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Eine Zeitlang war ich unfähig zu denken. Mir schien's, als verfiele nun mein Geist in denselben Zustand wie mein Körper. Langsam entschwand mir die Erinnerung, wie Gegenstände, die allmählich vor unserem Auge verblassen.
Mein inneres Leben litt unter dem Eindruck des soeben Gehörten. Alles war so unerwartet überraschend gekommen wie das Grauen, das plötzlich das Kind erzittern macht. Ich hatte eine Marter erduldet, gegen die das Sterben mir wie Freude erschien: ich sah mein keusches Weib seiner Heiligkeit beraubt, sah es nackt vor einem fremden Manne, und sie schämte sich nicht.
Etwas Ekles berührte mich, das ich nicht abschütteln konnte. Mein Schmerz war so gewaltig, daß man Tränen in meinen Augen gefunden hätte, wenn man sie jetzt geöffnet haben würde. Dann aber bekam mein Herz wieder Kraft, und alles schien mir unbegreiflich, wie eine große Seelenkomödie, die mir Schein statt Leben vorgetäuscht hatte. Ich nahm meine ganze Vernunft zusammen, um mir das Unmögliche meiner Erscheinung auszumalen, bis mir die Wahrheit, die, einmal vernommen, in uns wiedertönt, jede Selbstbeschönigung zerstörte.
Fortwährend peinigte mich der Gedanke: Was geht da drin vor? Was treiben sie, worüber unterhalten sie sich noch? War die Gegenwart schon abgetan, und wirkte nur noch die Zukunft verheißungsvoll? Sie allein ist es ja, der wir entgegenleben, vergleichbar mit dem ewig bewegten Meer, das hinauslockt trotz seiner Gefahren.
Konnte es Menschen geben, die in einer Stunde Gefühle ganzer Jahre begruben?
Die Tür sprang wieder auf. Mir fiel ein, daß sie immer schlecht geschlossen hatte und daß wiederholt mein Ärger darüber herausgefordert war. Merkwürdig, daß mir solche Kleinigkeiten jetzt durch den Kopf schossen, wo nebenan auf meinem abgetanen Schicksal ein neues Leben seine Gelüste züngeln ließ.
»Laß mich, laß mich! Mäßige dich,« sagte Irma laut.
»Ich liebe dich wahnsinnig. Endlich gehörst du mir,« keuchte er hervor. »Ich bin kein Dieb der Liebe mehr, wie du immer sagtest.«
»Mein Gott ja, und ich war die Hehlerin. Laß mich doch, sei nicht so stürmisch. Bist du ein Mann! Du –!«
Ihre Worte erstickten unter seinen Küssen.
Scharf und grell, fast wie ein gespenstiges Warnungszeichen, schrillte die Flurglocke dazwischen.
»Geh dort hinein. Schnell. Niemand darf dich sehen.«
Ein Stuhl fiel um, eine Türe wurde zugeschlagen, dann trat Stille ein.
Nicht lange darauf ließ sich eine dünne männliche Stimme an meinem Lager vernehmen, die von einem sehr zaghaften Herrn zu kommen schien. Was er sagte, bestand zuerst in ausgesucht höflichen Wendungen und vorsichtigen, ausforschenden Redensarten, wie man sie häufig bei ganz jungen Ärzten findet, die ihre Praxis gerade begonnen haben und sich der großen Verantwortung bewußt sind, den ersten Todesfall gegen Bezahlung festzustellen – obendrein noch in sogenannter guter Familie und bei einem bekannten Kollegen.
»Wann sagten Sie doch, gnädige Frau, daß der Tod eingetreten sein sollte?«
»Vor einer Stunde ungefähr.«
Er fragte nochmals, und sie gab dieselbe Antwort.
»Vor einer Stunde. So. Hm. Sind bei dem Herrn Kollegen besondere Krankheitssymptome vorhergegangen? War er überhaupt leidend? Hat er zu Schlaganfällen Neigung gehabt? Ich vermisse nämlich –. Wollen gnädige Frau die Güte haben, mir näheres darüber –. Ich danke, ich danke verbindlichst – ich bediene mich schon selbst.«
Er nahm einen Stuhl und stellte ihn vor mein Bett. Und während meine Frau alles verneinte und ihm das Tatsächliche vortrug, versuchte ich mir in meiner Einbildung eine Vorstellung von diesem neuen Jünger der medizinischen Wissenschaft zu machen: wie er geistig tastend vor mir saß und die in den Hörsälen und Kliniken erworbenen Fühlhörner allmählich erst vorzustrecken wagte. Entschieden ein Gemisch aus äußerlicher Würde und aus dem Mangel an vertrauen zu sich selbst.
Sein Mut schien noch im Stimmwechsel zu liegen, der vernünftigen Entfaltung dringend bedürftig. Und so sah ich im Geiste einen ausgewachsenen Mann vor mir, kaum im Soldatenmaß, engbrüstig und schmalbrüstig, die Nase klein und weibisch, die Augen rund und beweglich, Mund und Ohren gewöhnlich, das Haupthaar sorgsam stilisiert und die dünn gesäten Härchen über der Oberlippe wichtig nach oben gedreht.
Seine Fisteltöne gaben mir am meisten zu denken; sie überschlugen sich beim Reden, was sich fast lächerlich anhörte. Die Auseinandersetzung meiner Frau unterbrach er sehr oft mit der Frage: »Wie meinen Sie?« worauf er sich veranlaßt fühlte, lauter zu sprechen. In der Hast, wie er sprach, lag sein Ehrgeiz, sich möglichst vielseitig auszudrücken, worunter die technischen Bezeichnungen besonders zu leiden hatten. Er holte sie ziemlich weit her, um sein Sachverständigenbild möglichst vollendet zu bieten.
» Paralysis cordis,« sagte er nach einem Weilchen, und nach einer Frage meiner Frau fügte er verdeutscht hinzu: »Herzschlag. Gewöhnlich eine Folge von Hypertrophia und Dilatatio cordis.«
»Ich verstehe die fremden Ausdrücke nicht, wollen Sie mir bitte nicht sagen –.«
»Herzerweiterung,« beeilte er sich wieder zu erwidern. »Haben sich bei dem Herrn Kollegen niemals derartige Symptome gezeigt?«
»Niemals, wie ich schon sagte: davon konnte gar nicht die Rede sein. Überhaupt war er soweit ganz gesund. Das einzige, was sich hin und wieder zeigte, waren nervöse Verstimmungen.«
»So. Hm. Also doch wohl Herzaffektionen,« flötete er überlegen. »Wer ist der Hausarzt, wenn ich fragen darf? ... Doktor Schopp? Ach so. Der Herr Kollege war wohl nicht zu Hause? ... Wollen gnädige Frau die Güte haben, die Gardinen ein wenig –. Ich möchte nur einmal sehen.« Er rückte wiederholt mit dem Stuhl und machte sich anscheinend zu einer näheren Untersuchung bereit.
»Ist es so hell genug?«
»Ich danke vielmals, es genügt vollständig.«
Ich fühlte nicht, was er tat, aber ich erriet, daß er sich mit dem Puls und dann mit dem Herzen beschäftigen werde. Endlich! Ich hätte ihn einen Dummkopf nennen mögen, dafür, daß er das nicht gleich getan habe, denn unzweideutig hatte ihn zuletzt der Zweifel beherrscht. Meine Gehirntätigkeit war derartig erregt, daß alle anderen Vorstellungen wichen und ich nur Worte hörte, ungefähr wie in einer tiefschwarzen Nacht, wo das ganze Leben dieser Welt zu tausendfältigen Lauten erwacht ist, das Wort zur Plastik wird, riesenhaft anschwillt und alle übrigen Sinne tötet.
»Es ist merkwürdig, der Puls –.«
» Was ist mit dem Puls, Herr Doktor?« Die Frage drang wie ein großer Schrei an mein Ohr.
»Wollen Sie nicht auch einmal fühlen, gnädige Frau.«
»Ich vermag es nicht.« Statt des Schreiens war es ein Stöhnen. »Aber was ist denn los? Sie sind doch Arzt ...«
»Es ist doch merkwürdig –.« Er kam über das »merkwürdig« vorläufig nicht hinaus. Eine große Pause trat ein, die durch die schweren Atemzüge meiner Frau und durch erneutes Rücken des Stuhles ausgefüllt wurde.
»Aber was ist denn nur, Herr Doktor? Mir ist alles so beängstigend. Hat er noch Leben? Ich müßte mir ja ewig Vorwürfe machen. Sprechen Sie doch!«
Er erwiderte nichts. Aber an seinem schwachen Atmen erkannte ich, daß er das Hörrohr angesetzt hatte.
»Schlägt sein Herz noch? O, Gott, o, Gott – ich zittere am ganzen Körper, wollen Sie nicht noch jemand hinzuziehen?«
Ohne seine Antwort abzuwarten, rief sie durch das Fenster: »Lina, Lina – schnell! Sie müssen fortgehn. Rufen Sie auch Karl.«
Sie stürzte hinaus; von der Küche her schallte dann wieder ihre laute Stimme herein. Lina redete dazwischen, dann antwortete auch der Kutscher von unten. Die Köchin heulte laut, Geschirr fiel herunter, Türen wurden wieder zugeschlagen, schließlich sprachen alle auf einmal wirr durcheinander. In meine Ohren gellte es hinein wie wilde Menschenmusik, die zur Auferstehung rief.
Plötzlich verstummte alles. Die Stille wurde mir zur Ewigkeit, bis Irmas Stimme sich wieder vernehmen ließ: »Die Dienstboten sind schon fort, sie sollen bringen, wen sie finden. Ich habe keine Ruhe mehr. Wollen Sie nicht die Brust reiben, hier ist alles. Oder warten Sie, ich mache es selbst.«
Der Stuhl bekam jetzt einen kräftigen Ruck, der junge Kollege mußte sich erhoben haben.
»Ich glaube, gnädige Frau – es wird alles vergeblich sein,« begann er wieder mit seiner Kinderstimme. »Herztätigkeit ist nicht mehr vorhanden.«
»Nein –?«
Dieses Nein war ein sonderbarer Ton: gedehnt, ohne Klang, weder der Ausdruck von Schmerz noch von Freude – ein fremde Note in einem Musikstück, das man zehn Jahre lang tagtäglich gehört hat.
»Der Pulsschlag war nur Täuschung. Ich glaubte, daß Apoplexia cerebri vorliege, deswegen untersuchte ich. Aber Schlagfluß ist ausgeschlossen. Ich bedaure unendlich ... Der Herr Kollege war ein so beliebter Arzt. Aber ohne Zweifel große Herzaffektionen, von ihm selbst vernachlässigt. Und dabei große Widerstandsfähigkeit. Gnädige Frau werden gewiß aus der Praxis des Verstorbenen wissen, daß gerade bei kräftigen Naturen, die äußerlich sehr gesund aussehen, derartige Todesfälle sehr rasch eintreten ... Darf ich um etwas Wasser bitten?«
Ich hörte noch, wie meine Frau ihn höflich auf die Toilette wies, wie sie noch etwas sprachen, was mir weit aus der Ferne zu kommen schien. Dann wußte ich nicht mehr, was geschah.
Plötzlich schlug ich die Augen auf und richtete mich empor, genau so, wie ich es immer beim Erwachen getan hatte. Ich fühlte keine Beschwerde, ausgenommen einen leichten Druck im Kopfe. Ein starker Geruch von Ammoniak lag mir in der Nase, kaltes Wasser tropfte mir vom Gesicht auf die nackte Brust hernieder.
Doktor Schopp stand in Hemdsärmeln an der Tür und sprach ins Nebenzimmer hinein, »Wie heißt denn dieses Rindvieh von Kollege?« hörte ich ihn in seiner derben Art sagen. »Der fühlt wohl den Puls mit ledernen Handschuhen. Wenn er schlecht hört, soll er nicht Arzt werden ... Ja, bringen Sie nur ein grobes Handtuch, bitte. Das genügt.«
»Aber was ist denn das?« rief ich ärgerlich aus, in der Annahme, man hätte sich einen üblen Scherz mit mir erlaubt. Dabei wischte ich mir das Wasser aus den Augen.
»Heureka, da haben wir ihn, Frau Doktor!« schrie er unbändig, »Was machen Sie denn für Dummheiten, lieber Freund? Das lassen Sie das nächste Mal lieber bleiben.«
Sofort saß er an meinem Bett und ergriff meine Hand.
»Was wollen Sie denn schon so früh,« gab ich zurück, erfreut von seinem Anblick.
Er lachte, so daß die gesunden Zähne unter seinem üppigen Schnurrbart blitzten und die vollen roten Wangen sich blähten.
»Es ist zwar nicht zum Lachen, aber etwas Komisches liegt jetzt doch in der Situation ... Danken Sie Ihrem Schöpfer, daß ich so früh abkommen konnte. Sie lagen ja wie Blei da, das heißt wie kaltes.«
»Was für Dummheiten meinen Sie denn?« fragte ich wie jemand, der noch halb verschlafen ist.
Bevor er antworten konnte, kam meine Frau hereingestürzt und warf sich über mich. An ihrer Seite war mein Junge.
»Da, habt ihr ihn wieder,« sagte Schopp. »Nun haltet ihn fest. Hoffentlich wird er nun ein recht langes Leben haben.« Damit erhob er sich und trat ans Fenster.
Irma sagte kein Wort, aber heiße Tränen entströmten ihr und tropften auf mein Gesicht. Und auch der Junge fing an zu weinen und legte lautlos seinen Kopf an den meinen.
Alles kam mir wie ein Rätsel vor. Minutenlang hielten wir uns stumm umschlungen. Ich wollte immer aufs neue fragen, aber der dunkle Drang, den Freudenschmerz von Mutter und Kind nicht zu stören, ließ mich alles still erdulden. Der Duft ihrer Haare berauschte mich, ihre Körperwarme hatte etwas Wohliges für mich, und so erlag ich dem Zauber ihrer Nähe, ungefähr wie jemand, der das Glück in den Armen hält und gar nicht forscht, woher es gekommen ist. Alle Vorgänge waren mir entschwunden, ich sah nur das Tageslicht, wußte, daß ich mich im Schlafzimmer befand, und ahnte, daß irgend etwas besonderes vorgefallen sein müßte.
»Weshalb weint ihr denn?« fragte ich dann.
»Aber, Vater, du warst ja tot,« schluchzte Hans hervor.
Ich lachte genau so, wie es Schopp vorhin tat.
»Wissen Sie von gar nichts?« fragte dieser.
»Von nichts. Ich weiß nur, daß ich mich um ein Uhr schlafen legte und daß in der Nacht ein fürchterliches Gewitter war. Mehrmals wachte ich davon auf. Es muß irgendwo eingeschlagen haben – ganz in der Nähe.«
»Na, dann ist die Sache ja richtig,« sagte er wieder gemütlich. »Dann hat der Schreck Sie gelähmt. Wahrscheinlich wachten Sie gerade auf, als der Blitz zuckte und der Krach folgte.«
»Ich weiß wirklich von nichts,« betonte ich nochmals. Ich log nicht, denn im Augenblick war meine Erinnerung völlig betäubt. Nun, wo wieder Leben in meinem Körper pulsierte, wo sich die Arbeit der Sinne gleichmäßig verteilte, erschien mir mein Erwachen nur wie eine Fortsetzung vom begonnenen Schlafe. Alles, was dazwischen lag, war noch in Seelenschlummer gehüllt.
»Es ist ja auch gar nicht anders erklärlich. Sie waren doch nie zu solchen Dingen disponiert,« sagte er wieder. »Ein derartiger Fall von Katalepsie ist mir noch nicht vorgekommen.«
»Katalepsie?« fragte ich zerstreut.
»Natürlich. Auf deutsch Starrsucht, damit's Ihr Junge auch weiß. Eine interessante Geschichte – wir müssen noch eingehend darüber sprechen. Wie ist Ihnen denn jetzt?«
»Ganz wohl. Hier oben etwas dumpf. Sonst Appetit gut.«
»Wenn Sie schon Witze machen können –.« Er lachte, und ich lachte mit.
Ich saß nun aufrecht im Bette, Irma und Hans hockten am Fußende.
»Ihre Frau hat mir schon alles gesagt,« fuhr er fort; »sie hielt Sie für fest schlafend und wollte Sie nicht stören, da Sie heute keine Krankenbesuche zu machen hatten.«
»Es war so dämmerig im Zimmer.« fiel sie ein, den Jungen krampfhaft an sich drückend. Sie sah blaß aus. Ihre Augen waren vom Weinen gerötet, ihr Gesicht erschien mir schmaler, seit gestern älter, mit einem neuen Zug um den Mund. Sie war sorgsam frisiert, anders wie sonst. Gestern noch trug sie das glänzendbraune Haar, dessen satte Farbe stets mein stiller Genuß war, in einfachen Flechten um den Kopf; heute hatte sie es zu einem Knoten aufgebaut. Sie sah forscher, unternehmender aus, erschien größer, mehr als Dame; sie war gleichsam mit einem kühnen Entschluß aus dem Philisterhaften ins Salonmäßige gerückt.
›Weshalb diese Wandlung so schnell? Konnte sie damit nicht warten?‹ dachte ich.
Unsere Blicke trafen sich – leichtes Rot trat in ihre Wangen, als sie meine Musterung bemerkte.
»Ei, wie trägst du denn heute dein Haar?« fragte ich scherzend. Sie sah an mir vorbei, ihre Wangen färbten sich noch mehr. Dann versuchte sie zu lächeln: »Eine dumme Laune.«
»Kleidet dich übrigens gut.«
»Nun siehst du – .« Sie tätschelte meine Hand. »Der schwarze Hut hat daran schuld; er hätte mir sonst nicht gesessen.«
»Und Trauer hast du auch schon an.«
»Nun j–a,« kam es gedehnt über ihre Lippen. »Ich hatte ja alles im Schrank.«
»War es denn wirklich so schlimm, Schopp?« fragte ich verblüfft.
»Aber natürlich doch. Jeder Laie hätte Sie für tot gehalten, wenn das schon am grünen Tuch passiert –.« Er wandte mir den Rucken und wusch sich die Hände.
Ich schwieg. Etwas sonderbares ging in mir vor. Der Anblick des Kleides, die Erwähnung des Hutes, öffneten den Erinnerungsschacht in meiner Seele, der noch verschwommen im Zweifel lag.
»Passiert es Ihnen nicht öfter, Schopp, daß Sie glauben, bestimmte Dinge schon 'mal erlebt zu haben? Es ist nämlich ganz merkwürdig –.«
»Das kommt bei manchen Menschen alle Tage vor. Nur bei mir nicht,« warf er ein.
»Weißt du,« wandte ich mich an meine Frau, »es ist mir nämlich jetzt so, als hätte ich dich schon über deine Trauer hier an meinem Bette sprechen hören, Warte mal –.«
Sie antwortete nicht, erhob sich aber rasch, ging an den Wäscheschrank und holte ein reines Handtuch hervor, das sie Schopp mit einem »Bitte, Herr Doktor« reichte.
»Dann hätten Sie ja doch Bewußtsein gehabt,« fiel dieser wieder ein. »Sprachen Sie darüber, Frau Doktor.«
Sie sagte kein Wort, sondern schüttelte nur mit dem Kopf. Nach einer Weile erwiderte sie: »Es kann doch sein, ich sprach wohl mit dem Mädchen einige Worte darüber.« Sie trat ans Fenster und warf einen Blick auf den Hof hinunter.
»Also haben Sie doch Wahrnehmungen der Sinne gehabt,« bemerkte Schopp abermals. »Das interessiert mich sehr. Das wäre etwas für die Medizinische Gesellschaft. Ich werde Sie einfach vorführen. Strengen Sie nur Ihr Gedächtnis recht an.«
Ich hörte nicht auf seinen Scherz, denn andere Gedanken beherrschten mich. Im Augenblick konnte ich nicht darüber hinwegkommen, wirklich schon etwas derartiges aus dem Munde meiner Frau gehört zu haben. Aber es schien mir, als läge es weit zurück, womöglich Jahre, und als wäre die Erinnerung daran jetzt erst munter geworden.
»Ich werde mir Mühe geben, lieber Freund,« erwiderte ich endlich.
»Aber so grübele jetzt doch nicht darüber, danke Gott, daß alles vorüber ist,« sagte Irma wieder und trat vom Fenster zurück. Abermals glitt ihr Blick an mir vorbei, trotzdem sie mir ihr Gesicht zuwandte. Ich sah sie fortwährend an, weil sie mir wie verwandelt vorkam. Jeder Blutstropfen war aus ihrem Antlitz gewichen, noch tiefer lagen die Winkel um den Mund.
›Mein Gott,‹ dachte ich, ›wie muß sie gelitten haben.‹
»Ihre Frau hat recht,« meinte Schopp. »Ich verordne Ihnen sofortiges Erheben und ein gutes Frühstück.«
»In Ihrer Gesellschaft,« erwiderte ich launig.
»Leider muß ich auf die köstlichen Überraschungen verzichten, ich muß noch weiter,« gab er zurück, während er sich seinen Rock überzog.
»Wie schlecht du aussiehst,« sagte ich wieder zu Irma.
»Das ist doch kein Wunder. Wenn man so etwas erlebt.«
Sie setzte sich wieder auf den Bettrand und begann meine Hand zu streicheln, mit einer Zärtlichkeit, wie sie nur herzliche. Teilnahme eingeben kann. Aber während sie mich diesmal groß anblickte mit ihren stahlgrauen Augen, die dunkel beschattet von den langen Wimpern waren, hatte ich wieder die Empfindung von vorhin. »Es ist doch sonderbar,« kam es unwillkürlich über meine Lippen.
»Was denn, Männe?«
»Waren fremde Leute an meinem Bette?«
»Da haben wir es schon wieder,« platzte Schopp dazwischen.
Sie ließ meine Hand fahren, legte ihre Hände in den Schoß und blickte vor sich hin. Aber ihr Gesichtsausdruck hatte sich wieder verändert. »Fremde Leute?« wiederholte sie nachdenklich und schüttelte mit dem Kopf. »N – ein.« plötzlich lachte sie kurz auf. »Aber du hast ja geträumt.« Nun fuhr ihre Hand meinen ganzen Arm entlang bis zur Schulter hinauf, so daß ich die Weichheit ihrer geschmeidigen Finger fühlte.
»Aber dieser Siebenmonatskollege war doch hier?« fiel Schopp ein.
Sie lachte, und ich wurde davon angesteckt. »Richtig, das hätte ich fast vergessen,« sagte sie dann.
»Nein, nein,« fuhr ich ernst fort, immer verfolgt von derselben Vorstellung, »es war ein weibliches Gesicht, das ich dicht vor mir sah, aber ein fremdes –.«
»Ach, geh' doch. Das war ich. Du hattest ja zuerst die Augen groß auf.«
»Du warst es und du warst es nicht. Ich sah fremde Züge vor mir. Groß aufgerissene Augen mit einem unbestimmten Ausdruck. Etwas Schreckliches sprach daraus, das mir Furcht einflößte.«
»Wenn Sie wirklich Bewußtsein gehabt haben sollten, lieber Freund, dann ging diese Furcht von Ihnen aus,« mischte sich Schopp wieder ein. »Sie litten unter dem Schreck. Es ist jedenfalls psychologisch interessant.«
Ich schwieg, weil ich mir selbst unklar darüber war; aber dieses weibliche Wesen, das ein Gemisch von meiner Frau und einem mir unbekannten Wesen war, belebte immer mehr meine Erinnerung. Es war, als hätte meine Frau die Suggestion dazu gegeben. »Jetzt weiß ich, du warst es,« sagte ich plötzlich ganz bestimmt. »Du schriest auf und riefst mir etwas in die Ohren.«
»Dann kann es doch keine Fremde gewesen sein.«
Linas und Sophiens Stimmen wurden laut. Meine Frau winkte beiden ab. »Geht nur, es ist alles wieder gut. Mein Mann darf sich jetzt nicht aufregen.«
»Ach, das tue ich ja gar nicht,« sagte ich ärgerlich. »Guten Morgen. Nur kein großes Gerede darüber machen, es war nur eine Ohnmacht.«
»Ein Schreckschuß vom Himmel,« fiel Schopp gut gelaunt ein. »Also, ich warte noch ein Weilchen, lieber Freund.«
Sie gingen alle hinaus bis auf meine Frau. »Soll ich dir helfen?« fragte sie.
»Nicht nötig, ich fühle mich frisch wie immer.«
Sie folgte den übrigen und schloß die Tür hinter sich.