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Sie ging umher wie das verschleierte Bild zu Saïs: das verkörperte Geheimnis, mir täglich sichtbar, ohne daß ich imstande gewesen wäre, den Schleier zu lüften. Und dieser Schleier war ihre plötzliche Verschlossenheit, ihre stumme Ergebenheit, ihre fast demütige Neigung zu mir, ihre stille Duldermiene. Sie war mir unnahbar, trotzdem ich die Hände hätte ausstrecken können, um sie zu erdrosseln.
Einmal faßte mich der wahnsinnige Gedanke, ihren weißen Hals, diesen sündhaften weißen Hals, den ihr Geliebter so gelobt hatte, mit meinen Händen zu umkrallen, sie vor mir niederzuducken und ihr zuzurufen: »Laß deine Maske endlich fallen, zeige dich in deiner wahren Gestalt, und ich will dir alles vergeben.«
Es war spät am Abend. Die Lampe brannte bereits, der Junge schlief schon, und ich wollte noch zur Nacht speisen. Sie wartete mir stumm auf, denn ich wollte durch das Mädchen nicht mehr gestört werden. Lautlos wie eine Erscheinung ging sie um den Tisch herum. Sie setzte mir einen anderen Teller vor, während ich, die Serviette vorgebunden, schweigend dasaß. Mir gegenüber war der große Wandspiegel, in dem ich sie in voller Größe sah. Einen Augenblick schien es mir, als wäre ihre Duldermiene verschwunden, als huschte ein heimliches Lächeln über ihre Züge – das Lächeln des Unbeobachtetseins.
Irgend etwas war zur Erde gefallen, sie bückte sich dicht neben mir, und da kam es über mich: das Menschtier in mir regte sich. ›Wahrheit, Wahrheit,‹ brüllte es, ›mußt du erhalten. Foltere sie, peinige sie – aber bringe sie zum Sprechen.‹
Da wurde sie zum Jungen gerufen. Nach einem Weilchen kehrte sie zurück und streckte den Kopf zu mir herein. »Komm doch einmal. Sein Kopf brennt. Es war ihm schon Nachmittag nicht richtig.«
Ihre weiche Stimme bändigte mich. Ich hörte nur noch die angsterfüllte Mutter, mein Weib von früher!
Es war nichts von Bedeutung; eine leichte Erkältung, die bald vorüberging. Das brachte mich endlich zu einem Entschluß. Wir wollten reisen, aber nicht zusammen. Sie sollte mit Hans an die See, und ich wollte allein eine Gebirgstour machen. Vielleicht nach der Schweiz, oder nur auf einige Wochen in den Schwarzwald oder ins Riesengebirge. Mir wäre es ganz einerlei gewesen.
Vorläufig mußte ich noch zu Hause bleiben, denn ich hatte noch keinen Vertreter für mich. Bisher hatte sich immer Doktor Schopp meiner Patienten angenommen, der auf die Ferien nicht Rücksicht zu nehmen hatte und mit Vorliebe die Nachsaison zu seiner Reise benutzte. Nun aber machte er mir einen Strich durch die Rechnung, indem er mir schrieb, diesmal von einer befreundeten Familie überredet worden zu sein, in den nächsten Tagen schon mit nach Sylt zu gehen. Im übrigen habe er sich selbst einmal Nordseebäder im Hochsommer verordnet. Dagegen war nichts einzuwenden, und so mußte ich Auslug nach einem andern, jüngeren Kollegen halten. Deren gab es ja genug, aber ich hatte während der letzten fünf Jahre meine Vertretung in so guten Händen gewußt, daß ich nun in ärgerliche Verstimmung geriet.
Schließlich sagte ich mir, daß es damit nicht eile. Ich wollte nur erst den Jungen weghaben, der der Kräftigung dringend bedurfte. Ein sonderbarer Plan war dabei in mir entstanden. Wenn Weib und Kind meine ersten Grüße aus den Bergen erhalten hatten, wollte ich nach dem Norden umkehren, unerwartet in dem Seebade auftauchen und heimlich nach dem Unbekannten fahnden. Wenn sie sich in Sicherheit wußte, würde sie ja ihrem Geliebten jedenfalls den nötigen Wink geben. Der Knabe in seiner Unschuld war nicht zu fürchten. Während der im Sande buddelte und mit Spielgenossen Burgen baute, konnte seine Mutter genügend auf verbotenen Wegen wandeln. Und wenn er abends schlief, hätte die Sünde freien Weg. Was kam in belebten Seebädern nicht alles vor! Und gerade ein solches hatte ich gewählt, damit die »Verkrümelung« ohne Aufsehen von statten gehen könne.
Die sorglose Geschäftigkeit, mit der Irma ans Packen ging, bestärkte mich in dem Verdacht, das Richtige getroffen zu haben. Ihre Miene war heiter, sie plauderte lebhafter denn sonst mit dem Jungen und hatte sogar vergnügte Worte für mich. Auffallend war, daß sie diesmal Sophie, die ihr sonst regelmäßig zur Bedienung gedient hatte, nicht mithaben wollte. Sie könnte mir fehlen, da ich noch zurückbleibe, meinte sie. Und da dem »zerquetschten Fräulein« nichts daran zu liegen schien, ihre Gesundheit aufs neue zu stärken, so sprach ich nicht dagegen.
Ich reimte mir zusammen, daß mit dieser Abzweigung jede ihren besonderen Zweck verbinde, daß eine der andern nicht recht traue, und daß vor allem meine Frau die zukünftigen Freuden möglichst unbelästigt genießen wolle. Vielleicht steckten sie auch beide unter einer Decke, und Sophie sollte als Posten im Hause aufgestellt bleiben, um über meine Schritte zu berichten.
Ich wollte mich gerade an Schopp wegen eines neuen Vertreters wenden, als er mir zuvorkam und mich besuchte. Schon seiner Miene sah ich an, daß es keine sogenannte Stippvisite sei, sondern daß er irgend etwas mit mir zu besprechen habe. Ich merkte es auch daran, daß er sofort Hut und Stock weglegte, die er sonst immer in der Hand zu behalten pflegte, wenn es sich nur um Minuten handelte.
»Sie wollen wohl Abschied nehmen vor Ihrer Wellenkur, Sie Treuloser,« redete ich ihn gut gelaunt an.
»Das auch. Eigentlich komme ich aber als Arzt zu Ihnen.«
»Wenn Sie nicht seit gestern unter die Börsenjobber gegangen sind –« fiel ich in derselben Laune ein ...
Er lachte nicht, und das fiel mir sofort auf; auch daß er mich prüfend ansah.
»Ich komme in einer ernsten Angelegenheit, verehrter Freund,« sagte er wieder.
»Das muß ich wohl jetzt annehmen – nach Ihrem feierlichen Auftreten. Was ist denn los? Sind Sie mit dem großen Los durchgefallen? Soweit sind wir ja noch gar nicht.«
Er schüttelte mit dem Kopf, während seine Miene unverändert blieb. »Es ist mir nicht gerade angenehm, aber ich mußte Sie vor meiner Abreise noch darüber sprechen,« fügte er hinzu. »Es trifft sich übrigens gut, – soeben begegnete mir unten Ihre Frau Gemahlin. Sie wollte einige Einkäufe machen, wir sind also ganz ungestört.«
»Wo ist sie? Geht sie allein?« unterbrach ich ihn eifrig und eilte ans Fenster, weil mir diese Nachricht ganz überraschend kam. Irma hatte wohl davon gesprochen, aber angedeutet, daß Hans mitgehen sollte. Da der Junge jetzt nichts zu versäumen hatte, so hatte ich jedesmal förmlich auf seine Begleitung gedrungen, was mir eine gewisse Beruhigung war.
Er spielte den Erstaunten. »Soll sie denn nicht allein ausgehen? Warum, wieso, weshalb? Sie bewachen sie wohl?«
Betroffen blickte ich ihn an. »Haben Sie nicht einen Hintergedanken dabei?« fragte ich dann gedehnt.
»Zwei sogar, lieber Freund,« gab er scherzend zurück. Aber sein Ton gefiel mir nicht. Kaum hatte ich den Gedanken erwogen, ob er irgendeine Ahnung von meiner Seelenpein haben könnte, als er mich plötzlich aus meiner Fassung brachte.
»Ich komme nämlich wirklich als Arzt zu Ihnen, natürlich als amicus familiae, und zwar auf Bitten Ihrer Frau Gemahlin. Werfen Sie mich nur nicht gleich hinaus,« sagte er wieder, diesmal mit einer Spur seiner alten, humoristischen Anwandlung.
Mir dämmerte sofort der Zusammenhang.
»War sie bei Ihnen?« fragte ich.
»Vor drei Tagen schon. Was machen Sie denn für Geschichten. Wie kann man nur! Sie in Ihrem Alter, der vernünftigste Mensch, den ich bisher das Vergnügen hatte, kennen zu lernen, sein armes Weibchen so mit Wahnvorstellungen zu verfolgen. Sie kämpfen ja wie Don Quixote gegen Windmühlen. Was ist denn mit Ihnen passiert? Weshalb vertrauen Sie sich denn mir nicht an? Wenn Sie an Phantasmagorie der Gefühle leiden! Eine etwas gewagte Bezeichnung, aber es ist so. Sie haben doch sonst das Erlebte vom Erträumten unterschieden, Sie Selbstzerstörer Ihres Glückes.«
Am liebsten hätte ich ihm zu verstehen gegeben, daß ich seine Mission ebenso sonderbar fände, wie seine »wohlmeinenden Absichten,« aber es reizte mich als Arzt die Meinung dieses bewährten Kollegen über meinen Fall einmal gründlich zu hören, soweit es sich um das Gebiet des Unwahrscheinlichen handelte. Denken konnte ich ja, was ich wollte. Was mich aber besonders interessierte, war wiederum das sichere Auftreten meiner Frau. Ich dachte gar nicht an die seltsame Lage, in die ich plötzlich Doktor Schopp gegenüber geriet, – mir schwebte nur immer die Schuldige vor, die, von innerer Angst gepeitscht, das äußerste wagte.
Aber ich fühlte mich gewappnet auch diesem lieben Freunde gegenüber, den sie nun zum Bundesgenossen gemacht hatte. Ich reichte ihm die geliebte Importierte, gab ihm Feuer und zündete mir eine von meiner leichten Sorte an. Und während er die ersten Züge tat und beim Paffen sein Gesicht sich verklärte, entdeckten seine Augen das Stück Flor, das noch immer über der Sphinx auf dem Wandbrett hing, weil niemand gewagt hatte, es fortzunehmen.
»Nun, was hat denn das zu bedeuten?« fragte er.
»Ja, das sollen Sie einmal raten. Mit der Lösung dieses Geheimnisses beschäftige ich mich jetzt. Auch Ärzte haben mystische Aufgaben zu erfüllen.«
Sein Blick verriet nichts Gutes. Er betrachtete mich ungefähr wie ein Mensch, der etwas bestätigt findet, was er nicht gerade aussprechen möchte.
Und da mich das innerlich amüsierte, fuhr ich gelassen fort: »Der stete Anblick dieser verschleierten Sphinx soll mir ganz bestimmte Ideen suggerieren. Ich bin jetzt auf die tote Hypnose gekommen. Die Beeinflussung durch Lebende ist ja nichts neues mehr, das Geschäft blüht ja. Aber uns den Willen zu oktroyieren durch tote Sinnbilder, – das wäre noch des Schweißes der Edlen wert. Die Phantasie bleibt dabei immer rege, und so wird dadurch eine Reihe von Vorstellungen geschaffen, die uns instinktiv dazu führen, das Rätsel unserer nächsten Umgebung zu lösen. Denn schließlich ist unser ganzes Dasein nur ein Rätsel. Das ganze Weltall ist eine ungeheure Sphinx, an deren Brüsten die ganze Menschheit liegt und sich vollpumpt mit den Geheimnissen – ich möchte sagen literweise. Und aus Ärger darüber, weil wir diese ungeheure Sphinx nach allen Regeln der Theorie nicht abschlachten können, begnügen wir uns mit den paar Tropfen Gift, die wir aufsaugen, und rächen uns dadurch, indem wir es an andere weitergeben. Aus dem großen, ewigen Geheimnis, das so wunderbar berauschend wirkt, daß wir es gar nicht fassen wollen, – daraus haben wir Menschen die Geheimnistuerei gemacht oder auch -krämerei – wie Sie wollen. Wir sind die kleinen Splitterchen vom Ganzen, die eine Riesenfaust über die Erde gestreut hat, und die sich nun gegenseitig pieken und wehe tun, – wahrscheinlich aus Wut darüber, daß sie sich nicht wieder zusammenfinden können.«
»Das klingt ja sehr geistreich,« unterbrach mich Schopp, während er mich unverwandt anblickte. Trotzdem mir alles, was ich sagte, inneres Bedürfnis war, hatte ich doch mit Willen etwas pathetisch gesprochen, um diesen trockenen Mediziner, dem jede Neigung zur Philosophie fernlag, in andauernder Verblüffung zu halten. »Vielleicht dient das dazu, mich nicht für ganz normal zu halten,« dachte der Schalk in mir, den der Ernst meiner Empfindungen nicht unterdrücken konnte.
»Wo ist denn der Arzt bei Ihnen geblieben?« sagte er wieder. »So habe ich Sie ja noch nie gehört.« Er hatte das Rauchen vergessen, so daß er die Zigarre aufs neue anzündete, was immer eine Störung seines behaglichen Gleichgewichtes war.
Unbeirrt fuhr ich fort: »Aus der grausigen Sphinx zu Theben, die mit Riesenwollust alles vernichtete, was das Leben des Menschen nicht erschöpfen konnte, ist das Geschöpf mit langen Haaren und kurzem Sinn geworden – der komplizierte Apparat, den wir Frau nennen. Der Tierkörper hat sich in einen weißen Leib verwandelt, aus den Tatzen sind weiche Sammetpfötchen geworden. Nur der Weibskopf ist übrig geblieben, mit seinen unzähligen Gedankenkanälen, seinen hundert Ohren und seinen hundert Augen, die alles hören und sehen, woran wir Männer nicht denken; mit seinen lechzenden Lippen, mit seinem sechsten Sinn, den ich Geschmeidigkeit nennen möchte. Das sechste G! Überall windet sie sich durch, wozu der Mann zu plump ist oder auch zu dumm. Und ist sie glücklich durchgeschlüpft, dann reckt sie sich und zeigt uns lachend die Zähne, als wollte sie sagen: ›Sieh her, das bin ich, – das habe ich fertig bekommen, mit meiner Grazie, mit meiner Klugheit, mit meiner Unwiderstehlichkeit, mit meinem schwellenden Körper, den ich zusammenpressen kann, um mich erst zu ducken und dann als Siegerin zu triumphieren. Bin ich nicht die Stärkere?«
Schopp wollte mich unterbrechen, ich aber fuhr fort: »Auch ein Rätsel, aber ein niedliches, – schon mehr Knackmandel. Trotzdem können wir Männer uns immer noch die Zähne daran ausbeißen.«
Endlich kam er zu Worte. »Allmählich verstehe ich Ihre Verfassung, lieber Freund, aber da muß ich doch sagen – Sie haben sich Ihr Gleichnis nach Ihrem Geschmack zurechtgelegt. Die alten ägyptischen Sphinxe zeigten gewöhnlich Männerköpfe. Soweit mir die Sache noch erinnerlich ist.«
»Was wollen Sie damit sagen?« fragte ich etwas verblüfft.
»Das soll heißen, lieber Freund, daß Sie mir augenblicklich ebenfalls wie ein großes Geheimnis vorkommen. Und darüber möchte ich gerade mit Ihnen reden!«