Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XVI.

Ich kam nach Hause.

»Wir reisen nicht,« war mein erstes Wort, das ich sprach, kalt und gemessen, wie jemand, der keinen Widerspruch duldet.

Es wirkte wie ein Peitschenhieb auf meine Frau.

»Weshalb nicht?« fragte sie erschreckt.

»Ich will es nicht.«

»Wenn du es nicht willst, das ist 'was anderes. Du hast zu bestimmen.«

»Hoffentlich.«

»Und Hans?«

»Kommt zu meinem Vater.«

Sie zeigte noch mehr Schrecken. Ein dunkles Ahnen mußte sie erfüllen, »Weshalb denn dorthin?«

»Meine Sache.«

»Davon hast du ja noch gar nichts gesagt.«

»Es ist mir auch eben erst eingefallen.« Ich log nicht, während des Ganges nach Hause hatte ich wie in einem wilden Taumel gelebt, nicht wissend, was werden würde. Nun aber hatte ich an meinen Vater gedacht. Er sollte kommen. Er mit seiner Weisheit, mit seinem allgütigen Herzen, mit seiner Menschenkenntnis – er sollte mir raten, mir helfen.

»Dann kann ich also wieder auspacken.«

»Das kannst du.« Eigentlich wollte ich etwas anderes sagen, gleich deutlicher werden, aber ich empfand eine gewisse grausame Wonne, so weiter mit ihr zu spielen, bis ich sie endlich auf dem Punkt hatte, wo ich wollte. Einmal mußte sie doch aus sich herausgehen und ihre Ruhe verleugnen – diese kalte, überlegene Ruhe, die nicht innerlich war, sondern sich unter einer eisigen, trügerischen Decke verbarg.

Auch jetzt verkroch sie sich wieder in diese Umhüllung, aus der sie die Pfeile ihrer Gleichgültigkeit versandte.

Sophie schlich wieder umher und hatte sofort fragende Blicke auf ihre Herrin geworfen, die diese auch verständnisvoll auffing.

»Nein, nein, lassen Sie nur den großen Reisekorb so, mein Mann besinnt sich doch wieder. Es ist ja nur so eine Aufwallung.«

Sie tauschten einen Blick des Einverständnisses aus, den ich auffing. Sophie sagte kein Wort, aber aus ihren stummen Blicken las ich, was sie sagen wollte. »Ich verstehe dich, du kennst ihn ja besser, du weißt es ja, was mit ihm vorgegangen ist. Und ich weiß es auch.« Ein verstecktes Lächeln huschte über ihr schmales Gesicht. Und als sie uns verlassen wollte, wie eine verschmitzte Vertraute, die in ihren Gedanken fortwährend das Geheimnis des Hauses trägt, raffte ich mich auf und fuhr sich rücksichtslos an.

»Bleiben Sie noch!«

»Der Herr Doktor wünschen?« Ihr schwacher Busen machte den Versuch, sich empört zu heben. Ohne Zweifel war sie die Gekränkte, die mir andeuten wollte, daß sie ein derartiges »Anranzen« nicht gewohnt sei, und daß ihr dieser Ton zum mindesten neu erscheine. Ihre Äuglein glitten an mir vorüber, wie Hilfe erflehend auf meine Frau.

»Es gibt gar kein Besinnen für mich,« fuhr ich fort, »es wird nicht gereist. Wenn meine Frau mich nicht – verstehen will, haben Sie mich jedenfalls verstanden.«

»Schön, Herr Doktor.« Sie dehnte das »ö«, so daß es sich vierfach anhörte.

Sofort wurde meine Frau munter. »Sophie – der Reisekorb bleibt so.«

»Schön, Frau Doktor.« Die Worte folgten im gleichen Tonfall. Dann ging sie hinaus.

Ich glaubte, daß meine Frau nun aufbrausen würde, aber sie blieb ebenso gefaßt wie zuvor. »Du willst mich damit kränken, – ich weiß es, aber ich bin es ja in letzter Zeit von dir gewöhnt. Sophie wundert sich auch nicht mehr darüber. Sie wird sich wohl ihr Teil denken.«

»Das soll sie auch.«

Plötzlich mischte sich der Papagei in unsere Unterhaltung. Er hockte in seinem Messingbauer am Fenster und hatte inzwischen fleißig Purzelbäume geschossen, indem er von seiner Stange aus mit Krallen und Schnabel sich an die Decke des Gitters hing und so die Runde machte. Es war ein Kakadu mit schneeweißem Gefieder, den ich vor zwei Jahren zur Freude meines Jungen gekauft hatte. Mit der Zeit hatte sich das Tier so an uns gewöhnt, daß es keine Unarten mehr zeigte, völlig zahm im Zimmer herumflog und jedem Zuruf folgte.

Nun fing er an zu sprechen, machte erst fragend seinen Kopfnicker, äugelte mich an und stieß dann seine Litanei hervor: »Frau Doktor, wo ist Ihr Mann?«

»Der lebt noch, du Racker,« sagte ich lachend, bedeutungsvoll für meine Frau. Im Augenblick war mir eingefallen, daß er denselben Ruf hatte vernehmen lassen, als das Pärchen selbstvergessen sich seinen Gefühlen hingegeben hatte. »Es ist doch wenigstens dir nicht unangenehm?«

Irma blickte auf, als wenn sie etwas sagen wollte. Sie schwieg sich aber aus, während ich mich im stillen weiter mit dem Vogel beschäftigte, lauernd auf jedes Wort vom Fenster her.

Endlich sagte sie: »Ich weiß schon, wo hinaus du wieder willst. Du brauchst gar nicht mit dem Tier zu tun. Über das sind ja wieder deine Visionen, wie Doktor Schopp es nennt. Er hat mir ja alles gesagt – noch vor seiner Abreise. Auch daß du ihm alles zugegeben hast. Ich war schon beruhigt darüber, und nun fängst du wieder an. Oder willst du es vielleicht leugnen? Du hast es doch Schopp versichert.«

»Man kann sich doch wieder besonnen haben,« gab ich kalt zurück. »Manchmal wird ein Traum zur Wahrheit.«

»Es geht also richtig wieder los. Du treibst mich ja zum Hause hinaus.«

»Geh' doch, ich halte dich nicht. Deine Sachen sind ja schon gepackt.« Endlich hatte ich sie soweit, wo ihre Geduld erschöpft sein mußte.

Starr blickte sie mich an, sprachlos und völlig verblüfft. Sie glaubte, ich würde weitersprechen und ihr vielleicht mit näheren Gründen kommen. Aber ich tat ihr nicht den Gefallen und wartete ruhig ab. Das Schweigen dauerte Minuten, währenddessen ich mit dem Ellbogen gegen den Fensterrahmen gelehnt stand und auf die Straße blickte. Ich dachte an nichts weiter als nur daran, daß nun der entscheidende Augenblick im Leben zweier Menschen gekommen war, die zehn Jahre lang zusammen gelebt hatten, und von denen der eine dem andern gesagt hatte, daß er gehen könne, wohin er wolle. Ich empfand die Tragik dieser Minute so tief, daß mein Herz sich zusammenkrampfte und daß mir der Atem stockte.

»Was wird sie sagen?« war dann mein Gedanke. »Wird sie mich stumm verlassen, um nie mehr wiederzukehren?«

In dieser langen Pause, wo nur die Herzen ihre stumme Sprache führten, wo Gefühle klafften, die sich ein Jahrzehnt lang im stillen Heim zusammengefunden hatten – da wünschte ich einen Zauberstab herbei, mit dem ich alles hätte ungeschehen machen können.

Draußen brauste das Leben dumpf vorüber, im Zimmer aber herrschte jetzt Stille, in die die Wanduhr ihr gleichmäßiges Ticken trug.

Noch immer schwieg sie. Nun, da ich ihr alles gesagt hatte, was ich ihr in Ruhe sagen konnte – nun wurde ich plötzlich feige. Ich wagte nicht, mich nach ihr umzusehen, aus Furcht, ihr Anblick könnte mein Mitleid erwecken.

Endlich sprach sie. »Wenn der Junge nicht wäre – vielleicht wäre ich dann schon längst gegangen.« Es klang leise und zitternd, und als ich sie nun doch anblickte, sah ich, wie sie ihre Tränen trocknete. Aber merkwürdig, jetzt rührte sie mich nicht mehr, denn in ihrem Wunsche lag für mich das heimliche Geständnis ihrer Schuld.

»Weshalb denn ›längst‹ gegangen?« fragte ich herausfordernd.

»Man wird ja bei dir verrückt – mit diesen ewigen Andeutungen,« wehrte sie ab, ohne auf meine Frage näher einzugehen. »Dies Versteckspiel muß doch 'mal aufhören.«

»Das soll es auch,« fiel ich ihr angriffslustig ins Wort, schon erfreut darüber, daß es nun endlich zur offenen Aussprach kommen würde. Das Pulverfaß mußte nun explodieren, denn ich hatte die Lunte in der Hand.

»Ich kann mir schon denken, was passiert ist,« fuhr sie fort. »Dir ist wieder etwas quer gegangen, und nun muß ich's wieder büßen. Doktor Schopp sagte es ja, daß so ein Wahn beim Menschen festsitzt und dann jede Gelegenheit an den Haaren herbeigezogen wird. Das wird dann krankhaft und artet schließlich aus. Die fixe Idee muß sich doch an irgend etwas auslassen. Ich bin nun 'mal das arme Opfer. Aber ich will es nicht länger sein. Nein!«

Sie stampfte mit dem Fuße auf und reckte sich empor, um mir größer gegenüber zu stehen. Das war nicht mehr die Mutter meines Kindes, die noch soeben unter Tränen bangte; das war wieder das kämpfende Weib, das die Nähe des Abgrundes witterte und alle Instinkte zu Rate zog.

Ich blieb ruhig. »Was sollte mir denn quergegangen sein?« fragte ich.

»Wahrscheinlich hast du keinen passenden Vertreter gefunden, und darunter soll nun ich und der arme Junge leiden.«

Ich überlegte nicht lange. »Da irrst du dich doch. Doktor Klungel wird mich vertreten.«

»Wa – as, der?«

Sie lachte, aber es war ein schrilles Lachen, aus dem mehr Angst als Hohn sprach. Rasch aber wurde sie wieder die alte. »Das glaube ich nicht, daß du diesen gerade genommen hast. Er könnte ja bei deinen Patienten dieselbe Dummheit machen. Das darfst du mir nicht vorreden.« Sie wollte lustig erscheinen, aber es gelang ihr nicht. Sie mußte wohl etwas in meinem Gesicht gelesen haben, was ihr die Freude verdarb. Trotzdem sprach sie weiter: »Doktor Schopp würde dich ja auslachen, und du selbst müßtest es tun. So ein tüchtiger Arzt wie du! Es wird dir wohl 'was anderes passiert sein.«

Sie hatte ein Jäckchen unseres Jungen vor, an dem sie im Stehen mit einem Messerchen trennte. Heute hatte sie nur noch den schwarzen Rock an, zu dem sie eine seidene Bluse trug. Hellblau mit Sternchen. Unter dem feinen Stoff spannte sich ihre volle Brust, die schwer auf und nieder ging. Verhaltener Sturm mußte in ihr toben. Auf ihrem gesenkten Antlitz lag der sanfte Widerschein des Blau, der es unnatürlich blaß machte. Auch ihre Hände waren nicht mehr so sicher.

»Mir fiel wieder ein, daß du dich für ihn ins Zeug gelegt hattest,« sagte ich aufs neue.

Aller Zweifel war ihr genommen, und so fragte sie nicht weiter. Aber plötzlich, als ich ihr gesagt hatte, daß ich gerade eben erst von ihm käme und alles abgemacht sei, da ich in ihm einen sehr netten Menschen kennen gelernt hätte, schlug sie sich wortlos mit der flachen Hand gegen die Stirn. Dann lachte sie wiederum hell auf, diesmal jedoch mit sehr überlegener Miene. »Nun ist mir ja alles klar,« stieß sie hervor. »Das hätte ich nur wissen sollen, daß du bei ihm warst. Er hat dir natürlich 'was eingetröpfelt, wodurch dein Wahn erst recht gestiegen ist.«

Ich wußte nicht, wo hinaus sie wollte, ahnte aber dunkel einen neuen Ansturm, der mich aus meiner Stellung werfen sollte.

»Was meinst du denn?« fragte ich.

Sie tat einen Schritt auf mich zu. »Sieh mich einmal an, ob es nicht so ist: er hat dir erzählt, daß hier ein Herr bei mir war an jenem Sonntag, und daraus hast du dir natürlich alles zusammengereimt. Sage: ist es nicht so? Und nun kommst du nach Hause und spielst wieder den Brutalen, statt mir einfach alles zu sagen und in Ruhe von mir Aufklärung zu verlangen. Wie es vernünftige Männer tun. Du bist ja natürlich nicht mehr vernünftig. Da rast ja und marterst dein armes Weib.«

Diese Wendung kam mir so unerwartet, daß ich sprachlos vor ihr stand. Ich dachte gar nicht daran, daß sie mein Schweigen als Zugeständnis auffassen könnte, sondern ließ sie ruhig weiter sprechen.

»Wenn du mich vernünftig gefragt hättest, dann wäre diese ganze Auseinandersetzung nicht nötig gewesen. Dann hättest du mir auch nicht den Laufpaß zu geben brauchen. Und mich noch obendrein vor dem Mädchen bloßzustellen, wie es ja schon seit vierzehn Tagen deine Art ist. Wenn du Gespenster am hellen Tage siehst, so kuriere dich doch erst selbst, ehe du andere kurierst ... Aber du weißt ja, daß ich alleinstehe, daß ich keinen einzigen Verwandten habe, dem ich mich anvertrauen könnte. Und deshalb trumpfst du so auf. Hinauswerfen lasse ich mich nicht, dann gehe ich schon von selbst. Aber ich weiß auch, wohin ich gehen werde. Zu deinem Vater werde ich gehen. Wenn erst Hans da sein wird, oder auch früher, mir ist es schon einerlei. Dein Vater ist ja Prediger, der war ja immer gut zu mir. Und ihm werde ich mich anvertrauen, ganz und gar. Verstehst du: ganz und gar! Dann wollen wir ja sehen, wie es kommt.«

Sie hatte keine Neigung zu neuen Tränen. Fest und bestimmt schleuderte sie mir die Worte ins Gesicht, als erlebte sie endlich den längst erwarteten Triumph über mich. »Was wird nun kommen?« fragte ich mich fortwährend, als sie so eiferte. Ich wollte sie nicht unterbrechen, sie mochte mein Schweigen auffassen wie sie wollte.

»Hol' mir doch 'mal den Doktor Klungel her,« begann sie aufs neue, »damit ich ihn selbst einmal fragen kann. Was dir eigentlich im Kopfe sitzt, wirst du nicht gesagt haben. Natürlich nicht! Sonst wäre er von selbst auf deinen Wahn gekommen.«

Immer noch sah ich sie unbeweglich an. Was ging in ihr vor? Weshalb baute sie sich das alles so hübsch auf, wo sie doch nicht wissen konnte, was ich mit Klungel gesprochen hatte. Die Gier sprach aus ihr, etwas aus mir herauszulocken, worauf sie ihre Abwehr weiter hätte türmen können. Endlich packte sie die Wut der beleidigten Frau, die keine Antwort bekommt.

»So rede doch! Du kannst es nicht. Weil du weißt, daß sich alles so verhält. Wer schweigt, der klagt sich an. Das, was der Besuch wirklich gesprochen hat, das wird dir nicht geträumt haben. Merkwürdig! Denke doch darüber einmal nach.« Sie warf die Jacke des Jungen im Bogen auf den Tisch und wandte mir den Rücken.

Vielleicht wäre es besser gewesen, ich hätte ihr auf den Kopf zugesagt, daß ich ihren Geliebten kenne, daß ihr ein Leugnen nichts mehr hülfe, daß tausend Worte nicht mehr hinreichen würden, sie zu reinigen, aber ich konnte keine Lüge über meine Lippen bringen. So fragte ich nur kurz: »Wer war es denn, der bei dir war?«

Mir noch immer abgewandt, zuckte sie mit den Achseln. »Was weiß ich! Die Karte muß noch irgendwo herumliegen. Irgend jemand war es – von irgendeinem Sargmagazin. Wahrscheinlich hier in der Nähe. Sophie oder der Kutscher hatte wohl schon darüber gesprochen. Die kommen ja gleich wie die Hyänen ... Ich denke es mir wenigstens. Er kann auch 'was anderes gewollt haben. Du lieber Himmel, das soll ich noch wissen! Wie mir der Kopf stand. Ich weiß nur, daß ich ihn kurz abfertigte. Er ging auch gleich, sowie der Doktor fort war. Ich glaube, er war kaum drei Minuten hier.« Sie begann im Zimmer zu suchen, auf dem Tisch und in den Schubladen, und kramte zuletzt auch ihren Nähkorb aus, ohne die Karte zu finden. Dann sann sie nach, wo sie sie hingelegt haben könnte, ohne darauf kommen zu können.

»Der Junge muß sie verbracht haben, oder sie ist beim Reinigen fortgenommen,« sagte sie wieder. »Wenn sie nicht noch irgendwo steckt.«

Alles das geschah wie ohne Absicht, wie unter dem Eindrucke ungeheuchelter Verlegenheit. Ich bewunderte ihre Geistesgegenwart, die nicht aus der Fassung zu bringen war. Sie erschien mir wie eine große Schauspielerin, die auf das Stichwort vorbereitet ist, ihre Rolle bis aufs Kleinste durchgearbeitet hat und nötigenfalls ein Extempore nicht scheut.

»Recht schade, daß die Karte nicht zu finden ist,« sagte ich spöttisch. »Sag' mal – trug er nicht hellen Anzug und dunkelblaue Krawatte? Hat er nicht einen aufgezwirbelten Schnurrbart, he?«

Sie lachte mich vergnügt aus, so daß das Grübchen in ihrer Wange zu sehen war. »In einem hellen Anzug? Ich glaube gar! Wer wird denn so in ein Trauerhaus gehen, um eine Geschäftsvisite zu machen. Das solltest du doch wissen. Was er trug, weiß ich nicht mehr, aber jedenfalls ging er ganz schwarz gekleidet. Er kam mir übrigens bekannt vor. Mein Gott, solche Leute sieht man oft in der Ladentür.«

Ich sah die Lüge hinter ihr stehen, wie sie beweglich Ausschau hielt; wie sie dieses Weib immer mehr umklammerte, um sie ganz in Besitz zu nehmen. Und langsam schob sie ihr Opfer vor sich hin, mir zu, damit sie mich aufs neue in das Netz ihrer Reize ziehe, mich wieder fesselte durch die feinen Fäden ihres duftigen Haares. Keine Reue sprach aus ihr, nichts Schamhaftes prägte sich in ihren Zügen, und keine Wimper zuckte um ihre großen Augen. Sie konnte noch lächeln, wo ein dunkler Schlund nach dem andern in ihrem Gewissen sich öffnen mußte, um ihre schwarze Seele immer tiefer vor dem Lichte des Tages zu bergen. Sie wiegte sich in den Hüften, dann erhob sie die Arme und nestelte an ihrem Haarknoten, so daß sich die Seide über ihrer Brust straff spannte und die Linie der Büste voll hervortrat. Ich verspürte es: sie wollte locken, mich reizen mit ihrem schönen Körper, von dem sie wußte, daß ich ihn nackt durch die Kleider sah.

Ein kleines Ungeheuer stand vor mir, aus dessen Sirenenlächeln ich fortwährend hörte: »Was willst du denn eigentlich? Weshalb zerbrichst du dir den Kopf über mich, wo du doch wissen solltest, daß all dein Geist und Witz an meiner Schlauheit zerschellen. Es gibt beim Weibe nur ein Geheimnis, und das liegt in seinen Reizen. Und wer mich nimmt, wie ich bin, der allein hat den Schlüssel zu diesem Geheimnis. Laß deinen Wahn, es auf anderem Wege zu lösen. Hier stehe ich, dein Weib, auf das du das erste Anrecht hast. Genieße mich, wie du mich zehn Jahre genossen hast – laß uns Frieden schließen, ich reiche dir die Hand. Und ich rate dir, nimm sie an, denn meine Macht reicht weit über dich, denn ich bin die Krone der Schöpfung.«

Und als sie vor mir stand, sah ich sie im Geist ohne Hülle. Die Sphinx wuchs aus ihrem Körper heraus, die die Tatzen nach mir streckte, um die Kraft des Löwen zu zeigen. Und ich fürchtete mich vor diesem Verlangen, das mit Schrecknissen drohte. Haß und Wut in mir wurden durch Widerwillen erstickt.

Ich ging und ließ das Rätsel zurück.


 << zurück weiter >>