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Es war schon stockdunkel, als sie endlich den Strand wieder erreichten. Das Boot fanden sie leicht, denn die ›Stella‹, die einige hundert Meter vom Strand entfernt lag, hatte sämtliche Deckslampen brennen und erhellte damit die ganze Bucht.
»Der Räuberkahn hat festlich illuminiert, damit seine Opfer auch wieder zurückfinden«, ironisierte Marion und kletterte in das Boot. Leise knirschte und mahlte es unter dem Kiel; das Boot machte eine leichte Wendung und strebte in langsamer Fahrt der Jacht zu. Oben an der Reling stand eine lange, dunkle Gestalt und spähte zu dem nahenden Boot hinüber.
»Gottseidank, daß Sie kommen!« rief Kapitän Ehlers erleichtert. »Gerade wollte ich hinüberfahren, um Sie zu suchen. Wie konnten Sie nur so lange fortbleiben?« Ohne eine Antwort abzuwarten, lief er das Fallreep hinunter und befestigte die Leine, die ihm Marion zuwarf. Zuvorkommend half er Marion aus dem Boot; aber Christel wies seine Hand, die er ihr entgegenstreckte, zurück. »Danke«, sagte sie kurz, »es geht schon. Gehen Sie nur voran, ich komme schon nach!«
Betroffen über den unfreundlichen Ton, zog er seine Hand zurück und kletterte das Fallreep hinauf.
»Wir sind sehr müde«, sagte Marion, als sie oben an Deck standen, »und gehen gleich zu Bett. Gute Nacht!« Sie nahm Christel an der Hand und zog sie mit sich fort.
»Gute Nacht!« rief der Kapitän hinter ihnen her. Kopfschüttelnd ging er in seine Kajüte. Was mochten die beiden nur haben? Sie waren so kurz und so unfreundlich. Ob sie sich vielleicht gekränkt fühlten, daß er ihnen wegen ihres späten Kommens Vorwürfe gemacht hatte?« –
In Christels Kajüte saßen die beiden Mädchen zusammen und beratschlagten. »Wir müssen uns mehr zusammennehmen, wenn wir etwas erreichen wollen«, sagte Marion »Wenn der Kapitän erst Verdacht schöpft, werden wir auf Schritt und Tritt beobachtet, vielleicht sogar eingesperrt. Dann haben wir keine Aussicht mehr, die Bande zu überlisten.«
»Du hast recht, Marion, ich werde mir wirklich mehr Mühe geben. Es ist eben noch alles so frisch, und es fällt mir schwer, mich zu verstellen. Ach Marion, wie wird das alles noch einmal enden!« Verzweifelt stützte sie den Kopf in beide Hände.
»Weißt du«, fuhr sie nach einer kurzen Pause fort, »ich habe direkt Angst, allein zu sein; es ist mir alles so unheimlich hier.«
»Christel, ich habe eine Idee!« rief Marion eifrig. »Ich ziehe einfach um. Ich wohne mit dir zusammen in dieser Kajüte. Das zweischläfrige Bett ist groß genug, und meine Sachen werden auch noch Platz finden. Morgen packen wir um; heute machen wir nur noch eins: Wir gehen zu Bett und schlafen uns tüchtig aus. – Das war ein bißchen viel auf einmal«, seufzte sie. »In meinem Kopf dreht sich alles wie eine Mühle. Ich gehe jetzt in meine Kajüte und ziehe mich um. Du machst gleich, daß du ins Bett kommst; in fünf Minuten bin ich wieder da.«
Kurze Zeit später lagen die beiden Mädchen dicht aneinandergekuschelt in ihrem Bett und lauschten auf das leise Klatschen und Gluckern der Wellen an der Bordwand und das dumpfe Rauschen und Donnern der Brandung am nahen Gestade der Insel, bis die Müdigkeit sie übermannte und sie tief und fest einschliefen.
Auch an Deck war alles still geworden. Die Decksbeleuchtung war ausgeschaltet; außer den Positionslampen brannte nur eine kleine Lampe auf dem Vorschiff, die ein spärliches Licht verbreitete. Der übrige Teil des Schiffes lag in völlige Dunkelheit gehüllt. Das Rauschen der Brandung und der monotone Schritt der Wache, die auf dem Vorschiff auf und ab marschierte, waren das einzige Geräusch, das die Stille der Nacht unterbrach.
Eine Stunde mochte vergangen sein, da regte es sich hinter den Klippen der Bucht. Ein schwarzer Schatten huschte hervor, die gebückte silhouettenhafte Gestalt eines Mannes wurde sichtbar. Vorsichtig schlich er sich zum Strande hinunter, schmiegte sich dicht an die Felsen, immer bemüht, sich gegen die Sicht von der Jacht aus zu decken.
Hinter dem letzten Felsen, der ihn noch vom Ufer trennte, blieb der Mann stehen und beobachtete lange und sorgfältig die Jacht. Drüben war alles still und ruhig. Ab und zu tauchte der Posten in dem Lichtkreis der Lampe auf, machte wieder kehrt und verschwand in der Dunkelheit.
»Gut!« murmelte der Mann hinter dem Felsen, »die Gelegenheit ist günstig.« Er wartete, bis der Posten ihm den Rücken zukehrte, dann ließ er einen leisen Pfiff ertönen.
Da wurde es hinter den Felsen lebendig. Von allen Seiten tauchten dunkle Gestalten hinter den Felsen auf. Gegen zwanzig Mann versammelten sich am Ufer. Eine kurze, halblaute Beratung folgte, dann versteckten sich die Männer wieder hinter den Felsen, die Jacht scharf im Auge behaltend. Nur sechs von ihnen blieben zurück. Ihre Jacken und Schuhe legten sie ab. Lautlos ließen sie sich in das Wasser gleiten und schwammen vorsichtig auf die Jacht zu. –
Die Nacht war womöglich noch dunkler geworden, kein Stern war zu sehen. Der Mond hatte sich hinter finsterem Gewölk verkrochen. Langsam fing es an zu regnen. Der Posten murmelte halblaute Verwünschungen vor sich hin: »So ein Dreckwetter! Nicht genug damit, daß man sich die halbe Nacht um die Ohren schlagen muß, nun wird man auch noch naß bis auf die Knochen. Der Ölmantel liegt im Logis, da liegt er gut! Wie lange dauert denn die Wache noch? – Teufel! Noch eine ganze Stunde. Das reicht hin, um durchgeweicht zu werden. Überhaupt ein Unfug, das Wachestehen! Aufpassen, daß die Ratten und Mäuse nicht vom Schiff auf die Insel übermachen. Dann wären wenigstens ein paar lebende Kreaturen auf dem öden, elenden Eiland. Wird Zeit, daß wir wieder … ha!« … ein eisiger Schreck durchfuhr ihn. Eine Riesenfaust packte ihn im Genick. Gleichzeitig wurde er von hinten umklammert, daß seine Arme wie von einem Schraubstock an seinen Körper gepreßt wurden. Ehe er einen Schrei hervorstoßen konnte, legte sich ihm eine schwere Hand vor seinen Mund. Wenige Augenblicke später war er gefesselt und geknebelt, daß er sich nicht zu rühren vermochte.
Erschreckt sah er auf die beiden Männer, die ihn überrumpelt hatten. Achtlos ließen sie den Posten liegen und beugten sich über die Reling. Einige leise geflüsterte Worte; vier dunkle Köpfe tauchten aus dem Wasser auf. Zwei Mann kletterten in die Motorbarkasse, die unten am Fallreep vertäut lag, die beiden andern kamen an Deck. Die Beratung dauerte nicht lange. Einer der vier Männer stellte sich am Fallreep auf, ein anderer ergriff Gewehr, Mütze und Patronentasche des überrumpelten Postens und begann, nachdem er sich auch noch die Schuhe des Postens angeeignet hatte, gleichmäßig auf und ab zu marschieren. Sorgfältig vermied er es, in den Lichtschein der Lampe zu geraten, um nicht vorzeitig erkannt zu werden. Die beiden letzten schlichen sich leise davon.
Sie waren kaum zehn Schritt gegangen, als sie aus einer halb angelehnten Tür hellen Lichtschein bemerkten. Vorsichtig pirschten sie sich näher heran und spähten durch den Türspalt. Offenbar war dieser Raum die Funkbude. Den Rücken der Tür zugekehrt, saß der Funker in seinem Sessel, hatte die Kopfhörer umgeschnallt und drehte an den Knöpfen seines Empfangsapparates.
Lautlos öffnete sich hinter ihm die Tür; eine schwere Hand legte sich auf seine Schulter. Arglos drehte er sich um und blickte in ein ihm völlig fremdes Gesicht. Erstaunt erhob er sich von seinem Sessel, aber im selben Moment schmetterte der Mann ihm seine geballte Faust zwischen die Augen, daß er halb betäubt umsank. Blitzschnell griff der Mann zu; geräuschlos ließ er den Funker zu Boden gleiten. Wenige Minuten später hatte den Funker das Schicksal des Postens ereilt: Gefesselt und geknebelt saß er in seinem Sessel.
In aller Ruhe begannen die beiden Eindringlinge, die Funkbude zu durchsuchen. In der Jackentasche des Funkers fanden sie eine moderne, großkalibrige Pistole und mehrere Ersatzmagazine Munition. Grinsend wog sie der Fremde in der Hand.
»Prima, prima!« sagte er, »eine feine Bleipuste für zwölf Personen … habe die Ehre, mein Liebling!« schmunzelnd steckte er die Waffe ein. »Was hast du da, Billy, was willst du mit dem Kasten?«
»John«, rief der andere erfreut, »ich habe eine Idee … den Kasten nehmen wir mit.«
»Wozu?« fragte sein Kumpan verständnislos, »was ist das für ein Apparat?«
»Mann, haben wir ein Schwein! Das ist eine tragbare Kurzwellenstation. Wenn wir die in Betrieb setzen können, sind wir aus dem ganzen Dreck raus, und die ›Stella‹ lassen wir auch noch mit hochgehen. Wir müssen sehen, daß wir die Batterie dazu finden.«
Nach einigem Suchen fanden sie auch diese. Leise und vorsichtig schleppten sie die schweren Apparate zum Boot. Schon wollte Billy die Tür zur Funkbude zumachen, als ihm etwas einfiel:
»Wir müssen ihnen den Sender unbrauchbar machen, damit sie keine Hilfe herbeiholen können.«
»Wohl, wohl«, knurrte der andere, »aber wie willst du das machen, das wird doch viel Geräusch verursachen?«
»Ganz einfach«, lachte Billy. »Wir nehmen ihnen die Senderöhren und die Ersatzröhren fort, dann ist die Apparatur unbrauchbar. Also, weg mit den Dingern!«
Sie packten die Röhren in einen großen Karton, legten noch einige schwere Gegenstände und Eisenstücke dazu und ließen das Paket vorsichtig ins Wasser gleiten. Glucksend sank es in die Tiefe. –
Es mochte etwa eine Stunde vergangen sein. Das Boot war mit Lebensmitteln und Waffen, auf die es die Eindringlinge besonders abgesehen hatten, schwer beladen, als der Anführer zum Aufbruch mahnte:
»Jungens, in fünf Minuten wird der Posten abgelöst; wir müssen fort.«
Behutsam drückten sie das Boot von der Jacht ab und warfen den Motor an. Lautlos wie ein Schatten glitten sie an der Bordwand entlang und verschwanden im Dunkel der Nacht.