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Als Donna Emilia die Kasse öffnete, um die Eintrittskarten zu der zweiten Vorstellung des alten Martyriums zu verkaufen, stand die Menge schon in langen Reihen wartend da, um Plätze zu bekommen; und am Abend war das Theater so überfüllt, daß manche im Gedränge ohnmächtig wurden. Am dritten Abend aber kamen Leute sogar von Aderno und Paterno, um die geliebte Tragödie zu sehen. Don Antonio sah voraus, daß er sie bei erhöhten Preisen und zwei Vorstellungen am Abend einen ganzen Monat lang würde spielen können.
Wie glücklich waren sie doch, er und Donna Emilia, und mit welcher Freude und Dankbarkeit legten sie ihre fünfundzwanzig Lire in die Sammelbüchse des kleinen Christusbildes.
In Diamante weckte dieses Ereignis großes Erstaunen und viele Leute gingen zu Donna Elisa, um sie zu fragen, ob sie glaube, es sei der Wunsch des Heiligen, daß man Donna Micaela beistehe.
»Habt Ihr gehört, Donna Elisa«, sagte man, »daß das Christuskind in San Pasquale Don Antonio Greco geholfen haben soll, weil er ihm die Einnahme eines ganzen Abends für Donna Micaelas Eisenbahn versprochen hatte?«
Aber wenn man Donna Elisa danach fragte, preßte sie die Lippen zusammen und sah aus, als denke sie an nichts anderes als an ihre Stickerei.
Eines Tages kam Fra Felice selbst zu ihr und erzählte ihr von den beiden Wundern, die das Bild schon vollbracht hatte.
»Signorina Tottenham muß doch recht dumm gewesen sein, daß sie das Bild weggab, wenn es ein solcher Wundertäter ist«, sagte Donna Elisa.
Und wie Donna Elisa dachten die anderen Leute auch. Signorina Tottenham habe ja das Bild so viele Jahre gehabt und nichts bemerkt. Es konnte also keine Wunder tun. Dies war wohl nur ein Zufall.
Es war ein Unglück, daß Donna Elisa nicht daran glauben wollte. Sie war die einzige aus dem Hause der alten Alagonas, die sich noch in Diamante befand, und die Bewohner richteten sich mehr nach ihr, als ihnen selbst bewußt war. Wenn Donna Elisa an das Christuskind geglaubt hätte, würde die ganze Stadt Donna Micaela geholfen haben.
Aber der Fehler war gerade der, daß Donna Elisa nicht glauben konnte, daß Gott und die Heiligen ihrer Schwägerin beistehen würden.
Seit dem Fest des heiligen Sebastian hatte sie Donna Micaela scharf beobachtet. Sobald jemand von Gaetano sprach, erbleichte diese und sah ganz verstört aus. Ihr Gesicht nahm dann den Ausdruck eines Sünders an, der von Gewissensqualen gefoltert wird.
Donna Elisa hing eines Morgens eben wieder diesen Gedanken nach und war so darin vertieft, daß sie die Nadel ruhen ließ. »Donna Micaela ist keine Ätnabewohnerin«, sagte sie zu sich selbst. »Sie hält es mit der Regierung und ist froh, daß Gaetano im Gefängnis sitzt.«
In diesem Augenblick wurde draußen auf der Straße eine große Bahre vorbeigetragen. Auf der Bahre lag eine Menge kirchlichen Zierats: Kronleuchter, Altarschreine und Reliquien. Donna Elisa schaute nur einen Augenblick hinaus und versank dann wieder in ihre Gedanken.
»Beim Fest San Sebastiani wollte sie das Haus der Alagonas nicht schmücken lassen«, dachte sie weiter. »Sie wollte wohl nicht, daß der Heilige Gaetano helfe.«
Nun zogen zwei Männer einen rasselnden Karren vorüber, worauf ein ganzer Berg roter Wandverkleidungen, reicher gestickter Antipendien und Altarbilder mit breiten vergoldeten Rahmen lag.
Donna Elisa fuhr sich mit der Hand über die Stirn, als wolle sie alle Zweifel verscheuchen. Es konnte kein wirkliches Wunder geschehen sein. Die Heiligen mußten doch wissen, daß Diamante nicht reich genug war, um eine Eisenbahn zu bauen.
Jetzt kamen Leute mit einem gelben Arbeitskarren daher, der ganz vollbepackt war mit Notenständern, Meßbüchern, Gebetsschemeln und Beichtstühlen.
Donna Elisa fuhr auf. Sie sah zwischen ihren Rosenkränzen, die in Girlanden über die Fensterscheiben hingen, hinaus. Dies war schon die dritte Ladung Kirchensachen, die man vorüberfuhr. Wurde denn in Diamante geplündert? Waren die Sarazenen in die Stadt eingedrungen?
Sie stellte sich unter die Tür, um besser sehen zu können. Wieder kam eine Bahre daher, worauf Trauerkränze aus Blech und Platten mit langen Inschriften und Wappenschildern lagen, wie man sie in den Kirchen zum Andenken an die Verstorbenen aufhängt.
Donna Elisa erkundigte sich bei den Trägern und erfuhr nun, was da vor sich ging. Man war dabei, die Kirche Santa Lucia in Gesù auszuräumen. Der Sindaco und der Stadtrat hatten befohlen, sie in ein Theater zu verwandeln. Nach dem Aufruhr hatte man in Diamante einen neuen Sindaco bekommen, einen jungen Mann aus Rom. Er kannte die Stadt nicht, wollte aber etwas für sie tun. Nun hatte er im Stadtrat den Vorschlag gemacht, in Diamante auch ein Theater einzurichten wie in Taormina und an anderen Orten. Man solle ganz einfach eine der Kirchen in ein Theater umwandeln. Man habe doch wohl mehr als genug an fünf Stadtkirchen und sieben Klosterkirchen und könne eine davon gut entbehren. Da sei zum Beispiel die Jesuitenkirche Santa Lucia in Gesù. Das Kloster, das sie umgebe, sei schon zu einer Kaserne verwendet worden, und die Kirche sei so gut wie verlassen. Aus ihr könnte ein vortreffliches Theater gemacht werden. So hatte der neue Sindaco gesprochen, und der Stadtrat hatte sich damit einverstanden erklärt. Als Donna Elisa erfahren hatte, was vor sich ging, warf sie ihren Schleier und ihre Mantille um und eilte mit derselben Hast in die Luciakirche, wie man in ein Haus eilt, wo ein Liebes im Sterben liegt.
»Was wird aus den Blinden werden?« dachte Donna Elisa. »Wie sollen sie ohne Santa Lucia in Gesù leben können?« Als Donna Elisa den kleinen stillen Platz erreichte, der ringsum von den langen, häßlichen Gebäuden des Jesuitenklosters umgeben ist, sah sie auf der breiten, steinernen Treppe, die die ganze Kirchenfront entlangläuft, eine Reihe schmutziger Kinder und zottiger Hunde liegen. Es waren lauter Blindenführer, und sie weinten und bellten aus Leibeskräften.
»Was ist denn mit euch los?« fragte Donna Elisa.
»Sie wollen uns unsere Kirche nehmen«, jammerten die Kinder. Und alle Hunde heulten noch kläglicher als vorher, denn diese Hunde der Blinden sind fast wie Menschen.
An der Kirchentür traf Donna Elisa mit Don Pamphilios Frau, Donna Concetta, zusammen.
»Ach, Donna Elisa«, sagte diese, »in Eurem ganzen Leben habt Ihr nichts so Schreckliches gesehen. Geht lieber nicht hinein!«
Aber Donna Elisa ging doch hinein.
In der Kirche sah sie zuerst nichts als weiße Staubwolken. Aber durch diese hindurch dröhnten Hammerschläge, denn einige Arbeiter waren eben dabei, einen großen steinernen Ritter loszubrechen, der drüben in einer Fensternische lag. »Lieber Gott!« sagte Donna Elisa und faltete die Hände. »Sie reißen Don Arrigo heraus.« Unwillkürlich dachte sie daran, wie sicher dieser bis jetzt in seiner Nische gelegen hatte. Sooft sie ihn gesehen hatte, war der Wunsch in ihr aufgestiegen, auch so vor aller Unruhe und Veränderung bewahrt zu sein wie der alte Don Arrigo.
In der Luciakirche war außerdem noch ein anderes großes Grabmal. Es stellte einen alten Jesuiten dar, der auf einem schwarzen Marmorsarkophag liegt, die Geißel in der Hand und die Kapuze tief über die Stirn hereingezogen. Man nannte ihn Pater Succi und pflegte die Kinder von Diamante mit ihm zu schrecken.
»Ob sie es wohl auch wagen, Pater Succi anzurühren?« dachte Donna Elisa. Sie tastete sich durch den Kalkstaub bis zum Chor, wo der Sarkophag stand, um zu sehen, ob man gewagt hatte, den alten Jesuiten fortzuschaffen.
Aber Pater Succi lag noch ruhig auf seinem steinernen Lager. Ebenso finster und hart, wie er im Leben gewesen war, lag er da, man hätte beinahe glauben können, er lebe noch. Wäre ein Arzt dagewesen, und hätte ein Tisch mit Arzneiflaschen und brennenden Lichtern neben dem Lager gestanden, hätte man sich einbilden können, Pater Succi liege da krank im Chor seiner Kirche und warte auf sein letztes Stündlein.
Die Blinden saßen ringsum wie Verwandte, die sich um einen Sterbenden versammeln, und wiegten sich in stillem Gram hin und her. Da waren die beiden Frauen vom Hotelhof, Donna Pepa und Donna Tura, da war auch die alte Mutter Saraedda, die das Gnadenbrot bei Sindaco Voltaro aß, da waren blinde Bettler, blinde Sänger, Blinde jeden Alters und jeden Standes. Alle Blinden von Diamante waren da, und es gibt in Diamante unglaublich viele Menschen, die das Licht der Sonne nicht mehr sehen. Alle saßen meist still da, aber bisweilen brach einer in ein Jammergeheul aus. Ab und zu tastete sich auch einer bis zu dem Mönch Pater Succi hin und warf sich laut weinend über ihn. Und der Eindruck, daß hier ein Sterbender liege, verstärkte sich noch mehr, weil der Pfarrer und Pater Rossi vom Franziskanerkloster umhergingen und die Betrübten zu trösten suchten.
Donna Elisa wurde sehr gerührt. Ach, wie oft hatte sie diese Menschen vergnügt auf dem Klosterhof gesehen, und jetzt mußte sie sie in einem solchen Elend wiederfinden! Die hellen Tränen waren ihr herabgerollt, als sie damals für ihren Mann, den Signor Antonelli, und für ihren Bruder, Don Ferrante, Trauerlieder angestimmt hatten. Es war ihr schrecklich, sie in solcher Not zu sehen.
Die alte Mutter Saraedda wandte sich an Donna Elisa.
»Ich wußte von gar nichts, als ich kam, Donna Elisa«, sagte die Alte. »Ich ließ meinen Hund draußen auf den Stufen und ging durch die Kirchentür herein. Ich hob den Arm, um den Türvorhang aufzuheben, aber es war kein Vorhang mehr da. Ich hob den Fuß, wie wenn eine Stufe nach der Schwelle käme, aber es war keine Stufe da. Ich streckte die Hand aus, um sie ins Weihwasser zu tauchen, ich beugte die Knie, als ich am Hochaltar vorüberging, und ich wartete auf das Glöckchen, das man zu läuten pflegte, wenn Pater Rossi zur Messe kam. Donna Elisa, es war kein Weihwasser da, kein Altar, kein Glockenklang, nichts – nichts.«
»Ihr Armen, ihr Armen«, sagte Donna Elisa.
»Da höre ich, daß es droben an einem Fenster poltert und hämmert. ›Was macht ihr denn mit Don Arrigo?‹ rufe ich, denn ich höre sogleich, daß das Geräusch von Don Arrigos Fenster herkommt.
›Wir müssen ihn fortschaffen‹, antwortet man mir.
Aber in diesem Augenblick kommt der Herr Pfarrer, Don Matteo, zu mir her. Er nimmt mich bei der Hand und erklärt mir alles. Und ich werde fast böse über den Herrn Pfarrer, als er sagt, daß das alles um eines Theaters willen geschehe. Man baut unsere Kirche zu einem Theater um!
›Wo ist Pater Succi?‹ ist alles, was ich erwidere. ›Ist Pater Succi noch da?‹ Und er führt mich zu Pater Succi hin. Er muß mich führen, denn ich kann mich nicht mehr zurechtfinden. Nachdem man alle Stühle und Betschemel und Teppiche und Altarstufen weggenommen hat, finde ich meinen Weg nicht mehr. Früher fand ich mich hier so gut zurecht wie Ihr.«
»Der Herr Pfarrer wird Euch eine andere Kirche verschaffen«, sagte Donna Elisa.
»Donna Elisa«, erwiderte die Alte, »was sagt Ihr da. Sagt lieber gleich, der Herr Pfarrer werde uns unser Augenlicht wiedergeben. Kann Don Matteo uns eine Kirche geben, in der wir so sehen, wie wir in dieser gesehen haben? Keiner von uns brauchte einen Führer mit hereinzunehmen. Dort drüben, Donna Elisa, dort stand ein Altar, die Blumen darauf waren so rot wie der Ätna beim Sonnenuntergang, und das sahen wir. Wir zählten sechzehn Wachslichter über dem Hochaltar am Sonntag und dreißig an den Festtagen. Wir konnten es sehen, wenn Pater Rossi da drinnen die Messe las. Was sollen wir in einer anderen Kirche anfangen, Donna Elisa? Da sehen wir gar nichts. Man hat uns noch einmal das Augenlicht geraubt.«
Donna Elisas Herz brannte, als ob glühende Lava darüber hinflösse. Sicherlich hatte man den Blinden großes Unrecht getan.
Dann ging Donna Elisa zu Don Matteo hin.
»Hochwürden«, sagte sie, »habt Ihr mit dem Sindaco gesprochen?«
»Ach, ach, Donna Elisa«, sagte Don Matteo, »macht doch Ihr einen Versuch, vielleicht würde es etwas nützen.«
»Hochwürden, der Sindaco ist ein Fremder, er hat vielleicht nie von den Blinden gehört.«
»Signor Voltaro ist bei ihm gewesen, Pater Rossi ist bei ihm gewesen, und auch ich, auch ich. Er sagt nur immer, er könne die Beschlüsse des Stadtrats nicht ändern. Ihr wißt doch, Donna Elisa, daß der Stadtrat nichts zurücknehmen kann. Wenn er bestimmt, daß Eure Katze in der Domkirche die Messe lesen soll, kann nichts mehr daran geändert werden.« Plötzlich entstand eine Bewegung in der Kirche. Ein großer blinder Mann war hereingekommen. »Vater Elia«, flüsterte man, »Vater Elia«!
Vater Elia war der Altmeister der Zunft der blinden Sänger, die sich hier zu versammeln pflegte. Er hatte langes, weißes Haar, einen ebensolchen Bart, und er war schön wie einer der heiligen Patriarchen.
Wie alle anderen ging auch er zu Pater Succi hin. Er ließ sich neben ihm nieder und lehnte die Stirn an den Sarg.
Donna Elisa trat zu Vater Elia und drückte ihm die Hand. »Vater Elia«, sagte sie, »Ihr solltet zum Sindaco gehen.«
Der Greis erkannte Donna Elisas Stimme und antwortete mit dem rauhen Tonfall eines alten Mannes.
»Ihr meint also, ich hätte so lange gewartet, bis Ihr mir das sagen würdet? Meint Ihr denn, es sei nicht mein erster Gedanke gewesen, zum Sindaco zu gehen?«
Er sprach hart und deutlich, so daß die Arbeiter mit dem Hämmern innehielten und lauschten, denn sie glaubten, es habe jemand zu predigen angefangen.
»Ich habe ihm gesagt, daß wir blinden Sänger eine Zunft bilden, daß die Jesuiten uns ihre Kirche schon vor dreihundert Jahren geöffnet haben und uns das Recht gaben, uns hier zu versammeln, wenn wir neue Mitglieder wählen und neue Lieder einlernen.
Und ich sagte ihm auch, daß unsere Zunft dreißig Mitglieder zählt, daß die heilige Lucia unsere Schutzpatronin ist und daß wir nie auf der Straße singen, sondern nur in den Höfen, und überdies nur Legenden und Trauerlieder, aber niemals ein leichtfertiges Lied, und daß der Jesuit Pater Succi uns die Kirche geöffnet hat, weil die Blinden die Sänger Unseres Herrn sind.
Ich sagte ihm, daß einige von uns Rezitatoren sind, die die alten Lieder vortragen, andere aber Trovatores, die neue dichten. Ich sagte ihm, daß wir viele Menschen auf der edlen Insel damit erfreuen. Ich fragte ihn, warum er uns nicht leben lassen wolle? Denn der Heimatlose kann nicht leben. Ich sagte ihm, daß wir von Stadt zu Stadt auf dem großen Ätna umherwandern, aber die Luciakirche in Diamante sei unsere Heimat, und da werde jeden Morgen eine Messe für uns gelesen. Warum er uns also den Trost des Wortes Gottes verweigern wolle?
Ich sagte ihm, daß die Jesuiten einstmals ihre Gesinnung uns gegenüber geändert hatten und uns aus ihrer Kirche vertreiben wollten, daß ihnen dies aber nicht gelungen ist, sondern daß wir vom Vizekönig einen Brief bekamen, nach dem wir ›für ewige Zeiten‹ unsere Versammlungen in Santa Lucia in Gesù abhalten dürfen. Und ich zeigte ihm den Brief.«
»Was antwortete er darauf?«
»Er lachte mich aus.«
»Kann keiner der anderen Herrn euch helfen?«
»Ich bin bei allen gewesen, Donna Elisa. Den ganzen Vormittag hat man mich von Pontius zu Pilatus geschickt.«
»Vater Elia«, sagte Donna Elisa mit gedämpfter Stimme, »habt Ihr vergessen, die Heiligen anzurufen?«
»Ich habe die schwarze Madonna, San Sebastiano und Santa Lucia angerufen. Ich habe alle angerufen, die ich dem Namen nach kannte.«
»Glaubt Ihr, Vater Elia«, sagte Donna Elisa, mit noch leiserer Stimme, »daß Don Antonio Greco geholfen wurde, weil er Donna Micaelas Eisenbahn einen Beitrag gelobt hatte?«
»Ich kann kein Geld geben«, sagte der Alte trostlos.
»Ihr müßtet doch daran denken, Vater Elia«, sagte Donna Elisa, »weil Ihr jetzt in so großer Not seid. Versucht es, und versprecht dem Christusbilde, daß Ihr und alle, die zu Eurer Zunft gehören, für die Eisenbahn reden und singen werdet, wenn Ihr Eure Kirche behalten dürft, und auch die Menschen überreden werdet, Beiträge dazu zu geben. Wir wissen nicht, ob es helfen wird, aber man muß alles versuchen, Vater Elia. Es kostet ja nichts, es zu geloben.«
»Ich will um Euretwillen tun, was Ihr verlangt«, sagte der Alte.
Er lehnte wieder sein blindes Haupt an den schwarzen Sarg, und Donna Elisa fühlte, daß er das Versprechen nur gegeben hatte, um ungestört seinem Leid nachhängen zu können.
»Soll ich Euer Gelübde dem Christusbild überbringen?« fragte sie.
»Tut, was Ihr wollt, Donna Elisa«, sagte der Greis.
*
Am selben Tag war Fra Felice um fünf Uhr morgens aufgestanden und hatte gleich seine Kirche zu reinigen angefangen. Er fühlte sich vollständig frisch und kräftig, aber mitten in seiner Arbeit war es ihm plötzlich, als wolle ihm San Pasquale mit dem Steinsack, der da draußen vor der Kirche stand, etwas sagen. Er ging also zu ihm hinaus, aber es war nichts. San Pasquale stand da wie immer. In diesem Augenblick glitt die Sonne hinter dem Gipfel des Ätna hervor und spannte ihre glänzenden Strahlen bis zur Erde herab wie Harfensaiten.
Als die Sonnenstrahlen San Felices altes Kirchlein erreicht hatten, färbten sie es rosenrot, ebenso die altertümlichen Pfeiler, die den Baldachin über der Bildsäule trugen, und auch San Pasquale mit seinem Steinsack und Fra Felice selbst.
»Wir sehen aus wie junge Burschen«, dachte der Alte, »wir haben noch eine lange Reihe von Jahren vor uns.«
Als er aber wieder in die Kirche hineingehen wollte, fühlte er eine heftige Beklemmung am Herzen, und es kam ihm der Gedanke, San Pasquale habe ihn wohl gerufen, um ihm Lebewohl zu sagen. Gleichzeitig wurden ihm die Füße so schwer, daß er sie kaum von der Stelle bewegen konnte. Er fühlte keine Schmerzen, aber eine Müdigkeit, die nichts anderes als den Tod bedeuten konnte. Er vermochte gerade noch den Besen hinter die Sakristeitüre zu stellen, dann schleppte er sich bis zum Chor, legte sich auf die Erhöhung vor dem Hochaltar und hüllte sich in seine Kutte. Es war ihm, als habe das Christusbild ihm zugenickt und gesagt: »Jetzt brauch ich dich, Fra Felice.« Und er nickte wieder und sagte: »Ich bin bereit, ich bleibe dir treu.«
Er konnte nichts weiter tun als warten, und dies schien ihm sehr schön. Noch nie in seinem Leben hatte er Zeit gehabt, dem Gefühl der Müdigkeit nachzugeben. Nun endlich durfte er ausruhen. Das Bild würde die Kirche und das Kloster nun wohl auch ohne ihn in Ansehen erhalten.
Er lächelte darüber, daß der alte Pasquale ihn hinausgerufen hatte, um ihm buon giorno zu sagen.
Fra Felice lag ganz ruhig bis weit in den Tag hinein, meistens schlummerte er. Es war niemand bei ihm, und allmählich überkam ihn das Gefühl, daß es eigentlich doch nicht angehe, nur so aus dem Leben zu verschwinden. Es war ihm, als betrüge er jemanden um etwas. Das weckte ihn wieder auf. Er hätte wohl auch einen Priester bei sich haben sollen; aber es war ja niemand da, der ihm einen hätte holen können.
Während er so dalag, war es ihm, als schrumpfe er immer mehr zusammen. Sooft er erwachte, kam er sich wieder kleiner geworden vor. Es war gerade, als solle er ganz dahinschwinden. Nun wäre gewiß seine Kutte viermal um ihn herumgegangen.
Er wäre wohl auch ganz allein gestorben, wenn nicht Donna Elisa gekommen wäre, um das kleine Bild für die Blinden um Hilfe anzuflehen. Es war ihr ganz sonderbar zumute, als sie ankam, denn sie hätte ja wohl gerne Hilfe für die Blinden gehabt, aber sie wünschte doch nicht, daß Donna Micaelas Sache gefördert werde.
Als sie in die Kirche trat, sah sie Fra Felice auf den Altarstufen liegen; sie ging zu ihm hin und kniete neben ihm nieder.
Fra Felice richtete seine Augen auf sie, und ein Lächeln zog über sein Gesicht. »Ich muß sterben«, sagte er heiser; aber dann verbesserte er sich und sagte: »Ich darf sterben.« Donna Elisa fragte, was ihm fehle, und sagte, sie werde gleich Hilfe herbeiholen.
»Setzt Euch zu mir«, sagte er und machte einen schwachen Versuch mit seinem Ärmelzipfel den Staub von den Stufen abzuwischen.
Donna Elisa sagte, sie wolle Priester und barmherzige Schwestern holen.
Er aber griff nach ihrem Kleid und hielt sie fest.
»Ich will zuerst mit Euch sprechen, Donna Elisa.«
Das Sprechen fiel ihm schwer, und er mußte nach jedem Wort tief Atem holen. Donna Elisa setzte sich neben ihn und wartete.
Ein Weilchen lag er keuchend da, dann röteten sich seine Wangen ein wenig, seine Augen begannen zu glänzen, und er sprach nun leicht und schnell.
»Donna Elisa«, sagte Fra Felice, »ich habe ein Erbe zu vergeben. Das hat mir schon den ganzen Tag über Sorge gemacht, denn ich weiß nicht, wem ich es geben soll.«
»Fra Felice«, sagte Donna Elisa, »macht Euch darüber keine Sorgen. Es gibt niemanden, der nicht eine gute Gabe brauchen könnte.«
Da aber Fra Felice jetzt wieder etwas besser bei Kräften war, wollte er, ehe er über das Erbe entschied, Donna Elisa erzählen, wie gut Gott gegen ihn gewesen sei.
»Hat nicht Gott mir eine sehr große Gnade erwiesen, als er mich zu seinem Polacco gemacht hat?« sagte er.
»Ja, das ist eine große Gnade«, bestätigte Donna Elisa.
»Wenn man auch nur ein kleiner Polacco ist, so ist das schon eine große Gabe«, sagte Fra Felice, »und besonders nützlich ist sie mir gewesen, seit das Kloster aufgehoben worden ist und die Brüder fortgezogen oder gestorben sind. Ich habe immer den Sack voll Brot gehabt, ehe ich die Hand ausstreckte, um zu betteln. Ich habe immer freundliche Gesichter gesehen und bin mit tiefer Verbeugung begrüßt worden. Ich kenne keine größere Gabe für einen armen Mönch, Donna Elisa.«
Donna Elisa dachte daran, wie geehrt und geliebt Fra Felice gewesen war, weil er die Nummern hatte voraussagen können, die in der Lotterie gezogen wurden. Und sie konnte nicht anders, als ihm recht geben.
»Wenn ich in der Sonnenhitze auf der Landstraße wanderte, kam der Hirte zu mir her und begleitete mich große Strecken weit. Er hielt seinen Schirm über mich zum Schutz gegen die Sonne. Und wenn ich zu den Arbeitern in den kühlen Steinbrüchen kam, teilten sie ihr Brot und ihre Bohnensuppe mit mir. Ich habe mich nie vor Räubern und Karabinieri zu fürchten brauchen. Der Zolleinnehmer am Stadttor war eingenickt, wenn ich mit meinem Beutel vorüberkam. Das ist eine gute Gabe gewesen, Donna Elisa.«
»Das ist wahr, das ist wahr«, bestätigte Donna Elisa.
»Es ist kein schweres Amt gewesen«, sagte Fra Felice. »Die Leute redeten mich an, und ich antwortete ihnen, das war alles. Sie wußten, daß jedes Wort seine Nummer hat, und sie hielten sich an das, was ich sagte, und spielten danach. Ich wußte nicht, wie es zuging, Donna Elisa, es war eine Gabe Gottes.«
»Die armen Leute werden Euch sehr vermissen, Fra Felice«, sagte Donna Elisa.
Fra Felice kicherte ein wenig. »Am Sonntag und Montag, wenn eben erst Ziehung gewesen war, kümmerten sie sich nicht um mich. Aber am Donnerstag, am Freitag und am Samstagmorgen, da kamen sie – denn an jedem Samstag ist ja Ziehung.«
Donna Elisa wurde allmählich unruhig, weil der Sterbende an nichts anderes dachte. Plötzlich tauchte vor ihrer Seele dieser und jener auf, der in der Lotterie verloren hatte. Sie erinnerte sich auch mancher, die ihren ganzen Wohlstand dabei verspielt hatten, und sie wollte Fra Felices Gedanken von dem sündhaften Lotteriewesen ablenken.
»Ihr sagtet vorhin, Ihr wollt von Eurem Testament sprechen, Fra Felice.«
»Ach freilich, aber gerade weil ich so viele Freunde habe, weiß ich nicht, wem ich mein Erbe geben soll. Soll ich es denen hinterlassen, die süße Kuchen für mich gebacken haben, die mir in frischem Öl gebratene Artischocken gegeben haben? Oder soll ich es den barmherzigen Schwestern schenken, die mich pflegten, als ich krank lag?«
»Habt Ihr viel zu vergeben, Fra Felice?«
»Genügend, Donna Elisa, genügend!«
Fra Felice schien wieder schwächer zu werden. Er lag still und atmete schwer. »Ich habe auch daran gedacht, es den armen Wandermönchen zu geben, die ihre Klöster verloren haben«, flüsterte er.
Und nach einiger Überlegung fügte er hinzu. »Ich hätte es auch gerne dem guten alten Mann in Rom gegeben. Ihr wißt, dem, der über uns alle wacht.«
»Seid Ihr denn so reich, Fra Felice?« fragte Donna Elisa.
»Genügend, genügend, Donna Elisa.« Er schloß die Augen und ruhte eine Weile, dann sagte er:
»Ich will es allen Menschen miteinander geben, Donna Elisa.«
Dieser Gedanke gab ihm neue Kraft; wieder zeigte sich eine schwache Röte auf seinen Wangen, und er richtete sich auf den Ellenbogen auf.
»Seht her, Donna Elisa«, sagte er, indem er die Hand in die Kutte steckte und ein versiegeltes Kuvert herauszog, das er ihr reichte. »Dies sollt Ihr dem Sindaco geben, dem Sindaco von Diamante.
Das Kuvert, Donna Elisa«, sagte Fra Felice, »enthält die fünf Nummern, die am nächsten Samstag gewinnen werden. Sie sind mir geoffenbart worden, und ich habe sie aufgeschrieben. Der Sindaco soll diese fünf Nummern an der römischen Pforte, wo alles Wichtige kundgetan wird, anschlagen lassen. Und er soll die Leute wissen lassen, daß dies mein Testament ist. Fünf Gewinnummern, eine ganze Fünferkombination, Donna Elisa.«
Donna Elisa nahm das Kuvert und versprach, es dem Sindaco zu übergeben. Sie konnte nichts anderes tun, denn der arme Fra Felice hatte nicht mehr viele Augenblicke zu leben.
»Wenn dann der Samstag kommt, werden viele an Fra Felice denken«, sagte der Mönch. »Viele werden fragen: ›Hat der alte Fra Felice uns nicht am Ende betrogen? Ist es möglich, daß wir fünf Richtige haben?‹
Am Samstagabend ist Ziehung auf dem Rathausbalkon in Catania, Donna Elisa. Man trägt das Lotterierad und den Tisch heraus, die Lotterieherren stellen sich ein und auch das hübsche kleine Waisenkind. Und eine Nummer nach der anderen wird in das Glücksrad gelegt, bis alle darin sind, alle neunzig.
Und alles Volk steht drunten auf der Straße und zittert vor Aufregung wie das Meer vor dem Sturmwind.
Alle Bewohner von Diamante werden da sein; sie werden alle ganz blaß aussehen, und der eine wagt dem anderen kaum ins Gesicht zu sehen. Vorher hatten sie geglaubt, jetzt nicht mehr. Jetzt denken sie, der alte Fra Felice habe sie betrogen. Niemand wagt die geringste Hoffnung zu hegen.
Die erste meiner Nummern wird gezogen. Ach, Donna Elisa, sie werden alle so bestürzt sein, daß sie kaum jubeln können. Denn alle haben erwartet, daß sie enttäuscht sein würden. Die zweite Nummer wird gezogen – und nun wird es totenstill ringsum. Dann kommt die dritte heraus. Die Lotterieherren werden sich wundern, daß alles so still ist. ›Heute gewinnen die Leute nichts‹, werden sie sagen. ›Heute macht der Staat einen großen Profit.‹ Dann kommt die vierte Nummer. Das Waisenkind nimmt sie aus dem Rad, der Ausrufer rollt sie auf und hebt die Nummer empor. Unter dem Volk drunten ist es fast unheimlich still, man vermag kaum ein Wort zu sagen bei so viel Glück. Nun kommt die letzte Nummer. Donna Elisa, man schreit, man ruft, man fällt sich in die Arme, man schluchzt. Man ist reich. Ganz Diamante ist reich ...«
Donna Elisa hat ihren Arm unter Fra Felices Kopf geschoben und ihn gestützt, während er alles dies keuchend hervorstößt. Nun sinkt sein Kopf plötzlich schwer zurück.
*
Während Donna Elisa draußen bei dem alten Fra Felice war, hatten viele Leute von Diamante versucht, sich der Blinden anzunehmen. Nicht gerade die Männer, die meisten waren bei ihrer Arbeit draußen, aber die Frauen. Sie kamen in großen Scharen zur Luciakirche, um den Blinden Trost zuzusprechen. Als schließlich etwa vierhundert Frauen da versammelt waren, kam ihnen der Gedanke, zum Sindaco zu gehen und selbst mit ihm zu sprechen. So waren sie zum Marktplatz gezogen und hatten den Sindaco herausgerufen. Er war auf den Rathausbalkon getreten, und sie hatten für die Blinden gebeten. Der Sindaco war ein freundlicher und schöner Mann. Er hatte ihnen wohlwollend geantwortet, aber nicht nachgegeben. Er könne nicht widerrufen, was im Stadtrat beschlossen worden sei, sagte er.
Aber die Frauen hatten beschlossen, daß der Beschluß zurückgenommen werden solle, und so blieben sie auf dem Marktplatz stehen. Der Sindaco ging wieder ins Rathaus hinein, sie aber blieben da und baten und riefen, sie würden nicht fortgehen, bis er nachgegeben habe. Während dies vor sich ging, kam Donna Elisa herbei, um Fra Felices Testament dem Sindaco zu übergeben. Sie war tief betrübt über soviel Elend. Gleichzeitig aber empfand sie eine Art bitterer Befriedigung darüber, daß sie bei dem Christuskind keine Hilfe gefunden hatte. Sie hatte ja immer geglaubt, daß der Heilige Donna Micaela nicht helfen werde.
Das war ein nettes Geschenk, das sie da draußen in San Pasquales Kirche erhalten hatte. Es würde nicht allein den Blinden nichts helfen, sondern es war auch noch geeignet, die ganze Stadt ins Verderben zu stürzen. Nun würde das wenige, was die Leute noch besaßen, in die Lotterie wandern. Es würde ein allgemeines Borgen und Verpfänden geben.
Der Sindaco empfing Donna Elisa sogleich und war ebenso ruhig und höflich wie immer, obgleich die Frauen auf dem Markt schrien, die Blinden im Wartezimmer jammerten und die Leute den ganzen Tag bei ihm aus und ein gegangen waren.
»Womit kann ich Euch dienen, Signora Antonelli?« fragte er, und Donna Elisa sah sich erst um, weil sie nicht wußte, wen er so anredete. Dann erzählte sie ihm von dem Testament.
Der Sindaco geriet weder in Angst, noch war er überrascht.
»Das ist ja sehr interessant«, sagte er und streckte die Hand nach dem Papier aus.
Aber Donna Elisa hielt das Kuvert fest und fragte:
»Signor Sindaco, was wollt Ihr damit machen? Wollt Ihr es wirklich an der römischen Pforte anschlagen lassen?«
»Ja, was kann ich sonst tun, Signora? Es ist der letzte Wille eines Toten.«
Donna Elisa hätte gerne gesagt, was es für ein gefährliches Testament sei, aber sie besann sich und beschloß, für die Blinden zu sprechen.
»Pater Succi, der bestimmt hat, daß die Blinden in seiner Kirche für alle Zeiten bleiben dürften, ist auch ein Toter«, fiel sie ihm ins Wort.
»Signora Antonelli, fangt Ihr nun auch davon an?« sagte der Sindaco ganz freundlich. »Es war ja allerdings ein Mißgriff, aber warum hatte mir niemand gesagt, daß die Luciakirche den Blinden gehört? Nun, nachdem es einmal bestimmt ist, kann ich es nicht wieder rückgängig machen, ich kann nicht.«
»Aber ihre Rechte und ihr Brief, Signor Sindaco?«
»Ihre Rechte gelten nichts. Sie galten für das Jesuitenkloster, aber es gibt ja gar kein Jesuitenkloster mehr. Und sagt mir, Signora Antonelli, was würde aus mir werden, wenn ich nachgäbe?«
»Man würde Euch als einen guten Mann lieben.«
»Nein, Signora, man würde mich für einen schwachen Mann halten, und ich würde jeden Tag vierhundert Arbeiterfrauen draußen vor dem Rathaus haben, die um irgend etwas betteln würden. Es handelt sich ja nur darum, das hier einen einzigen Tag auszuhalten, morgen ist es vergessen.«
»Morgen«, sagte Donna Elisa, »niemals werden wir es vergessen.«
Der Sindaco lächelte, und Donna Elisa sah, daß er sich einbildete, er kenne die Leute in Diamante besser als sie. »Ihr glaubt also, daß es ihnen sehr am Herzen liegt?« fragte er.
»Ja, das glaube ich, Signor Sindaco.«
Da lachte der Sindaco ein wenig. »Gebt mir das Kuvert, Signora.«
Er nahm es und trat damit auf den Balkon.
»Ich muß euch etwas sagen«, redete er die Frauen an.
Und er begann mit den Frauen zu reden.
»Hört«, sagte er, »ich habe soeben vernommen, daß der alte Fra Felice gestorben ist und euch allen miteinander ein Testament hinterlassen hat. Er hat fünf Nummern aufgeschrieben, die am nächsten Samstag bei der Lotterie herauskommen sollen, und diese Nummern schenkt er euch. Noch hat sie niemand gesehen. Hier ist das Kuvert, und es ist noch ungeöffnet.«
Er schwieg einen Augenblick, damit die Frauen Zeit hätten, sich klarzumachen, was er gesagt hatte.
Sogleich begannen sie zu reden: »Die Nummern, die Nummern!«
Der Sindaco gebot ihnen mit einer Handbewegung Schweigen.
»Ihr müßt bedenken, daß Fra Felice unmöglich wissen konnte, welche Nummern am nächsten Samstag gezogen werden. Wenn ihr diese Nummern spielt, werdet ihr alle verlieren. Und wir können uns wirklich nicht erlauben, noch ärmer zu werden, als wir hier in Diamante schon sind. Ich bitte euch daher, laßt mich das Testament vernichten, ohne daß es jemand gesehen hat.«
»Die Nummern! Die Nummern!« riefen die Frauen. »Sagt uns die Nummern!«
»Wenn ich das Testament vernichten darf«, sagte der Sindaco, »dann verspreche ich euch, daß die Blinden ihre Kirche wiederbekommen sollen.«
Es wurde still auf dem Marktplatz. Donna Elisa erhob sich drinnen im Rathaussaal von ihrem Stuhl und umklammerte mit beiden Händen die Armlehnen.
»Ich lasse euch die Wahl zwischen der Kirche und den Nummern!« sagte der Sindaco.
»Gott im Himmel!« seufzte Donna Elisa. »Ist er ein Teufel, daß er die armen Leute in dieser Weise in Versuchung führt?«
»Wir sind von jeher arm gewesen, wir können auch ferner arm bleiben!« rief eine der Frauen.
»Wir werden nicht Barabbas anstatt Jesus wählen!« rief eine andere.
Der Sindaco zog eine Streichholzschachtel aus der Tasche, strich ein Hölzchen an und führte es langsam an das Testament.
Die Frauen standen ruhig da und sahen zu, wie der Sindaco die fünf Gewinnummern verbrannte. Die Kirche war den Blinden gerettet.
»Es ist ein Wunder«, flüsterte die alte Donna Elisa, »sie glauben alle an Fra Felice und doch lassen sie seine Nummern verbrennen. Es ist ein Wunder.«
*
Später am Nachmittag saß Donna Elisa wieder an ihrem Stickrahmen. Sie sah alt aus, und wie sie so dasaß, machte sie einen gebrechlichen und hinfälligen Eindruck. Es war nicht die gewöhnliche Donna Elisa, sondern eine arme, gealterte, einsame Frau.
Langsam zog sie die Nadel durch ihren Stoff, und als sie sie wieder hineinstecken wollte, brachte sie es kaum zustande. Immer wieder traten ihr die Tränen in die Augen, und sie konnte es fast nicht verhindern, daß sie auf ihre Stickerei fielen und diese verdarben.
Donna Elisa hatte einen schweren Kummer. Heute hatte sie Gaetano für immer verloren. Jede Hoffnung auf seine Rückkehr war entschwunden.
Die Heiligen waren auf die Seite der Gegner übergegangen. Sie taten Wunder, um Donna Micaela zu helfen. Niemand konnte daran zweifeln, daß das heutige Ereignis ein Wunder war. Wenn sie nicht durch ein Wunder gebunden gewesen wären, hätten die armen Frauen von Diamante sicher nicht so ruhig zusehen können, wie Fra Felices Nummern verbrannten. Gerade dies verstimmte die arme Donna Elisa so sehr, daß die guten Heiligen Donna Micaela halfen, ihr, die Gaetano nicht leiden konnte.
Die Türklingel ertönte heftig, und Donna Elisa erhob sich aus alter Gewohnheit. Donna Micaela trat ein. Sie sah glücklich aus und ging Donna Elisa mit ausgestreckten Händen entgegen. Aber Donna Elisa wandte sich ab. Sie konnte ihr die Hand nicht drücken.
Donna Micaela war ganz entzückt. »Ach, Donna Elisa, du hast meiner Eisenbahn geholfen! Was soll ich dazu sagen? Wie soll ich dir danken?«
»Spare dir den Dank, Schwägerin.«
»Donna Elisa!«
»Wenn die Heiligen uns eine Eisenbahn geben wollen, so tun sie es, weil Diamante eine braucht, nicht weil sie dich lieben.«
Donna Micaela fuhr zurück. Nun endlich glaubte sie zu verstehen, warum Donna Elisa ihr zürnte.
»Wenn Gaetano daheim wäre ...«, sagte sie. Sie drückte die Hand aufs Herz und stöhnte. »Wenn Gaetano daheim wäre, würde er nicht dulden, daß du so grausam zu mir bist.«
»Gaetano, Gaetano würde nicht ...«
»Nein, er würde es nicht dulden. Obgleich du mir darum zürnst, daß ich ihn schon liebte, während mein Mann noch lebte, würdest du doch nicht wagen, es mir zum Vorwurf zu machen, wenn er daheim wäre.«
Donna Elisa zog die Augenbrauen ein wenig in die Höhe.
»Du meinst, er würde mich dazu bringen, über eine solche Sache zu schweigen?« sagte sie, und ihre Stimme klang ganz sonderbar.
»Aber Donna Elisa!« Donna Micaela trat dicht zu ihr hin. »Es ist ja unmöglich, ganz unmöglich, ihn nicht zu lieben«, flüsterte sie. »Er ist ja so schön. Und er zwingt mich, und ich fürchte ihn. Du mußt mich ihn lieben lassen.«
»Muß ich?« Donna Elisa schaute zu Boden und sprach ganz kurz und hart.
Donna Micaela geriet außer sich. »Mich liebt er!« rief sie. »Nicht Giannita, sondern mich! Und du solltest mich als deine Tochter betrachten, du solltest mir helfen, du solltest gut gegen mich sein! Statt dessen bist du grausam zu mir. Ja, du bist grausam zu mir. Ich darf nicht zu dir kommen, um mit dir über ihn zu reden. Ich darf dir nicht sagen, wie ich mich nach ihm sehne und wie ich für ihn arbeite!«
Nun konnte Donna Elisa es nicht länger mit anhören. Donna Micaela war ja ein richtiges Kind, jung und töricht und leicht zu schrecken wie ein Vögelchen. Ein Kind, das man in seine Obhut nehmen mußte. Sie mußte sie in die Arme schließen.
»Das wußte ich ja gar nicht, du armes, dummes Kind«, sagte sie.