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Die Schulferien hatten begonnen, und wir dachten noch nicht ans Reisen. Ich sprach nicht darüber, und Irma noch weniger. Es war wie eine gewisse innere Übereinstimmung, daß wir diesmal keine besondere Eile hätten; es war, als stände etwas Warnendes zwischen uns, das wir beide empfanden, ohne es uns zu gestehen.
Als Sophie beim gemeinsamen Essen die Frage vorsichtig anschnitt, indem sie darauf hinwies, daß die Züge auf allen Bahnhöfen gestürmt würden, sagte meine Frau leichthin: »Mir liegt diesmal gar nichts daran. Am liebsten würde ich einmal in Berlin bleiben.«
»Das geht doch aber nicht der Leute wegen, Frau Doktor,« warf das »zerquetschte Fräulein« ein.
»Neulich haben Sie doch ganz anders geredet,« gab Irma etwas aufgebracht zurück.
Sophie zuckte leicht mit den Achseln. Es fiel mir auf, daß sie sich in der letzten Zeit etwas viel herausnahm, was sie sich sonst niemals erlaubt hatte. Schon mehrmals hatte ich gemerkt, daß Irma in verhaltene Erregung darüber geraten war. Diese Art des Benehmens war durchaus nicht verletzend, auch nicht herausfordernd, äußerte sich aber in der Sucht zu einem gewissen Widerspruch, und zwar in meiner Gegenwart, was anscheinend meine Frau am meisten ärgerte. Zuerst hatte ich nicht darauf geachtet, weil ich es mit einem Wechsel in der Stimmung dieses verwöhnten Geschöpfes zusammenbrachte. Dann aber, als sich das öfters wiederholte, machte ich mir darüber meine Gedanken.
»Sie wird ihren Grund dazu haben,« dachte ich. »Sie weiß etwas, was sie eigentlich nicht wissen sollte, mir gegenüber verschließt, meiner Frau aber gern zu kosten geben möchte. Vielleicht ist es auch nur eine Ahnung, die aber bestimmte Form genug hat, um dieses Spiel zu wagen.«
Ich wollte eine Prüfung darüber anstellen, und so sagte ich noch an demselben Tage zu meiner Frau: »Mir scheint's, daß das Mädchen sich neuerdings viel herausnimmt, vielleicht paßt es ihr nicht mehr bei uns. Laß sie doch gehen. Ich habe Karl ja auch fortgeschickt.«
Sofort wurde sie lebhaft. »Ach, das redet sie alles so hin. Man muß es nicht so genau nehmen von ihr. Ein kleiner Dämpfer hilft da schon.«
Es war immer die alte Rede: sie könne sich schwer von ihr trennen; wer weiß, was sie dann für eine fände? Diesmal merkte ich aber doch, daß nicht mehr die alte Aufrichtigkeit hinter den Worten stecke, sondern ein gewisser Zwang, dem sie sich fügen müsse. »Ja, das hat man davon, wenn man sich mit seinen Dienstboten zu weit einläßt, und ein Dienstbote ist sie doch,« sagte ich kurz, indem ich das »einläßt« besonders betonte. Wenn ich früher daraus hinwies, war sie gleich ausgebracht, diesmal aber blieb sie still, seufzte nur leicht und wandte sich ab, wie es mir schien, in gedrückter Laune. Dann aber setzte sie sich doch schwach zur Wehr: »Eingelassen habe ich mich doch gar nicht mit ihr. Wie meinst du das übrigens?«
»Das mußt du doch am besten wissen,« sagte ich herausfordernd, immer ein bestimmtes Ziel verfolgend. »Vielleicht hast du ihr zu viel Vertrauen geschenkt, in irgendeiner Sache.«
Ihre Züge blieben ruhig. Mir schien es aber, als kämpfte sie innerlich, denn sie schwieg sich eine Weile aus. Dann aber erwiderte sie: »Du tust ja gerade, als wenn ich Geheimnisse hätte.«
»Möglich ist doch alles,« preßte ich hervor.
»Dann weise es mir doch einmal nach.«
Sie schwieg und ich schwieg, weil dieser schlaue Überfall mir zu plötzlich kam. Sie hatte sich wieder an ihren Nähkorb gesetzt. Als ich sie jetzt musterte, ohne daß sie es bemerkte, entdeckte ich wieder jenen grausamen Zug, der mir in meinem starren Zustande so fremd und häßlich vorgekommen war.
Ich rang mit mir, ich suchte nach irgendeiner Waffe, mit der ich ihr hätte begegnen können, und wenn es auch nur ein spitzer Pfeil gewesen wäre, der sie geritzt hätte. Ich hätte sie am liebsten anschreien, ihr meinen ganzen Verdacht ins Gesicht schleudern mögen, ihr sagen, daß ich sie für eine Ehebrecherin halte, für eine nichtswürdige Heuchlerin, die mich betrogen habe, und in der Stunde, wo sie mich für tot hielt, ihr schwarzes Gewand nur als den Ausdruck innerer Freude angelegt habe, aber ich fand den Anfang nicht zu diesem Wortbau meiner Entrüstung, der mir in Gedanken vorschwebte.
Entweder war sie ein unschuldiges Lamm oder ein Teufel, entweder sah ich in ihr nur ein Gebilde meines Wahns, oder meine gesunden Sinne verloren die Kraft, sobald sie durch ihr Verhalten über meine Ohnmacht triumphierte.
Ich suchte nach einer Bezeichnung für sie, die nicht roh gewesen wäre, in der aber alle meine Empfindungen gelegen hätten. Ein sonderbarer Einfall kam mir. Vor ihr lag ein Stück schwarzen Flors, der wohl von dem Hute stammte, den sie nun nicht benutzen konnte. Ich nahm es und sagte gebieterisch: »Komm, ich will dir etwas zeigen.«
Neugierig und verblüfft folgte sie mir in mein Arbeitszimmer, hier legte ich das Stück Flor über den Kopf der Sphinx, so daß es wie ein Schleier herabhing, und sagte: »Weißt du, was das ist?« Und als sie mich erstaunt und fragend anblickte, fuhr ich fort: »Das bist du. Eine Sphinx in Trauer.«
Sie verzog die Schultern. »Ich verstehe dich nicht.« Ein verzerrtes Lächeln verunschönte ihren Mund.
»Ja, das bist du,« sprach ich weiter. »Sieh dich in diesem Spiegel. Dann wirst du ein schwarzes Rätsel finden, das seit acht Tagen mir zum Schrecken herumläuft, mir Entsetzen einflößt und mich bis aufs Blut peinigt, und vielleicht noch innere Wollust dabei empfindet. Du, die Mutter meines Kindes!«
»Hör' auf!« schrie sie und wich zurück, als hätte sie wirklich ein abschreckendes Bild an der Wand gesehen.
Ich faßte das als ein halbes Geständnis auf und fühlte mich nun schon wieder als Sieger. »Nein, ich will nicht aufhören,« gab ich ebenfalls schreiend zurück. »Du weißt ganz genau, was ich meine, du verschanzt dich nur hinter deiner Verstellung. Weißt du noch, wie ich dich zum erstenmal bei deinem Onkel sah? Damals gingst du immer lilienweiß gekleidet, unschuldig wie der frischgefallene Schnee. Und das gefiel mir so, denn das kleidete dich. Und als du das wußtest, trugst du mit Vorliebe nur weiße Kleider, dein Onkel lachte darüber und nannte das einen Sport meiner Gefühle. Und am heiligen Weihnachtsabend, als wir uns still verlobten, trugst du wieder ein weißes Kleid. Wir waren allein beim brennenden Baum, denn der Alte war ganz plötzlich zu einem Kranken gerufen worden. Und ich faßte deine Hände, sah dir in die Augen und fragte, ob dein Herz so rein sei, wie dein Kleid. Wenn nicht, dann wollten wir uns meiden und gute Freunde bleiben. Unterbrich mich nicht,« schrie ich aufs neue. »Ich vergesse nichts, es steht mir alles so genau vor Augen, als wenn es gestern erst passiert wäre. Ich wußte, daß ich kein schöner Mann war, ich wußte auch, daß dein Onkel alles für dich allein gespart hatte – daß seine Verhältnisse sich ändern würden, das ahnte noch keiner von uns. – Und deshalb fragte ich dich, denn ich hatte immer die Empfindung, daß du unter einem gewissen Einfluß des Sanitätsrats nicht nein zu mir sagen wolltest. Denn alles, was du hattest, kam ja von ihm.«
»Aber ich bin doch deine Frau geworden, was willst du denn eigentlich von mir?« unterbrach sie mich.
Ich sah ihr an, daß ich ihr Furcht einflößte. »Was ich will?« schrie ich weiter. »Das fragst du noch? Wer sollte es besser wissen, als du?«
Ein Achselzucken war die stumme Antwort.
»Um wen trauerst du denn noch?« sprach ich wie ein Unsinniger weiter.
»Ich trauere doch nicht mehr. Ich will das schwarze Kleid auftragen, wie ich's dir schon gesagt habe.«
Zitternd war sie immer weiter von mir zurückgewichen, als befürchtete sie das ärgste von mir.
»Ausreden! Du trauerst, ich weiß es genau, aber nicht um mich. Natürlich! Ich lebe ja auch. Gegen deinen willen. Du trauerst um dein verlorenes Glück – um den andern, um deinen Geliebten, der hier war, während ich wie ein Toter hinten lag; der sich schon in meiner Rolle fühlte, der dich umarmte, der dich küßte, mit dem du mich schon seit langem betrogen hast. Dirne! – – Deine Seele hat sich gewandelt. Früher war sie weiß, und nun ist sie schwarz wie dein Gewand. Gestehe mir jetzt alles!«
Ein Wachsbild aus schwarzer Umrahmung starrte mir entgegen. Sie wollte fliehen, ich aber umspannte ihr Handgelenk und zog sie wieder bis mitten ins Zimmer. Meine Brutalität hatte keine Grenzen mehr. Schmerzvoll stöhnte sie auf. Sie würde um Hilfe schreien, stieß sie hervor. Ich aber kehrte mich nicht daran, sondern zwang sie auf die Knie.
»Gestehe jetzt!« herrschte ich sie wieder an. »Wie heißt er, was ist er? Wie lange kennt ihr euch schon? Wo habt ihr euch immer getroffen? Hast du ihn früher schon gekannt? heraus mit der Sprache – ich will alles wissen.«
»Ich weiß nicht, was du willst, ich kann nichts gestehen, ich weiß von nichts,« kam es weinerlich über ihre Lippen.
»Lüge nicht. Ich will Wahrheit haben, jetzt oder nie. Wie heißt er? Sprich oder ich töte dich!«
»So tue es doch, – mir wäre dann wohler.« Sie rührte sich nicht, wie ein gebrochenes Weib lag sie vor mir, das Haupt gesenkt, die Haare aufgelöst, in Tränen gebadet. Und so verharrte sie auch noch, als ich sie bereits losgelassen hatte. Aus dem Weinen wurde ein leises Wimmern, das wie gebrochene Klagetöne durch das Zimmer schallte.
Und als ich sie so vor mir liegen sah – das Weib, das ich geliebt hatte und noch liebte, mit dem ich selige Stunden verlebt hatte, – da fiel mir ein Bild ein, das ich irgendwo gesehen hatte, und das die Ehebrecherin vor Christo hieß. Ich war kein Christus, aber ich war doch ein Mensch, der menschlich fühlte und menschlich dachte. Mein Jähzorn wich, eine gewisse Rührung beschlich mich, und ich empfand das verlangen, durch ein paar freundliche Worte einzulenken, sie emporzuheben zu ihrer alten Würde, sie in meine Arme zu schließen, und in Güte das zu erreichen, was mir mit Gewalt nicht gelang.
Da erhob sie sich langsam, strich sich das Handgelenk und wankte zur Tür. Dort drehte sie sich um, reckte sich empor und sagte leise, aber wie drohend, noch immer unter Tränen: »Ich werde Doktor Schopp fragen, was eigentlich mit dir ist, daß du mich so behandelst. Verstehst du?!«
Der Zauber war vorüber, die Türe klappte, und ich war wieder allein mit meinen unbeschreiblichen Gefühlen. Meine Kraft war gebrochen durch die Anklage, die sie mir wieder entgegenschleuderte. Ich wußte, was sie damit bezweckte. An meinem Verstande zu zweifeln, die unschuldig Gemißhandelte zu spielen und mich immer aufs neue aus meinen Traumweg zu weisen. Aber ich war nun in die Wahrheit zurückgekehrt, hörte wie mit Posaunentönen die Worte ihres Frevels in meinem Ohr erwachen.
Die Bestätigung meines Verdachtes erhielt neue Nahrung durch das Plappern meines Jungen. Es war mir jetzt Bedürfnis, mich mehr denn je mit ihm zu beschäftigen, gleichsam, als sollte er mir nun doppelt die verlorene Mutter ersetzen. Denn als verloren für mich erschien sie mir, trotzdem es Stunden bei mir gab, wo ich es lächerlich fand, ein Urteil über sie zu sprechen, ohne den Beweis aus Fleisch und Blut zu haben. Dann war es mir manchmal, als kämpfte ich gegen einen Schatten, der plötzlich aufgetaucht war, um ebenso schnell wieder zu verschwinden. Aber dieser Schatten war so unheimlich, daß er in meiner Phantasie immer aufs neue entstand und jedesmal riesengroß auftauchte, sobald ich mein Weib erblickte.
Wir hatten sozusagen eine Art inneren Waffenstillstand geschlossen, von dem wir wohl wußten, daß er nur eine kurz bemessene Zeit anhalten würde, um den offenen Krieg wieder aufflammen zu lassen. Wir gingen uns aus dem Wege, ließen die Dienstboten nichts merken und sprachen beim Alleinsein nur das Notwendigste, um den Zündstoff der Gefühle gehörig in uns ansammeln zu lassen. – –
Es schien ein verregneter Sommer werden zu wollen. »Sobald es schön wird, wollen wir fahren,« hatte ich zu Hans gesagt, der mir mit seinem »Tirol« fortwährend in den Ohren lag.
Nun stand der Junge stundenlang am Fenster, blickte in den Regendunst hinaus, der den Juli zu einem frühen Herbstmonat machte, und fragte fortwährend, wann es denn wohl aufhören würde.
»Sag' mal, Muttchen,« unterbrach er sein Selbstgeplauder einmal, »wenn wir nun nach Tirol gingen, würde dann Onkel auch schon da sein?«
Das geschah gerade, als ich durchs Wohnzimmer ging, »welcher Onkel denn?« fragte ich verwundert.
»Na, Muttchen sagte es doch, wenn wir nach dort reisen würden, käme auch Onkel mit.«
Meine Frau saß am andern Fenster und las. Keinen Augenblick war sie verlegen. »Ich redete ihm das ein, weil er sagte, er würde sich in den Bergen ohne dich fürchten,« warf sie ein. »Deswegen erfand ich eben den Onkel.«
»Ist es so?« fragte ich ihn und strich sein Haar aus der Stirn.
Er nickte mit einem freudigen Grinsen. »In den Bergen kann doch der schwarze Mann kommen, Väterchen.«
»Kinder müssen doch immer beruhigt werden,« sagte sie wieder kurz und las ruhig weiter. Große Gleichgültigkeit sprach aus ihr, was ich auch ihrem ganzen Wesen anmerkte. Es schien, als hätte sie sich in alles gefügt, als könnte ihr nichts Schlimmes mehr passieren.
Meine innere Stimme sagte mir, daß sie lüge, daß sie den »Onkel« nicht erfunden habe, daß sie denjenigen damit gemeint habe, der zwischen uns stand, den sie nun aber ins Land der Märchen versetzt sehen wollte, dessen Stimme ich aber vernommen hatte.
Ich schickte den Jungen hinaus, um mit ihr allein zu sein. Es reizte mich, ihr irgendeine Falle zu stellen. Aber sofort erhob sie sich und verließ mit ihm zusammen das Zimmer. Sie floh mich, weil sie mich fürchtete. Das Blut stieg mir zu Kopfe, ich wollte ihr nach, aber das Kind war ihr Schutzengel, der sie vor allem bewahrte. Und ich sagte mir, daß sie sich von nun an hinter ihm verschanzen werde.