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I.

Seit zehn Minuten war ich gestorben. Trotzdem sah und hörte ich alles, was um mich vorging. Es war jener seltsame Zustand des Alpdrückens, wo man im Halbschlummer zu ersticken vermeint, laut um Hilfe rufen möchte und doch nicht die Kraft findet, dem Organismus irgendwelches Leben abzugewinnen. Und dieser Zustand war umso fürchterlicher, als er minutenlang anhielt – Minuten, die mir zur Ewigkeit wurden, bis ich, gefühllos für die Außenwelt, da lag und nur die schreckliche Gewißheit hatte, mit wachen Sinnen nicht mehr zu sein.

Ich wollte mich bewegen, – es gelang mir nicht; ich wollte den Fuß erheben, – ich vermochte es nicht; dann die Hand, – dasselbe fruchtlose Bemühen. Mit aller Kraft wollte ich dem Kopfe eine Bewegung geben, – dieselbe bleierne Schwere, die mich gefesselt auf meinem Lager hielt. Und je lebloser meine Glieder waren, um so aufgeregter wurde mein Bewußtsein. Es war der Verzweiflungskampf des Geistes mit dem Körper, der Seele mit dem Leib. Die Seele wollte sprechen, der Geist wollte verkünden, aber die rohe Kraft des Fleisches zerstörte ihre feinen Saiten und unterdrückte den leisesten Klang.

Die Erde triumphierte über den Himmel und zog alles Schwere an, das von oben herabkam, um sich dem Staube zu vermählen.

So verglich ich meinen Zustand, der meiner Phantasie unbegrenzte Weiten gab, trotzdem ich in einem kleinen, halbdunklen Raume lag, gegen dessen niedrige Decke ich fortwährend starrte. Rechts stand das Bett meiner Frau, getrennt von dem meinigen, so daß sich in dem Zwischenraum bequem ein Mensch bewegen konnte.

»Schläft sie noch?« war mein Gedanke, »Weshalb liegt sie denn heute gerade so fest, wo ein Zuruf von ihr tausend Wonnen für mich wäre?«

Ich lauschte gespannt. Kein Atemzug wurde hörbar. Aber vielleicht täuschte mich mein Ohr, denn sie hatte stets einen leisen Schlaf. Trost kam über mich: sie wird sich erheben, meinen Zustand erkennen, an mir rütteln und mir das blöde glotzende Tier von der Brust reißen, dessen Last mir die Kehle zuschnürte. Dann werde ich einen befreienden Atemzug tun, sie jubelnd zu mir niederziehen und heilig geloben, nicht mehr die halbe Nacht in der Studierstube zuzubringen, brütend über den Geheimnissen der Hypnose. Auch ein Arzt war ein Mensch, der sich hüten sollte, über die Kraft hinauszugehen.

Als das unheimliche Schweigen anhielt, kam mir die Überzeugung von meiner Verlassenheit. So klar mein Bewußtsein war, so sehr glaubte ich Ursache zu haben, daran zu zweifeln. Träumte ich, oder wachte ich? Was war mit mir geschehen? Weshalb sah ich die Decke dort oben, weshalb brach sich das Licht in meinen Augen, weshalb wußte ich genau, wo ich mich befand? Aber weshalb konnte ich nicht rufen, mich nicht bewegen, durch nichts betätigen, daß das Leben in mir gewaltsam nach Ausdruck ringe?

Wir bewohnten ein altes Haus im Zentrum Berlins. Seit zehn Jahren betrieb ich hier meine Praxis, die ich von einem alten Sanitätsrat übernommen hatte, nachdem ich der Mann seiner Nichte geworden war. Unser Schlafzimmer war niedrig und ging nach einem schmalen Hof hinaus, in dem während des ganzen Tages das Licht dämmerig wie in einem Abgrund lag. Um die hinteren Zimmer heller zu machen, hatte man unter den Fenstern sogenannte Lichtfänger angebracht, große, blitzende Bleche, die wie Scheinwerfer auf das Halbdunkel wirkten.

Oben an der Decke spiegelte sich viereckig der Schein; und in ihm leuchtete gerade über mir der braune Schnörkel der gemalten Verzierung. Auf ihm hatte mein Blick immer zuerst geruht, wenn ich des Morgens erwacht war und mich behaglich reckte. Aus seinen Linien hatte ich mir mit der Zeit einen phantastischen Kopf gebildet, der sich meinem Gedächtnis so eingeprägt hatte, daß ich imstande gewesen wäre, ihn aus der Phantasie zu zeichnen.

Der Anblick dieses Schnörkels wurde mir zur Hoffnung. Denn sah ich ihn jetzt wie seit zehn Jahren, so waren meine Sinne noch gesund, pulsierte mein Herz noch, war das Reich des Todes nur ein Schattenspiel, heraufbeschworen durch meine körperliche Lähmung. Und im Geiste sah ich nun das ganze Zimmer vor mir: den großen, breiten Eichenschrank, der meine Garderobe enthielt, die mächtige Waschtoilette neben dem Fenster, die rosa Ampel in der Mitte der Decke, die schmale Tapetentür, die zum Ankleideraum meiner Frau führte und die des Nachts immer halb geöffnet war, weil Irma stets Angst vor Dieben hatte. Ich sah den alten Stahlstich an der Wand, Venus von Amoretten gehuldigt – eines der vielen Bilder aus dem Nachlaß des Sanitätsrats, die zu Dutzenden in der Wohnung umherhingen. Jetzt hörte ich auch deutlich das Ticken meiner goldenen Uhr auf dem Nachttisch, das mir zum vertrauten Geräusch in der Stille des Zimmers geworden war.

Es war zu Beginn des Sommers. Wir schliefen stets bei offenem Fenster. Und als ich einen frischen Lufthauch verspürte, der sich über die Dächer in den Hof verirrt hatte, durchschauerte mich der freudige Gedanke: »Du lebst, du lebst!«

Entferntes Glockengeläute drang ins Zimmer. Es war Sonntag, man läutete also zur Vormittagskirche. Dann wurde die Stimme meines Jungen laut. Er johlte und pfiff vergnügt, so daß es über den Hof schallte. Gleich darauf sagte meine Frau: »Ruhig! Vater schläft noch.« Das Pfeifen verstummte.

Dann rief die alte Köchin nach der Herrin; der Papagei kreischte und von irgendwo aus der Tiefe des Hofes drang eine fremde Stimme empor. Alles das vernahm ich wie in sonderbaren Schallwellen: deutlich und vernehmbar, aber doch wie aus der Ferne kommend, etwa wie durch ein langes Gewölbe, in dem das Echo jeden Laut an den Wänden leitet.

Klein Bewußtsein bekam einen Stoß; ich wurde über meinen Zustand wieder schwankend, der Geist wollte die Fesseln sprengen, – er hämmerte mit der Macht von tausend Schläfenkräften, aber dunkle, ungeahnte Mächte hielten ihn in ihrem Bann.

Kleine Phantasie arbeitete fortwährend, aber wie gedämpft, als wären ihre Schwingen durch Zauber gebrochen. Ich war selbst Arzt und wußte mir nicht zu helfen; ich fand nicht einmal eine Erklärung für meinen Zustand. Irgendein Wort der Erkenntnis schwebte mir auf der Zunge, aber meine Sippen waren verstummt wie im Grabe.

Plötzlich hörte ich deutlich die Tür öffnen, und ebenso leise wieder schließen, dann ein Kleid bedächtig an mir vorüberrauschen, dem Ankleidezimmer zu. Es war meine Frau, die vorbeihuschte, weil sie den Schlafenden nicht stören wollte, hinter der Tapetentür konnte sie sich aber doch nicht enthalten, leise zu trällern. Daran erkannte ich sie. Sie mußte heute besonders gut aufgelegt sein, denn singen war nicht gerade das Zeichen ihrer heiteren Seite.

Ich wollte seufzen, aber kein Gott gab mir meine alte Stimme.

»Weshalb singt sie gerade heute?« war mein Gedanke. »Sieht sie denn nicht, daß ich hier hilflos liege, gestorben bei lebendigem Leibe.«

Als sie wieder zurückkehrte, bannte sie ihre Schritte vor meinem Lager. Unheilvolle Ahnung mußte in ihr aufgestiegen sein. Sie beugte sich lautlos über mich, rief mehrmals meinen Namen, rüttelte an mir und rief aufs neue: »Schläfst du? Männe, was ist dir denn?« Dann legte sie das Ohr dicht an meinen Körper, lauschte mit angehaltenem Atem und starrte in meine offenen Augen. Noch nie hatte ich einen ähnlichen Ausdruck in ihrem Gesicht gesehen, das mir wie fremd erschien. Ihre sonst schönen Züge waren plötzlich entstellt. Über es war nicht die Entstellung durch Schmerz allein, die aus ihnen sprach. Es war mir, als huschte blitzartig ein Freudenstrahl über ihr Antlitz, ungefähr gleich der Sonne, die sekundenlang mit ihrem Glanze eine dunkle Wolke durchbricht.

Dann, während sie fortwährend immer dasselbe wiederholte und an mir rüttelte, wuchs die Meduse aus ihrem Gesicht, vielleicht war es nur krankhafte Einbildung in meinem gefesselten Gemüt, vielleicht eine fieberhafte Überreizung meines Sehnervs, auf den im Augenblick alle Sinne übergingen – ich verspürte etwas Kaltes, Grausames, das diesen grauen Augen plötzlich entströmte.

»Aber, Männe, so verstell' dich doch nicht! Jag' mir doch keinen Schrecken ein. Starr mich doch nicht so an. Mein Gott, was soll ich nur tun!«

Ihre Stimme wurde weinerlich, während sie vor meinem Lager auf- und abging.

»Hans, komm' doch mal schnell her,« rief sie durch das offene Fenster. »Ganz schnell!«

Mein Junge stand vor meinem Bette. Ich verspürte seine Nähe, ohne ihn zu sehen. Ich malte mir sein blasses Gesicht aus mit den großen, braunen Augen, die immer so scheu blickten, wenn er in mein Studierzimmer trat und die medizinischen Instrumente betrachtete. Er liebte mich herzlich, und seine größte Freude war, mit Indianergeheul auf meinem Knie zu reiten. was wird er sagen? Werde ich in seinen Augen etwas anderes lesen als in denen der Mutter?

»Sieh doch nur, was mit Vatern ist!«

»Was denn nur, Muttchen?«

»Er liegt wie leblos da!«

»Aber, Muttchen, er schläft doch noch.«

»Nein, nein, nein! Er schläft nicht.«

»Aber, du hast es doch vorhin gesagt, Muttchen.«

»So geh doch noch einmal dicht heran, sieh ihm in die Augen. Er bewegt sich nicht mehr. Er sieht ja auch ganz fahl aus.«

»Muttchen, ich fürchte mich.«

Ich hätte Welten von mir wälzen mögen, um ihm seine Furcht zu nehmen. Aber stumm wie ein Stein mußte ich alles über mich ergehen lassen. Ich wußte: mein Schicksal war besiegelt, wenn Kinder sich fürchten, so hatten sie ihren Grund.

Eine Pause trat ein. Ich sah Irmas Gesicht noch einmal wie einen flüchtigen Schatten vor meinen unbeweglichen Augen, dann kam ein Aufschrei über ihre Lippen, dem die Worte folgten: »Er ist tot.« Lautes weinen erschallte, aus dem das helle Wimmern meines Kindes mir durch die Ohren in das Herz ging. Es hörte sich zaghaft und abgebrochen an, gleichsam stoßweise hervorquellend, wie immer bei Kindern, die sich über das furchtbare noch nicht ganz klar sind.

»Franz, was hast du uns getan?«

Es war das erstemal, daß sie meinen Namen nannte, den sie nie schön gefunden hatte. Sie gebrauchte deshalb mit Vorliebe die Anrede »Männe«, was ich meinerseits stets für philisterhaft und gewöhnlich erklärte, woran sie sich aber niemals kehrte.

»Komm', mein Kind, komm'; knie nieder und bete mit mir. Du sollst immer so brav und gut bleiben, wie er im Leben war. Bete das zum lieben Gott.«

Keine Träne drang in meine Augen, trotzdem beider Schluchzen meine Seele erschütterte. Aber die Seele war jenes unsichtbare Ding, das selbst die Ärzte weder mit der Sonde noch mit dem Seziermesser finden, das also nach außen hin nicht Zeugnis von einem innern Leben geben konnte.

Im Geiste segnete ich sie beide für diese Liebe, die bis übers Grab hinaus währen sollte.

Der Wind draußen mußte sich gedreht haben, denn das Einläuten zum Gottesdienst drang lauter und näher ins Zimmer. Jetzt hub die große Glocke an, und ihr dumpfer Klang mischte sich mit dem Schluchzen und weinen zu meinen Füßen. Mir schien alles harmonisch abgestimmt – wie eine große Vorbereitung zur ewigen Versöhnung mit dem Schicksal dieser Erbe.


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