II. In Palermo

Endlich, endlich! Es ist ein Uhr nachts. Wer Angst hat, er könnte verschlafen, steht jetzt auf, kleidet sich an und geht auf die Straße.

Und wer im Kaffeehaus eingenickt war, fährt auf, wenn er Schritte auf dem Straßenpflaster vernimmt. Er schüttelt die Schläfrigkeit ab und eilt hinaus. Er mischt sich unter den schnell anwachsenden Menschenstrom, und die träge Zeit scheint ein wenig rascher zu vergehen.

Ganz oberflächlich miteinander bekannte Menschen drücken einander mit warmer Herzlichkeit die Hände. Man merkt, daß alle Herzen von derselben großen Freude erfüllt sind. Selbst Menschen, von denen man es nie erwartet hätte, sind unterwegs, alte Universitätsprofessoren und vornehme Edelleute und feine Damen, die sonst keinen Fuß auf die Straße setzen; und alle sind gleich froh.

»Lieber Gott! daß er kommt, daß Palermo ihn wiederhaben soll!« sagen sie.

Die Studenten von Palermo, die ihr gewöhnliches Standquartier in Quattro Canti die ganze Nacht nicht verlassen haben, sind mit Fackeln und bunten Laternen versehen. Diese dürfen vor vier Uhr, wo der Erwartete eintreffen soll, nicht angezündet werden.

Aber schon gegen zwei Uhr probiert der eine und der andere, ob seine Fackel auch gut brenne. – Da zünden alle andern die ihrigen auch an, und sie begrüßen das Licht mit lauten Hurrarufen. Es ist ihnen unmöglich, im Dunkeln zu sitzen, wenn eine so große Freude in ihnen glüht.

In den Gasthöfen werden die Fremden geweckt und ermahnt, aufzustehen.

»Heute nacht ist ein großes Fest in Palermo, o Signori.«

Die Fremden fragen, für wen.

»Für einen Sozialisten, den die Regierung aus dem Gefängnis entlassen hat. Er kommt gegen Morgen mit dem Dampfboot von Neapel an.«

»Was ist das für ein Mann?«

»Er heißt Bosco, und das Volk liebt ihn.« Überall herrscht trotz der Nacht um des Erwarteten willen reges Leben. Ein Ziegenhirt vom Monte Pellegrino bindet eifrig kleine Maßliebchensträußchen, die seine Ziegen im Halsband tragen sollen. Und da er hundert Ziegen hat und alle Halsbänder tragen ... Aber er muß sie erst machen. Seine Ziegen könnten morgen früh nicht in Palermo einziehen, wenn sie nicht dem Tag zu Ehren geschmückt wären.

Die Schneiderinnen haben bis Mitternacht an ihrer Arbeit sitzen müssen, um mit all den neuen Kleidern fertig zu werden, die am nächsten Morgen angezogen werden sollen. Und wenn so eine kleine Näherin ihre Arbeit für die andern fertig hat, dann muß sie erst noch an sich selbst denken. Sie steckt noch ein paar Federn auf ihren Hut und setzt ellenhohe Bandschleifen daneben. An diesem Tag muß sie schön sein.

Jetzt werden lange Häuserreihen illuminiert. Da und dort sieht man eine Rakete aufsteigen, und bald knallt an allen Straßenecken Feuerwerk.

Die Blumenhändler in der langen Via Vittorio Emanuele verkaufen der Reihe nach ihren ganzen Blumenvorrat. Immer mehr Orangenblüten, nur immer weiße Orangenblüten; ganz Palermo ist von dem süßen Orangenduft erfüllt. Der Torwächter in Boscos Haus hat keinen Augenblick Ruhe. Prachtvolle Torten und turmhohe Blumensträuße wandern unaufhörlich die Treppen hinauf. Und es kommen Willkommgedichte und Telegramme. Es nimmt gar kein Ende damit!

Dem armen Kaiser aus Bronze auf der Piazza Bologna, dem armen, häßlichen Kaiser Karl V., der so vergrämt und mager und elend aussieht, wie San Giovanni in der Wüste, ist auf unerklärliche Weise auch ein Blumenstrauß in die Hand gesteckt worden. Als die Studenten, die auf Quattro Canti ganz in der Nähe stehen, dies erfahren, ziehen sie in geordnetem Zug zum Kaiser hin, heben ihre Fackeln empor und bringen ein Hoch auf den alten Despoten aus. Und einer von ihnen holt den Strauß herunter, um ihn dem großen Sozialisten zu überreichen.

Darauf ziehen die Studenten zum Hafen hinunter.

Lange, ehe sie dort eintreffen, sind ihre Fackeln ausgebrannt. Aber sie grämen sich nicht darüber. Arm in Arm ziehen sie daher, aus vollem Halse singend und ab und zu mitten im Gesang abbrechend, um zu rufen: »Nieder mit Crispi! Hoch, Bosco, hoch!« Dann wird der Gesang wieder aufgenommen, aber nur, um gleich wieder unterbrochen zu werden, weil die, welche nicht singen können, die anderen umarmen und küssen.

Die Gewerbe und Zünfte strömen aus ihren Stadtteilen heraus, in denen seit tausend Jahren ein und dasselbe Handwerk betrieben wird. Da kommen die Maurer mit ihren Musikchören und Fahnen, dort die Mosaikarbeiter und dort die Fischer. Wenn die Vereine sich begegnen, grüßen sie einander mit den Fahnen. Bisweilen nehmen sie sich auch Zeit, stehenzubleiben und Reden zu halten. Man spricht von den fünf Freigelassenen, den fünf Märtyrern, die die Regierung Sizilien endlich wiedergeschenkt hat. Und die ganze Volksmenge ruft: »Bosco hoch! Da Felice hoch! Verro hoch! Barbato hoch! Alagona hoch!«

Wenn aber jemand des Treibens in den Straßen müde ist und zum Hafen von Palermo hinuntergeht, bleibt er plötzlich verwundert stehen und fragt sich: »Wo bin ich denn? Madonna Santissima, wo bin ich hingeraten?«

Denn er hat erwartet, den Hafen noch dunkel und verlassen zu finden.

Aber alle Boote und alle Prahme im Hafen von Palermo sind von verschiedenen Gesellschaften und Vereinen mit Beschlag belegt worden, und sie fahren nun im Hafen umher, mit bunten venetianischen Laternen reich geschmückt, und jeden Augenblick steigen große Raketenbündel aus den Fahrzeugen auf. Über die harten Bretter hat man prächtige Teppiche und Stoffe gebreitet, und darauf sitzen die Damen, die schönsten Damen Palermos, in helle Seide und schimmernden Samt gekleidet. Die kleinen Fahrzeuge gleiten auf dem Wasser umher, bald in Schwärmen, bald vereinzelt. Auf den großen Fahrzeugen sind die Masten und Rahen mit Wimpeln und Laternen reich geschmückt, und die kleinen Hafendampfer fahren mit blumenumwundenen Schornsteinen auf dem Wasser dahin. Das Wasser aber blinkt und blitzt und glitzert, daß der Schein einer Laterne zu einem Lichtstrom wird und die Tropfen, die von den Rudern herabfallen, wie flüssiges Gold glänzen.

Aber rings am Ufer stehen hunderttausend, ja hundertfünfzigtausend Menschen ganz außer sich vor Freude. Sie küssen einander, so glücklich – sie können sich gar nicht mehr fassen vor lauter Freude, ja viele vergießen helle Tränen. Feuer bedeutet ja Freude. Es ist nur gut, daß man Feuer anzünden kann. Plötzlich lodert eine große Flamme auf dem Monte Pellegrino auf, gerade über dem Hafen. Dann steigen überall auf der ganzen zackigen Bergwand, die die Stadt umgibt, gewaltige Feuer auf. Es flammt auf Monte Falcone, auf San Martino, bis hin zum »Berg der Tausend«, wo Garibaldi ans Land stieg.

Und weit draußen auf dem Meer fährt der große Neapeldampfer, und auf dem Dampfer befindet sich Bosco, der Sozialist.

Er kann in dieser Nacht nicht schlafen. Er hat seine Kajüte verlassen und wandert auf Deck hin und her. Seine alte Mutter, die ihm bis Neapel entgegengefahren ist, gesellt sich zu ihm. Aber er kann nicht mit ihr sprechen, er denkt daran, daß er nun bald daheim sein wird. O Palermo, Palermo!

Mehr als zwei Jahre hat er im Gefängnis geschmachtet. Es sind zwei Jahre der Qual und der Sehnsucht gewesen. Und haben sie etwas genützt? Das ist es, was er wissen möchte. Hat es einen Nutzen gehabt, daß er seiner Sache treu geblieben war und ins Gefängnis gegangen ist? Hat Palermo seiner gedacht? Hat sein Leiden der Sache auch nur einen einzigen Anhänger gewonnen?

Seine alte Mutter sitzt zusammengekauert auf der Kajütentreppe und friert in der Nachtkälte. Er hat sie gefragt, aber sie hat ihm keine Auskunft geben können. Sie erzählt von dem kleinen Francesco und von der kleinen Lina und sagt ihm, wie groß beide geworden seien. Sie weiß nichts von dem, wofür er kämpft.

Aber jetzt tritt er zu seiner Mutter. Er nimmt sie bei der Hand, führt sie an die Reling und fragt sie, ob sie nicht dort ganz im Süden auch etwas sehe. Sie schaut aufs Meer hinaus mit ihren blöden Augen, aber sie sieht nur die Nacht, die schwarze Nacht auf dem Meer. Nein, sie kann durchaus nicht sehen, daß ein Feuerschein über dem Meere liegt. Er beginnt wieder auf- und abzuwandern, und sie kriecht wieder unter ihr Schutzdach. Er braucht nicht mit ihr zu reden, für sie ist es schon Freude genug, ihn wieder daheim zu haben nach nur zweijähriger Trennung. Er war zu fünfundzwanzigjähriger Kerkerhaft verurteilt gewesen. Aber jetzt hat der König ihn begnadigt. Denn der König ist ein guter Mann. Wenn er nur so gut sein dürfte, wie er möchte! Bosco geht nach vorne zu den Matrosen und fragt diese, ob sie nicht dort am Horizont einen goldenen Schein wahrnehmen könnten.

»Das ist Palermo«, sagen die Seeleute. »Bei Nacht schwebt immer so ein Lichtschein darüber.«

Es konnte nichts sein, das ihn anging. Er will sich an den Gedanken gewöhnen, daß nichts zu seinem Empfang getan worden ist. Er kann ja nicht verlangen, daß alle Menschen mit einem Male Sozialisten geworden sein sollen.

Aber nach einer Weile denkt er: »Es muß doch etwas Besonderes los sein. Alle Matrosen versammeln sich vorne am Steven.«

»Es brennt in Palermo!« sagen die Seeleute.

Ja, das könnte ja auch sein. Ach, nur weil er so schrecklich gelitten hat, erwartet er, daß etwas für ihn getan werde!

Aber jetzt sehen die Seeleute die Feuer auf den Bergen.

»Das kann keine Feuersbrunst sein. Es wird wohl ein Heiligenfest gefeiert.« Sie fragen einander, wie der Tag heiße. Bosco versucht sich auch einzureden, daß es etwas Derartiges sein müsse, und er fragt seine Mutter, ob heute ein Festtag sei. Es gibt ja deren so viele.

Sie kommen der Stadt immer näher. Das Brausen des Festjubels aus der großen Stadt tönt ihnen entgegen.

»Ganz Palermo singt und spielt heute nacht«, sagt einer der Matrosen.

»Es muß ein Telegramm mit einer Siegesnachricht aus Afrika eingetroffen sein«, sagt ein anderer

Keiner denkt auch nur daran, daß es um seinetwillen geschehen sein könnte! Bosco entfernt sich und setzt sich an den Hintersteven, um nichts mehr sehen zu müssen. Er will sich keinen falschen Hoffnungen hingeben. Würde wohl ganz Palermo um eines armen Sozialisten willen illuminieren?

Seine Mutter kommt herbei, um ihn zu holen.

»Was stehst du hier? Komm und sieh dir Palermo an. Ob wohl der König angekommen ist? Komm doch her und sieh dir Palermo an.«

Er überlegt. Nein, es kommt wohl kaum jetzt gerade ein König nach Sizilien. Aber er darf ja nicht wagen, zu glauben ... wenn nicht einmal seine eigene Mutter ...

Plötzlich stoßen alle auf dem Dampfer einen lauten Schrei aus. Er klingt fast wie ein Notschrei. Ein großer Lustkutter ist gerade auf sie zugesteuert und fährt nun neben dem Dampfer her.

Der ganze Kutter ist ein Blumen- und Lichtmeer. Über die Reling hängen rot- und weißseidene Draperien herab. Alle Leute an Bord sind in Rot und Weiß gekleidet. Bosco steht an der Reling und späht, was dies schöne Boot wohl bringen könnte.

Da schlägt das Segel um, und auf seiner weißen Fläche leuchtet ihm entgegen:

»Hoch Bosco!«

Sein Name! Nicht der eines Heiligen, nicht der eines Königs, nicht der eines siegreichen Generals! Niemand anderem auf dem Dampfer gilt die Huldigung. Sein Name! Sein Name!

Der Lustkutter schickt ein paar Raketen in die Höhe. Ein ganzer Himmel von Sternen regnet herab. Nun sind sie erloschen.

Bosco fährt in den Hafen. Überall Jubel und Begeisterung, Hochrufe und Ehrenbezeugung. Die Leute sagen: »Wenn er es nur auch überlebt!«

Aber sobald ihm all diese Huldigung dargebracht wird, fühlt Bosco, daß er sie gar nicht verdient. Er möchte vor diesen hundertfünfzigtausend Menschen, die ihm huldigen, niederknien und sie bitten, ihm zu verzeihen, daß er nichts vermochte, daß er nichts für sie getan hat.

Wie durch einen ganz besonderen Glücksfall ist Donna Micaela in dieser Nacht in Palermo. Sie will eine der neuen Unternehmungen ins Werk setzen, die sie sich ausgedacht hat, um am Leben und bei gesundem Verstand bleiben zu können. Sie ist hier, um Vorkehrungen zu treffen entweder für die Drainierung oder für den Marmorbruch.

Auch sie ist unten am Hafen, wie alle anderen. Sie fällt auf, als sie sich einen Weg zum Ufer bahnt. Eine große hohe, dunkle Erscheinung von vornehmem Aussehen, ein blasses Gesicht mit kräftigen Zügen und flehenden, sehnsuchtsvollen, leidenschaftlichen Augen.

Während der Empfang im Hafen stattfindet, kämpft Donna Micaela einen seltsamen Streit mit sich selbst. »Wenn dies Gaetano wäre«, denkt sie, »könnte ich, könnte ich ...

Wenn alle diese Menschen ringsum ihm zujubelten, könnte ich ...«

Es herrscht eine Freude, eine Freude, wie sie noch nie eine gesehen hatte. Die Menschen lieben einander und sind wie Brüder. Nicht allein, weil ein Sozialist heimkehrt, sondern weil sie alle glauben, daß die Erde nun bald glücklich werden wird. »Wenn er jetzt käme, während diese Freude rund umher braust«, denkt sie, »könnte ich, könnte ich ...«

Sie sieht, wie Boscos Wagen versucht, durch die Volksmassen hindurchzufahren. Es geht nur Schritt für Schritt. Immer wieder muß er anhalten. Es kann mehrere Stunden dauern, bis er vom Hafen heraufkommt.

»Wenn er es wäre und wenn ich sähe, wie sich alle um ihn drängen, könnte ich es dann unterlassen, mich in seine Arme zu werfen? Könnte ich es unterlassen?«

Sobald sie sich aus dem Volksgewimmel herausarbeiten kann, nimmt sie einen Wagen, fährt aus Palermo hinaus und durch die Ebene Conca D'oro nach Monreale zu der großen Domkirche der alten Normannenkönige.

Sie geht in die Kirche hinein und steht nun Auge in Auge mit dem schönsten Christusbild, das menschliche Kunst geschaffen hat. Ganz drinnen im Chor steht der wunderschöne segnende Christus in strahlendem Mosaik. Er ist mächtig und geheimnisvoll und majestätisch. Unzählbar ist die Menge derer, die nach Monreale wallfahrten, um im Beschauen dieses Antlitzes Trost zu finden. Unzählbar ist die Menge derer, die sich in fremden Ländern nach ihm sehnen. Wer ihn zum erstenmal sieht, dem schwankt der Boden unter den Füßen. Diese Augen zwingen ihn, das Knie zu beugen. Ohne daß er sich dessen bewußt ist, stammeln die Lippen: »Du Gott bist Gott.« Ringsum an den Wänden strahlen die Weltbegebenheiten in herrlichen Mosaikbildern. Und alle deuten auf Christus hin. Sie sind nur dazu da, um zu sagen: »Alle Vergangenheit ist sein. Alle Gegenwart ist sein, und alle Zukunft ist sein.«

Die Geheimnisse des Lebens und des Todes thronen auf dieser Stirn.

Da wohnt der Geist, der das Schicksal der Welt lenkt. Da strahlt die Liebe, die der Welt Erlösung bringen soll.

Und Donna Micaela ruft ihn an. »Du Sohn Gottes,« fleht sie, »scheide mich nicht von dir! Laß keinen Menschen Macht gewinnen, mich von dir zu scheiden!«


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