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Sechstes Kapitel

Der Morgen graute bereits, als Christel erwachte. Sie richtete sich auf und lauschte. Nichts war zu hören als das sanfte Flüstern des Windes und das monotone Geräusch der Brandung. Geschickt knüpfte sie den Zelteingang auf und schlüpfte hinaus. Es war noch so dunkel, daß sie nur die nächste Umgebung zu unterscheiden vermochte. Die Männer lagen noch alle in der Steinhütte und schliefen. Das Feuer war vollkommen heruntergebrannt; nur einige Zweige glühten und schwelten noch unter der schwarzen Asche. Der wachthabende Matrose saß auf einem Stein, hatte den Kopf auf die Knie gelegt und schlief. Der Wind wehte kühl. Sie fror in ihrem dünnen Kleidchen, das manche Spur der gestrigen Kletterpartie zeigte, und schauerte fröstelnd zusammen. Aber sie achtete der Kälte nicht, setzte sich auf ihren Stein und wartete geduldig auf das Aufgehen der Sonne.

Allmählich wurde es heller. Die Gegenstände traten schärfer und deutlicher hervor. Der Himmel im Osten rötete sich. Ein dunkler Punkt, ganz weit draußen im Nordosten, erregte plötzlich ihre Aufmerksamkeit.

Sollte etwa …? Vor Aufregung zitternd sprang sie auf und riß das Glas an die Augen; aber ihre Hände zitterten so, daß sie bei der starken Vergrößerung des Glases kein klares Bild bekommen konnte. Sie setzte das Glas wieder ab, schloß die Augen und zwang sich gewaltsam zur Ruhe. ›Ruhig, ganz ruhig werden!‹ dachte sie bei sich. Endlich hatte sie das dunkle Etwas im Gesichtsfeld des Glases: Wahrhaftig, es war ein Boot! Zwar konnte sie keine genauen Einzelheiten erkennen; aber eins bemerkte sie, was sie mit Schrecken erfüllte: Die Breitseite des Bootes war ihr zugekehrt, folglich ging der Kurs des Bootes an der Insel vorbei. Sollten denn die Männer im Großboot – denn daß es dies sei, daran zweifelte sie keinen Augenblick – die Insel nicht gesehen haben?

Das Signalfeuer! … man mußte es wieder anfachen. Mit eiligen Sätzen sprang sie zum Feuer zurück, um mit Schrecken festzustellen, daß das Brennmaterial bereits während der Nacht vollkommen verbraucht worden war. Schon wollte sie die Männer wecken, da fiel ihr ein, wieviel Zeit vergehen würde, bis das nötige Material von unten heraufgebracht worden wäre. Unterdessen konnte das Boot schon längst wieder außer Sicht sein.

Nein, Hilfe muß kommen … aber rasch! Ein Gedanke blitzte in ihr auf: Das Motorboot! Mit seiner überlegenen Geschwindigkeit konnte sie dem Großboot den Weg abschneiden. Hierzu brauchte sie die Hilfe der Männer nicht. Das Boot hatte sie oft genug allein geführt. Noch einmal nahm sie das Glas an die Augen und beobachtete das Boot. Sie merkte sich die Richtung, in der sie fahren mußte, um mit dem Großboot zusammenzutreffen, und sprang dann leichtfüßig wie ein Reh über das Plateau. Bald hatte sie die Stelle gefunden, die der Steuermann mit seinen Leuten gestern beim Aufstieg benutzte, und begann den Abstieg.

Glücklich kam sie unten an. Das Motorboot lag noch an seinem alten Platz. Eiligst band sie das Halteseil los und sprang hinein. Mit vor Erregung zitternden Händen drehte sie den Benzinhahn auf, drückte den Knopf des Anlassers. Einige Sekunden röhrte und schnarrte es, dann sprang die Maschine an. Sie ließ den Motor etwas warmlaufen, dann schaltete sie den Rückwärtsgang ein und gab Gas. Knirschend schob sich das Boot vom Ufersand herunter in das tiefe Wasser. Stop! … Schalthebel auf Vorwärtsgang, … Vollgas! Das Steuerruder wirbelte herum; das Boot machte eine scharfe Wendung und schoß mit zunehmender Geschwindigkeit durch die stille Bucht in das offene Meer hinaus. Ein weißer Schaumstreifen bezeichnete die Bahn des mit der leichten Last über die Wellen tanzenden Bootes.

Ein lauter Zuruf ließ Christel zusammenfahren. Oben, am Rande des Plateaus, stand der Steuermann und rief, winkte und schrie aus vollem Halse. Sie drehte sich nicht um; sie tat, als ob sie es nicht hörte. Fest richteten sich ihre Augen auf die Kompaßrose. Nord-Nord-Ost war der Kurs. In zwei Stunden müßte sie, ihrer Berechnung nach, am Ziel sein.

Die Zeit verging. Längst hatte die Sonne vom Himmel Besitz ergriffen. Es war heiß, sehr heiß geworden. Sie hatte Durst, aber es waren kein Wasser und keine Lebensmittel im Boot. Was tat das? In einer halben Stunde mußte das andere Boot in Sicht kommen. Vor freudiger Erregung röteten sich ihre Wangen. Noch eine halbe Stunde, dann konnte sie ihrem Vater um den Hals fliegen, ihm den weißen Strubbelbart zausen und ihm unter Weinen und Lachen in's Ohr flüstern: ›Du oller Poseidon, daß du mir nicht noch einmal deinen Jungen in Stich läßt!‹ Schon bei dem Gedanken an das Wiedersehen traten ihr vor Freude die Tränen in die Augen.

Einmal hatte sie zurückgeblickt. Dort, ganz hinten am Horizont, sah sie einen dunklen, verschwommenen Streifen, die Insel. So weit war sie schon von ihren Gefährten entfernt! Ein ganz klein wenig Gewissensbisse bekam sie doch, wenn sie an die Angst und Sorge der Kameraden dachte. Aber gleich tröstete sie sich wieder, wenn sie an die Freude dachte, die die Ankunft des Großbootes, in dem sich außer ihrem Vater auch noch einige Arkansasleute befanden, auslösen mußte.

Jetzt war es bald so weit, daß sie scharf Obacht geben mußte. Sie richtete das Boot genau auf den Kurs, dann ließ sie das Ruder los, sprang auf das Vorschiff und hielt Umschau. Da das Boot sehr niedrig war, hatte sie auch nur einen sehr geringen Gesichtskreis. So viel sie sich auch anstrengte, sie konnte kein Boot entdecken. Schon wollte sie wieder auf ihren Sitz hinabsteigen, als sie plötzlich ein leiser, klatschender Knall erschreckte. Sie stand still und lauschte. Da wieder … ein Spucken und Knallen. Zugleich merkte sie, daß die Tourenzahl des Motors nachließ und der Motor unregelmäßig lief.

Christel wurde totenblaß. Ihr war, als wenn eine eiskalte Faust ihr nach dem Herzen griff und ihre Brust zusammenschnürte. »Herrgott … nur das nicht!« stöhnte sie, aber es war schon zu spät. Noch einmal spuckte und knallte es im Vergaser, dann hörte das Surren der Maschine auf, der Motor stand still. Mit zitternden Knien stieg sie in den Führerstand und blickte auf das Instrumentenbrett. Was sie gefürchtet hatte, wurde ihr zur grausigen Gewißheit: Der Zeiger der Benzinuhr stand auf Null. Keinen Tropfen Benzin mehr! Das Boot war nur noch ein willenloses Spielzeug der Wellen.

›Aus!‹ sagte sie leise vor sich hin. ›Jetzt ist es ganz aus!‹ Wie ein Häufchen Elend hockte sie auf ihrem Sitz, kaum eines Gedankens fähig. Dieser plötzliche Wandel der Ereignisse hatte sie vollkommen niedergeschmettert. Eben noch voll hoffnungsfreudiger Erwartung, und nun war plötzlich alles aus. Sie schauerte zusammen und sah sich scheu um. Sie hatte den Eindruck, als wäre sie nicht mehr allein. In jedem Winkel saß ein unheimliches, unsichtbares Etwas und beobachtete jede ihrer Bewegungen, lauernd, drohend, wie ein unabwendbares, schreckliches Ereignis. Sie schloß die Augen und preßte die Hände an die Schläfen. Wenn sie sich doch nur konzentrieren könnte, wenn sie doch nur wüßte, was sie tun sollte; aber ihr fiel nichts ein. Warten! … Warten! … Dieses schreckliche Warten! … Und auf was, auf das Ende? Verzweifelt barg sie ihr Gesicht in beide Hände, aber keine erlösenden Tränen kamen. –

Die Stunden kamen und gingen. Zusammengesunken saß Christel auf ihrem Platz und starrte vor sich hin. Ab und zu erwachte sie aus ihrer Lethargie, mechanisch stieg sie auf das Vorschiff, um Umschau zu halten; aber sie tat es nur, um überhaupt etwas zu tun, was einen Sinn, einen Zweck hatte. An einen Erfolg glaubte sie selbst nicht mehr. Sie spürte keinen Hunger, aber der Durst war schrecklich. Ein paarmal war sie in Versuchung, das klare, blaue Wasser der See zu schöpfen und davon zu trinken; aber sie wußte, daß sie damit ihre Qualen nur vergrößern würde, und ließ davon ab. Langsam, unendlich langsam schlichen die Stunden dahin. Im Westen begann sich der Himmel zu röten. Die Sonne verlor ihren gleißenden Schein. Glutrot, wie ein chinesischer Lampion, ging die Sonne unter.

Christel bemerkte es nicht. Sie hatte die Arme auf das Steuerrad gelegt, stützte den Kopf darauf und schien zu schlafen. Als sie nach einer ganzen Weile den Kopf wieder hob, erschrak sie. Dichte Finsternis umgab sie. Sanft schaukelte das Boot in der langen Dünung. Eine leichte, frische Brise wehte erfrischend nach des Tages Glut über das Wasser. Mechanisch richtete sie sich auf und schaltete die Bordbeleuchtung ein. Ein rotes, ein grünes und ein weißes Lämpchen warfen ihre Reflexe über das Wasser. Ganz automatisch tat sie es, ohne einen Gedanken. Wozu eigentlich? … es kam ja doch kein Schiff, das sie sehen würde; aber vielleicht – –, ein irres gequältes Lächeln lag um ihren Mund. Es war ja schon alles so gleichgültig …!

Die Nacht verlief ohne jeglichen Zwischenfall. Als die Sonne sich wieder über den Horizont schob und mit ihren Strahlen die bleichen, eingefallenen Wangen des unglücklichen Mädchens erwärmte, erwachte Christel aus ihrem totenähnlichen Schlaf. Mühsam richtete sie sich auf und blickte verwirrt um sich. Ein Fieberschauer durchschüttelte sie. Sie schloß einen Moment die Augen und lehnte sich wieder zurück. Das Blut hämmerte und bohrte in ihren Schläfen. Ihre Lippen waren heiß und trocken; kaum konnte sie die Zunge bewegen. Mit aller Energie richtete sie sich auf und erhob sich. Ein Schwindel ergriff sie; sie wäre gestürzt, wenn sie nicht an der Bordwand einen Halt gefunden hätte. Langsam wandte sie den Kopf und blickte um sich. Und dann wurden ihre Augen groß und weit vor Entsetzen: Dicht neben ihr trieb im Wasser ein großer, dunkler Gegenstand, … ein gekentertes Boot. Am Bug des Bootes stand mit weißer Ölfarbe der Name des Schiffes, das einzige, verhängnisvolle Wort: »Minnesota«! Mühsam entzifferte sie die auf dem Kopf stehende Schrift. Es schwamm alles vor ihren Augen. Ein schmerzliches Stöhnen brach aus ihrer Brust:

»Vati! Vati!« In wilder Verzweiflung schrie sie es hinaus; aber der Ruf verhallte ungehört. Langsam trieb die dunkle Masse des gekenterten Großbootes an ihr vorüber.


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