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Neuntes Kapitel

Die Sonne meinte es wirklich zu gut. Kein Wölkchen am Himmel, das ihre heißen, sengenden Strahlen milderte; kein frischer Luftzug, der etwas Erfrischung in die drückende Hitze des Tages brachte. Glatt und ruhig wie ein Spiegel lag das klare Wasser der Bucht da, in dem noch immer die »Stella« vor Anker lag. Eine bleierne Schwüle lagerte über dem ganzen Schiff.

In dem Schatten des großen, weißen Sonnensegels, das das ganze Vorschiff überspannte, lag Christel in einem bequemen Liegestuhl und schlief; oder es schien nur so, als ob sie schlief, denn ab und zu hob sie die Hand und scheuchte mit einer matten Bewegung die freche Fliege fort, die mit einer seltenen Beharrlichkeit immer wieder zu ihrer Nasenspitze zurückkehrte. Der zweite Liegestuhl neben ihr war augenblicklich leer, denn Marion war vor wenigen Minuten in die Kombüse hinuntergegangen, um etwas Tee und Gebäck zu holen. Hier unter dem Sonnensegel war die Temperatur doch etwas erträglicher als in dem engen, drückend heißen Salon.

Christel fühlte sich schon seit Tagen recht wohl. Das Fieber war vollkommen verschwunden, und wenn sie auch immer noch etwas matt und steif in den Gliedern war, so war sie doch dank ihrer kräftigen Natur und der unermüdlichen Sorgfalt und Pflege ihrer Freunde einigermaßen wiederhergestellt. Am liebsten hätte sie jetzt in dem klaren, kühlen Wasser der Bucht herumschwimmen und tauchen mögen, aber sie durfte sich noch nicht zu viel zumuten; außerdem war es etwas gefährlich, draußen vor den Riffen hatte sie schon mehrmals die dreieckigen Rückenflossen der Haifische durch das Wasser ziehen sehen. Wie leicht konnte sich einer in die Bucht verirren, obgleich diese Räuber eigentlich das seichte Wasser nicht lieben. Also, damit war es nichts; aber da war ihr noch etwas anderes eingefallen. Ein Spaziergang durch die Insel, so gegen Abend, wenn die größte Hitze des Tages vorbei war, das wäre doch eigentlich eine nette Abwechselung. Von dem hohen Berge aus hatte man eine prächtige Aussicht, und einen Sonnenuntergang dort oben zu erleben, mußte ein wahrer Genuß sein.

Angeregt durch ihren plötzlichen Einfall, richtete sie sich auf und blickte um sich. Wo blieb denn nur Marion, sie wollte doch gleich wieder zurück sein?

»Marion!«

»Hier!« rief eine helle Männerstimme von oben, »was soll ich?«

Erstaunt sah Christel zur Brücke empor, wo sich der Kapitän lachend über die Brüstung beugte. »Seit wann heißen Sie denn Marion, Herr Kapitän?«

»Wie«, rief Kapitän Ehlers mit geheucheltem Erstaunen, »Sie haben Marion gerufen? Ich glaubte bestimmt, Sie hätten Hannes gesagt.«

Christel wurde etwas rot und drohte mit dem Finger. »Ist man denn gar keine Minute vor Ihnen sicher?« rief sie in drolliger Verzweiflung. »Erst spielen Sie Krankenschwester, und nun wollen Sie auch noch meine Gouvernante sein; nächstens sage ich noch ›Tante‹ zu Ihnen!«

»Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide!« sang es von oben.

»Wenn Sie genug gelitten haben, können Sie herunterkommen und ein Täßchen Tee mit uns trinken«, rief Marion lachend, die eben auf dem Vorderdeck auftauchte. Sie schob einen leichten Teewagen vor sich her, der mit Getränken und Gebäck beladen war.

»Wüßt' nicht, was ich lieber täte«, lachte Kapitän Ehlers zurück. Eiligst kletterte er die Treppe zur Brücke herunter und half den Damen beim Aufbau ihres kleinen Fünfuhrtees.

»Ihr Männer seid schrecklich!« seufzte Marion und warf dem Kapitän einen kampflustigen Blick zu. »Ihr bildet euch ein, ohne euch geht's gar nicht. Sie sind der aufdringlichste Mensch, den ich jemals gesehen habe.«

»Oh, wenn es weiter nichts ist«, meinte Ehlers gleichmütig, »ich werde Sie gleich von meiner Gegenwart befreien.« Sprachs, rückte mit seinem Stuhl von Marion fort und setzte sich dicht neben Christel.

»Na, die Frechheit übersteigt doch alle Grenzen!« ereiferte sich Marion. »Jag' ihn fort, Christel, ich kann ihn nicht mehr leiden!«

»Nein«, erwiderte Christel belustigt, »wenn er verspricht, artig zu sein, kann er hierbleiben.«

»Christel!« rief Marion mit komischem Entsetzen, »merke dir für alle Ewigkeit: Wenn ein Mann verspricht, artig zu sein, dann stimmt schon etwas nicht!«

»Meine Damen, die Diskussion über diesen Punkt erübrigt sich«, warf Ehlers ein. »Ich verspreche niemals, artig zu sein, denn schließlich, wenn man etwas verspricht, muß man es auch halten, und das könnte einem manchmal leid tun. Mein Wahlspruch ist: ›Komm den Frauen zart entgegen, du gewinnst sie, auf mein Wort; bist aber keck du und verwegen, kommst du bestimmt viel besser fort!‹«

»Komm fort von hier!« rief Marion entsetzt. »Ich sehe dich schon in dem Rachen des Untiers … Haben Sie noch mehr von solchen Weisheiten, Sie blonder Bubi?«

»Gewiß, gewiß!« lachte der Kapitän übermütig. »Also hören Sie zu: Eine Frau ist eher geneigt, einem Manne zehn Frechheiten zu verzeihen als eine einzige schüchterne Schwäche.«

»Christel«, sagte Marion mit dumpfer Stimme, »der Mann ist gefährlich; er verrät unser Seelenleben … Nun verraten Sie uns auch noch, wer Ihnen diese Weisheiten beigebracht hat!«

Der Kapitän schüttelte energisch den Kopf: »Ausgeschlossen!« sagte er. »Männergeheimnis!«

»Na, das werden wir schon rauskriegen. Frag du ihn mal, Christel, mir will er's nicht sagen.«

»Nun, Herr Ehlers«, schelmisch blinzelte Christel ihn an, »heraus mit Ihrem Geheimnis! Oder soll ich erst ›bitte, bitte‹ sagen?«

»Das wäre vollkommen vergebens, Fräulein Peters, auch Ihnen gegenüber muß ich an meinem eisernen ›Nein‹ festhalten.«

»Dann sehe ich mich gezwungen, ein stärkeres Geschütz auffahren zu lassen. Muß ich Sie wirklich dazu erst erpressen?«

»Oho!« fröhlich lachte Ehlers sie an, »erpressen wollen Sie mich? … Womit denn?«

»Ganz einfach! Mit Frauenlogik. – Wissen Sie denn überhaupt, was Frauenlogik ist?«

»Natürlich! Frauenlogik ist eine Logik, die mit der Logik nur den Namen gemeinsam hat.«

»Unerhört!« warf Marion ein.

»Laß nur«, beschwichtigte sie Christel, »ich werde ihm schon eine andere Meinung von unserem logischen Denken und Handeln beibringen. Also, hören Sie, Sie Krone der Schöpfung: Frauenlogik ist Logik in konzentriertester Form.«

»Ich bin erschüttert«, gestand der Kapitän demütig; »aber wenn mir die Damen einen Einwand gestatten wollen …?«

»Aber bitte!« erwiderte Christel würdevoll. »Im Bewußtsein unserer geistigen Überlegenheit können wir uns ohne weiteres erlauben, Ihre Argumente anzuhören. Also, bitte, wir warten darauf!«

Der Kapitän überhörte geflissentlich die ›geistige Überlegenheit‹ und dachte angestrengt nach. »Sehen Sie«, sagte er, »so eine Streitfrage – denn um eine solche handelt es sich zweifellos – ist zu vergleichen mit einer mathematischen Aufgabe. Um eine solche zu lösen, müssen stets drei Dinge vorhanden sein: die Voraussetzung, die Behauptung und der Beweis. Übertragen wir diese Kenntnisse auf unsere Streitfrage, so ist folgendes zu sagen: Erstens, die Voraussetzung ist gegeben, denn bei anatomischen Untersuchungen hat es sich ergeben, daß die Frau analog dem Manne ein Gehirn besitzt. Zwar ist dieses beträchtlich kleiner als bei dem Manne, aber … wir wollen das übergehen.« Er machte eine kleine Pause, um die Wirkung seiner Rede zu studieren, aber er begegnete nur zwei überlegen lächelnden Gesichtern. »Zweitens«, fuhr er fort, »die Behauptung. Die ist gegeben durch Ihren Ausspruch: ›Frauenlogik ist Logik in konzentriertester Form‹. Kommt drittens das Wichtigste, der Beweis. Aber den sind Sie mir schuldig geblieben!« Mit einem herausfordernden Blick lehnte er sich in seinen Stuhl zurück.

»Ein Glück, daß Sie aufhören!« sagte Marion drohend. Sie haben sich soviel Ausfälle gegen das weibliche Geschlecht erlaubt, wie man auf einmal kaum verzeihen kann … Christel, zerschmettere den Sünder mit der Wucht unserer Beweisführung.«

»Angeklagter«, sagte Christel streng, »wir schreiten zur Beweisführung mit anschließendem Urteil: Zunächst muß ich Ihrer schändlichen Anspielung entgegentreten, daß wir Frauen infolge der kleineren Gehirnmasse geistig weniger leistungsfähig seien als ihr Männer. Aus meinem Ausspruch: ›Frauenlogik ist Logik in konzentriertester Form‹, ergibt sich ohne weiteres, daß auch das Gehirn, das diese Logik erzeugt, ebenso hochkonzentriert sein muß. Wir kommen daher mit weniger Gehirnmasse aus als der Mann, dessen Gehirn dementsprechend verdünnter sein muß. – Angeklagter, wie äußern Sie sich dazu?«

Ehlers amüsierte sich köstlich. Diese kleine Christel hatte doch eine verteufelte Schlagfertigkeit am Leibe. Äußerlich machte er ein unnahbares Gesicht:

»Der hohe Gerichtshof geht von der Annahme aus, daß die aufgestellte Behauptung richtig sei. Ich weise indessen darauf hin, daß der Beweis hierfür noch nicht erbracht ist. Gelingt Ihnen der Beweis, dann streiche ich meine Flagge und behaupte das Gegenteil.«

»Gut«, sagte Christel, »schreiten wir zur Beweisführung! Sie bleiben also bei Ihrer Weigerung, uns die Personen, die Sie in die Geheimnisse der Frauenseele eingeweiht haben, zu nennen?«

»Unbedingt!« bestätigte Ehlers starrköpfig.

»Schön, dann werde ich Sie, und das ist der Beweis, mit Hilfe unserer Logik zwingen, uns das Geheimnis zu verraten.« Behaglich lehnte sie sich in den Liegestuhl zurück und blickte sinnend in den Himmel. »Ein Mann kann in den Besitz dieses Geheimnisses durch zweierlei Umstände kommen. Einmal kann ihm jemand dieses Geheimnis verraten haben, oder … er ist ein Wüstling, der sich durch Erfahrung diese Kenntnis angeeignet hat. Was sagt die Frauenlogik dazu? – Verrät ein Mann, woher er dieses Geheimnis kennt, dann ist er wohl ein harmloser Mensch; verrät er es nicht, so gehört er zur zweiten Sorte … Wir werden uns dementsprechend verhalten, Herr Ehlers!! … Komm, Marion, wir gehen in unsere Kabinen.« Lässig erhob sie sich von ihrem Sitz und zog die Freundin mit sich fort.

»Halt!« rief der Kapitän erschrocken, »Sie glauben doch nicht etwa, daß ich ein Wüstling bin?«

Lachend wandten sich die beiden Mädchen um: »Es liegt an Ihnen, Herr Kapitän, unsere Meinung zu korrigieren. Wir geben Ihnen eine Minute Zeit. Entweder Sie verraten Ihr Geheimnis, oder wir bleiben bei unserer Meinung.«

»Das ist Erpressung!« stöhnte der Kapitän.

»Sehen Sie«, triumphierte Christel, »gegen Frauenlogik kommen Sie nicht auf. Die Minute ist gleich um!«

»Ich gebe mich geschlagen«, seufzte Ehlers hilflos. »Die Sache ist eigentlich sehr dumm und albern«, setzte er verlegen hinzu:

»Jedes Geheimnis eines Mannes beginnt mit einer Dummheit«, bemerkte Christel altklug, »erzählen Sie ruhig, wir werden milde Richter sein!«

»Also schön«, gab Ehlers nach, »ich habe dieses Geheimnis eigentlich schon als Tertianer erfahren.«

»Hast du Töne!« wunderte sich Marion. »Sie müssen ja ein hoffnungsvolles Früchtchen gewesen sein.«

»Ist nur halb so schlimm«, lächelte der Kapitän. »Ich befand mich also«, fuhr er fort, »in einem Alter, das man gewöhnlich ›Flegeljahre‹ nennt. Hierzu gehörte natürlich eine maßlose Verachtung des weiblichen Geschlechtes. Nun hatte ich drei Schwestern und diese wiederum eine Anzahl Freundinnen, so daß Damenbesuch zu Haus nichts Seltenes war. Getreu meiner Flegelzeit strafte ich die jungen Damen mit überlegener Nichtachtung und vertiefte mich in meinen ›Karl May‹, während diese bald den dummen Bengel vergaßen und sich kichernd über ihre kleinen Erlebnisse unterhielten. Hierbei spitzte ich gewaltig die Ohren, denn ich war sehr neugierig zu hören, was den Frauen bei uns Männern am meisten imponierte. Zu den Männern zählte ich mich damals schon …«

»Genug!« lachten die Mädchen. »Eigentlich müßten Sie sich ja schämen; Sie scheinen wirklich ein reizender Flegel gewesen zu sein.«

»Ja, ich schäme mich auch«, gab der Kapitän zu; »aber ich sagte ja vorher, es wäre sehr dumm und albern.«

»Nun«, meinte Christel besänftigend, »wir versprachen Ihnen, milde Richter zu sein. Wir verzeihen Ihnen also in aller Form.«

»Tausend Dank, Fräulein Peters!«

»Bevor wir nun zum Urteil schreiten, wollen wir nochmals feststellen: Was ist denn Frauenlogik?«

»Logik in konzentriertester Form«, antwortete Ehlers mit süß-saurem Lächeln.

»Warum haben die Frauen ein kleineres Gehirn?«

»Weil es konzentrierter und somit qualitativ besser ist als unser verpantschter Plumpudding«, kam die demütige Antwort des Kapitäns.

»Der Angeklagte ist geständig. Ich verkünde nunmehr das Urteil: Der Angeklagte, Kapitän Hans Ehlers, wird hiermit zu einem eintägigen Bordarrest verurteilt!«

»Wenn es weiter nichts ist«, lachte der Kapitän fröhlich, »ich bleibe gern an Bord.«

»Jetzt kommt die Rache!« triumphierte Christel, »wir bleiben nämlich nicht an Bord, sondern machen einen Spaziergang an Land und sehen uns den Sonnenuntergang an … und Sie bleiben hier!«

»Aber Fräulein Peters, seien Sie nicht so grausam und nehmen Sie mich mit!« bat der Kapitän.

»Nichts zu machen, Strafe muß sein. Sie werden sich unterdessen überlegen, ob der erste Teil Ihres Wahlspruches, ›Komm den Frauen zart entgegen, du gewinnst sie, auf mein Wort‹, nicht doch angebrachter ist und der letzte Teil, ›bist aber keck du und verwegen, kommst du bestimmt viel besser fort‹ einfach amputiert werden muß.«

Ich hab' ihn schon amputiert«, versetzte Ehlers schnell, »kann ich nun auch mit?«

»Nein, nein«, lachten die Mädchen, »die Reue kommt zu plötzlich, als daß sie echt sein könnte. Ihren Bordarrest müssen Sie abbrummen!«

»Komm, Christel!«

Vorsichtig half Marion Christel das Fallreep hinunter in das Motorboot, das unten vertaut lag. Während Marion die Leine loswarf und das Boot vom Schiffsrumpf abdrückte, warf Christel den Motor an. In langsamer Fahrt glitt das Boot dem nahen Ufer zu.

»Auf Wiedersehen«, rief ihnen Ehlers nach, »und kommen Sie nicht so spät zurück, nach Sonnenuntergang wird es immer sehr schnell dunkel!«

Lachend winkten die beiden zurück. »Den haben wir nicht schlecht eingeseift; der war ganz geknickt, daß er nicht mitdurfte.«

Christel lachte hell auf. »Eigentlich tut er mir leid«, sagte sie bedauernd, »er ist immer so nett und aufmerksam wie ein großer Bruder.«

Verschmitzt blickte Marion sie von der Seite an. »Wirklich bloß wie ein großer Bruder?« neckte sie. »Sag' mal, Christel«, vertraulich schmiegte sie sich an sie, »hast du ihn sehr gern?«

»Aber Marion!« sie errötete bis unter die Haarwurzeln. »Wie kommst du bloß auf den Unsinn?«

»Kindchen, mir kannst du nichts vormachen; was sich liebt, das neckt sich. Ich gönn' dir dein Glück, er ist wirklich ein feiner, anständiger Kerl.«

Christel antwortete nicht. Sie tat, als müsse sie sich ganz auf die bevorstehende Landung konzentrieren. Ein stilles, glückliches Lächeln lag auf ihrem Gesicht. –

»Achtung! wir sind da.« Rauschend und gurgelnd drehte die Schraube rückwärts. Knirschend schob sich das Boot auf den Sand. Behende wie ein Reh sprang Marion auf die Felsplatte.

»Komm Christel, ich helfe dir.« Hilfreich streckte sie ihr beide Hände entgegen. Vorsichtig kletterte Christel aus dem Boot.

»Danke, ich bin doch noch nicht so ganz auf dem Posten. Die Beine wollen noch immer nicht so recht.«

»Nur Geduld, es wird schon werden! In acht Tagen denkst du gar nicht mehr an deine Krankheit.«

Christel hakte sich bei ihr ein, und gemeinsam wateten sie durch den hohen Ufersand dahin.

»Es ist doch ein herrliches Gefühl«, sagte Marion vergnügt, nach so langer Zeit wieder richtigen Sand unter den Füßen zu haben.« Interessiert betrachtete sie den hohen, steilen Abhang des Berges, der die Bucht gegen das Innere des Eilandes abschloß: »Sieh nur, wie steil der Berg ist, hier kommt wohl kein Mensch hinauf.«

Christel lächelte wehmütig. »Ja«, sagte sie sinnend, »wenn ich mir jetzt den Abhang ansehe, ist es mir ganz unbegreiflich, wie ich damals den Mut gefunden habe, dort hinaufzuklettern.«

»Wie!« rief Marion erstaunt. »Da bist du hinaufgeklettert? Oh bitte, erzähl doch!«

»Da ist nicht viel zu erzählen. Bei der Strandung der ›Minnesota‹ wurde ich von meinem Vater getrennt. Er befand sich im Großboot, während ich und der größte Teil unserer Leute in meinem Motorboot waren. Wir hatten uns verabredet, diese Insel anzulaufen. Als wir hier anlangten, glaubte ich, daß wir das Großboot bald in Sicht bekommen würden. Vor Angst und Sorge um meinen Vater nahm ich mir nicht die Zeit, einen bequemen Aufstieg zu suchen. Ehe mich meine Gefährten daran hindern konnten, kletterte ich an einer Stelle, die mir günstig schien, empor. Ich kam auch glücklich oben an … aber« sie schauerte zusammen und warf einen scheuen Blick auf den Abhang, »… es war grauenhaft. Ein Wunder, daß ich es überhaupt geschafft habe! Und doch war alles umsonst. Erst am nächsten Morgen bekam ich das Boot in Sicht. Es trieb an der Insel vorüber … gekentert!«

Sie schwieg und blickte zu Boden. Stumm drückte ihr Marion die Hand; schweigend schritten sie weiter. Der Weg wurde etwas steiler. Viel Geröll und große Felsblöcke versperrten ihn teilweise. Langsam und vorsichtig, einander stützend, kletterten sie bergan. –

Die Sonne stand schon tief am Himmel, als sie endlich das Plateau erreichten. Das erste, was Marion entdeckte, waren die Steinhütten, die hart am Rande des Abgrundes aufgebaut, nicht zuletzt durch ihre primitive, kunstlose Bauart einen öden, verlassenen Eindruck machten.

»Stammen die Hütten noch von deinen Kameraden? Sehr wohnlich und behaglich sehen sie gerade nicht aus.«

Christel nickte: »Du hast schon recht. Wir haben die Steinhütten aufgebaut, und wie froh waren wir, daß wir auf dieser Insel geborgen waren und ein Dach über dem Kopf hatten. Jetzt sehen sie so traurig und verlassen aus; komm weiter, ich mag gar nicht hinschauen.«

Sie schritten weiter auf den Rand des Plateaus zu, das hier steil und senkrecht in das Meer hinabstürzte. Der große Stein, auf dem vor Wochen Christel in banger Erwartung gesessen hatte, lag noch da. Hier ließen sich die beiden Mädchen nieder und blicken sinnend auf das unendliche Meer hinaus.

Sie sprachen nicht viel miteinander; engumschlungen saßen sie da und ließen die gewaltige Farbensymphonie des scheidenden Tages auf sich wirken. Leise flüsterte der Wind in den hohen Gräsern, und von unten herauf tönte das ewige rhythmische Rauschen und Donnern der Brandung, die sich an den schroffen Klippen des Felseneilandes brach. Die letzten Strahlen des scheidenden Gestirnes tauchten den Gischt der hohen Brandung in rotes, flüssiges Gold. Wie lauter bunte, farbige Diamanten glühen und perlen die Wassertropfen an den nassen, schwarzen Uferfelsen empor. Immer tiefer taucht der Sonnenball in das flammende Meer; seine Kraft ist im Verlöschen. Glanzlos und dunkelrot, wie ein großer, chinesischer Lampion, verschwindet die Sonne hinter dem Horizont. Die Farben verblassen; die Dämmerung bricht herein. Nur im Westen, wo die Sonne eben verschwunden, glüht und lodert ein feuriger Streifen, wie die letzten Nachwehen eines gewaltigen Weltbrandes.

Aufatmend erhoben sich die beiden Mädchen von ihrem Sitz. »Wie schön, wie wunderbar schön!« sagte Marion leise.

»Ich habe schon oft den Sonnenuntergang erlebt«, sagte Christel träumerisch, »aber so schön wie heute sah ich ihn noch nie. – Nun wird es aber Zeit, daß wir aufbrechen; in einer Stunde ist es ganz dunkel, und unser Bootslaternchen wird nicht allzuviel leuchten.«

Sie gingen am Rande des Plateaus entlang. Vor ihnen lag die kleine, natürliche Bucht.

»Sieh nur, Christel, wie schön und stolz die ›Stella‹ aussieht! Ich könnte mich direkt in das Schiff verlieben.« Sie blieben stehen und betrachteten entzückt die elegante Jacht.

Ein weißer, niedrig gebauter, schlanker Schiffsleib, weiße Aufbauten, ein niedriger, gelb angestrichener, ovaler Schornstein, zwei auffallend hohe Masten – Christel fühlte, wie ihr der Herzschlag aussetzte. Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen. Mit schmerzhaftem Griff packte sie Marion am Arm, daß diese laut aufschrie: »Aber Christel! … Was ist denn, … was hast du denn plötzlich?« Entsetzt gewahrte sie das totenblasse Gesicht, die weitaufgerissenen, starren Augen, in denen ein unfaßbares, angstvolles Grauen lag. Erschreckt blickte sie in die Richtung, in die das Mädchen mit zitternder Hand wies.

»Marion«, flüsterte sie mit heiserer Stimme, »das Schiff, die Jacht dort, … erkennst du sie nicht?«

Verständnislos zuckte Marion mit den Achseln. »Aber ja«, antwortete sie, »das ist doch unsere ›Stella‹!«

»Unsere ›Stella‹? … aber Marion, weißt du denn nicht, wer diese ›Stel–‹« sie hielt plötzlich inne. Ein neuer, furchtbarer Verdacht tauchte in ihr auf. Abwehrend streckte sie beide Hände aus und taumelte rückwärts.

»Christel! … Um Gotteswillen, der Abgrund!« schrie Marion entsetzt. Mit einem Sprung war sie bei ihr und riß sie zurück. »Kindchen, liebes Kindchen, komm doch bloß erst von hier fort!« Sie nahm die Widerstrebende fest am Arm und führte sie mit sanfter Gewalt fort. »Kind, nun sag' doch schon, was ist denn plötzlich los?!« Ihr war allmählich unheimlich zumute geworden.

Doch Christel blieb ihr lange Zeit die Antwort schuldig. Schweigsam, mit gesenktem Kopf, ging sie neben Marion her. Endlich brach sie die drückende Stille. Marion war erstaunt über den ruhigen sachlichen Ton, in dem Christel zu ihr sprach.

»Wie kommst du auf die ›Stella‹, und wie lange bist du schon dort?«

Erstaunt zuckte Marion mit den Schultern. Sie hatte eine andere Antwort erwartet.

»Das ist eine seltsame Frage in diesem Augenblick«, sagte sie, »aber ich will sie dir gern beantworten: Wie du ja weißt, bin ich von Beruf Tänzerin. Vor zwei Monaten gastierte ich noch in San Franzisko. Hier wurde mir eines Tages ein sehr günstiges Angebot nach Hawai gemacht. Da mein Vertrag gerade abgelaufen war, sagte ich zu und trat darauf meine Reise und mein neues Engagement an. Kurz und gut, ich war gründlich reingefallen. Das große Varieté, das man mir vorgegaukelt hatte, war in Wirklichkeit ein übelberüchtigtes Nachtlokal. Die dort engagierten Tänzerinnen hatten nebenbei noch die Verpflichtung, die zahlungsfähige Kundschaft zu unterhalten und sie zu möglichst großen Zechen zu verleiten. Ich lehnte jede Einladung ab, mit dem Erfolg, daß ich drei Tage später fristlos entlassen wurde. Der Beruf als Tänzerin wird dort eben anders aufgefaßt. Vergebens versuchte ich, eine Überfahrt nach San Franzisko zu bekommen. Da ich nicht genügend Geld hatte, wurde ich überall abgewiesen. Da traf ich im Schiffahrtsbüro Kapitän Ehlers. Er hatte mich in San Franzisko tanzen sehen, erkannte mich sofort und bot mir in kameradschaftlichster Weise eine Kabine auf der ›Stella‹ an, da diese nach Erledigung einer Sonderaufgabe sofort nach San Franzisko zurückkehren würde. Das war am ersten August, also zwei Tage, bevor wir dich im Boot treibend auffanden.«

Sie schwieg. Stumm gingen beide nebeneinander her. »Ich weiß nicht, ob ich dir glauben kann«, sagte Christel hart. Marion zuckte zusammen, aber sie erwiderte nichts.

Es war jetzt so dunkel geworden, daß sie den Weg kaum noch erkennen konnten. Marion stolperte über einen Stein und wäre gestürzt, wenn Christel sie nicht aufgefangen hätte. Als sie die Strauchelnde wieder aufrichtete, fühlte sie, wie etwas Warmes auf ihre Hand tropfte. Betroffen blieb sie stehen und faßte die Hand ihrer Freundin.

»Marion!«

Diese antwortete nicht. Sie hielt den Kopf gesenkt. Bittere Scham erfüllte Christels Herz. Hier hatte sie bestimmt Unrecht getan. Sie legte ihre Arme um Marions Hals und drückte ihren Kopf an ihre Wange. Da fühlte sie, daß die Wangen feucht waren von Tränen.

»Marion, liebste Marion«, bat sie, »sei mir doch nicht böse! Du weißt ja gar nicht, was geschehen ist, daß ich beinahe verzweifle. Wenn du mich jetzt zurückstößt, habe ich gar keinen Menschen mehr, an den ich mich halten kann. O Gott! es ist ja alles so furchtbar!« Ein haltloses Schluchzen erschütterte ihren Körper.

Still drückte Marion sie an sich: »Du hast mir bitter weh getan, Christel, aber ich will es vergessen. Ich weiß nicht, was geschehen ist; aber wenn du jemand brauchst, ich werde dir immer eine gute Freundin sein.« Beruhigend strich sie ihr über das braune, lockige Haar.

»Ach Marion«, seufzte Christel befreit auf, »du bist ja so gut zu mir; ich hab' es gar nicht verdient. Ja, ich will dir alles sagen: Es ist etwas Schreckliches passiert. Denk dir nur, ich habe eben in der ›Stella‹ das Piratenschiff wiedererkannt, das unsere ›Arkansas‹ überfallen hat.«

»Piratenschiff? … ›Arkansas‹? … Ja, wovon sprichst du denn?« Ein leiser Verdacht stieg in Marion auf: Sollte das Mädel doch noch kränker sein, als sie angenommen hatte, und die wirren Reden auf einen neuen Fieberanfall zurückzuführen sein? Fest umschlang sie die Freundin und beschleunigte ihre Schritte. »Komm, Christel, wir müssen machen, daß wir wieder an Bord kommen. Es ist schon ganz dunkel, und wir haben noch eine ganze Strecke zu laufen. Die Tour wird dich gewiß ermüdet haben. Ich mache mir schon Vorwürfe, daß ich überhaupt darin eingewilligt habe.«

Christel schmiegte sich fest an sie. »Ich weiß, du denkst, ich rede im Fieber«, sagte sie mit gequältem Lächeln. »Glaube mir, ich bin vollkommen bei Sinnen. Aber du kannst ja nicht wissen, was sich zugetragen hat. Ich habe bis jetzt noch nie darüber geredet, weil mich die Erinnerung daran zu sehr aufregte. Jetzt aber werde ich dir alles erzählen, damit du erkennst, in welcher Gefahr wir uns befinden.

Als ich in San Franzisko in See ging, befand ich mich mit meinem Vater an Bord der ›Arkansas‹. Mein Vater hat viele Jahre diesen Frachter gefahren. Wir hatten diesmal eine sehr wertvolle Ladung an Bord, die für die Marinestation in Manila bestimmt war. Von dieser Ladung müssen bestimmte interessierte Personen Kenntnis erhalten haben, denn wir wurden auf hoher See von einer Jacht überfallen und aufgefordert, die ›Arkansas‹ zu verlassen. Wir versuchten zu entfliehen, aber bei der überlegenen Geschwindigkeit des Piraten war eine Flucht aussichtslos. Als wir versuchten, drahtlose S-O-S-Rufe auszusenden, wurden wir im selben Moment von der Jacht beschossen. Die Granate schlug in die Funkbude ein und zerstörte den Sender. Da mein Vater nunmehr die Aussichtslosigkeit jedes weiteren Widerstandes einsehen mußte, gab er Befehl, das Schiff zu verlassen. Bevor er selbst von Bord ging, keilte er im Maschinenraum die Sicherheitsventile fest und goß einige Kannen Öl in die Feuer. Er hatte die Absicht, das Schiff durch eine Kesselexplosion eigenhändig zu versenken, damit es nicht mit seiner wertvollen Ladung den Feinden in die Hände fiel. Wir stießen von der ›Arkansas‹ ab und entfernten uns in höchster Eile. Die Jacht legte sich an die Seite der ›Arkansas‹, und ein großer Teil der Banditen stieg auf sie über. Plötzlich erfolgte die Kesselexplosion. Die ›Arkansas‹ wurde vollkommen zerrissen und sank mit den Piraten, die sich nicht mehr retten konnten, wie ein Stein in die Tiefe. Die Jacht erlitt hierbei eine Steuerhavarie und vermochte nicht, uns zu verfolgen. Wir fuhren die ganze Nacht hindurch in unserem Motorboot. Am frühen Morgen sichteten wir die ›Minnesota‹, die uns aufnahm. Da der Kapitän ein Zusammentreffen mit dem Piraten vermeiden wollte, änderte er den Kurs. In der folgenden Nacht gerieten wir bei schwerem Sturm in dem unbekannten Fahrwasser auf ein unterseeisches Riff und strandeten. Das andere weißt du ja schon.«

Eine Weile herrschte tiefes Schweigen zwischen den beiden. Endlich brach Marion die Stille: »Das ist sehr seltsam, was du mir eben erzählt hast. Bist du denn auch wirklich sicher, daß du in der Jacht das Piratenschiff wiedererkennst?«

»Bestimmt! Ganz bestimmt!« erwiderte Christel leidenschaftlich. »Das Bild dieses Schiffes werde ich niemals vergessen. Solange ich an Bord war, konnte ich keinen Gesamteindruck von der Jacht erhalten; wie ich aber von dem Berge aus die Jacht so liegen sah, erkannte ich sie auf den ersten Blick wieder. Und wenn du glaubst, daß ich mich täusche: Kannst du mir folgende Tatsachen, die so merkwürdig passend meinen Verdacht bestätigen, auf andere Weise erklären? Ich erzählte dir doch eben, daß ein Teil der Piraten mit der sinkenden ›Arkansas‹ untergegangen ist. Warum sind auf einer so großen Jacht, wie es die ›Stella‹ ist, so wenige Matrosen, daß sogar der Erste Offizier den Steuermann spielen muß?

Und dann, erinnerst du dich an das drehbare Schnellfeuergeschütz, das auf dem Achterdeck steht? Damals habe ich es geglaubt, als Mister Kelbin auf meine Frage antwortete, das sei eine Harpunierkanone, mit der der frühere Besitzer der Jacht im Eismeer Walfische harpuniert hat. Heute ist es mir klar, welchen Verwendungszweck dieses Geschütz hat.

Und letztens: Warum treibt sich das Schiff wochenlang hier herum, ohne Zweck, ohne Ziel? Sie sagen immer, sie warten auf eine bestimmte Order, ehe sie nach San Franzisko zurückkehren. Was ist das für eine Order? Warum tun sie so geheimnisvoll? – Nein, Marion, eine Täuschung ist unmöglich!«

Vergeblich zermarterte Marion ihr Gehirn, um eine Tatsache zu finden, mit der sie diesen furchtbaren Verdacht entkräften konnte. Sie fand keinen rettenden Gedanken; im Gegenteil, was ihr auch einfiel, war nur dazu geeignet, diesen Verdacht noch mehr zu verstärken. Schwer wie ein Alpdruck legte sich diese Erkenntnis auf ihr Herz. »Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll«, sagte sie bedrückt. »Die neue Situation, in der wir uns befinden, ist so furchtbar, daß es schwer ist, daran zu glauben. Je mehr ich aber darüber nachdenke, desto mehr Verdachtsgründe tauchen auf; zuletzt traut man sich überhaupt keine Urteilskraft mehr zu. – Ich erinnere mich eben, es war zu der Zeit, als du noch krank daniederlagst, da hörte ich von dem offenen Fenster meiner Kajüte aus Stimmen. Es waren Kapitän Ehlers und der dicke Kelbin. Zuerst achtete ich nicht auf ihr Gespräch, erst als ich deinen Namen hörte, wurde ich aufmerksam. Ich blickte durch das Fenster und sah, wie die beiden vor deinem Motorboot standen und sich über das Boot unterhielten. Es handelte sich um den Namen des Bootes. Wenn man genau hinsieht, kann man deutlich unter dem jetzigen Namen das Wort ›Arkansas‹ lesen. Das schien in dem Mister Kelbin einen gewissen Verdacht hervorgerufen zu haben, während der Kapitän ihm widersprach. Ich hörte ganz deutlich wie Kapitän Ehlers sagte: ›Vor allen Dingen ist dieser überpinselte Name für mich noch lange kein Beweis, daß mit Fräulein Peters etwas nicht stimmen sollte!‹ Ich habe damals keinen großen Wert darauf gelegt, aber heute, wo ich das unter einem anderen Gesichtswinkel betrachte, finde ich es doch sehr merkwürdig, daß gerade der Name ›Arkansas‹ den Verdacht in Kelbin erweckt hat. – Ja, ich glaube«, seufzte sie, »du hast doch recht. Ein Irrtum ist wohl kaum möglich. Was sollen wir jetzt tun, Christel?«

»Ganz einfach!« versetzte Christel. »Wir kehren an Bord der ›Stella‹ zurück. Hier auf der Insel können wir nicht bleiben; hier gibt es weder Wasser noch Lebensmittel. Mit unserem Boot können wir auch nicht weiter. Auch hier fehlen uns Wasser, Lebensmittel und Betriebsstoff. Und wenn es uns auch gelingen sollte, diese Sachen von der Jacht zu beschaffen, meine seemännischen Kenntnisse reichen nicht aus, ohne Karten ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Nein, es gibt für uns nur eins: zurück an Bord! Außerdem«, setzte sie mit ernster, ungewöhnlich harter Stimme hinzu, »habe ich dort noch eine kleine Rechnung zu begleichen!«

»Aber Christel!« rief Marion erschreckt, »was hast du vor? Du wirst uns doch nicht ins Unglück stürzen!«

»Marion«, sagte Christel ernst, »unser Leben liegt nicht in unserer Hand. Es ist ein Wink des Himmels, daß ich auf dieses Schiff gekommen bin. Ich darf diese Gelegenheit, meinen armen Vater zu rächen, nicht ungenutzt vorübergehen lassen. Die Vorsehung, die mich davor bewahrt hat, dem Mörder meines Vaters – und das ist Kapitän Ehlers in meinen Augen – anzugehören, wird mich auch weiterhin beschützen. Und wenn es sein muß, dann lieber mit Ehre in den Tod, als mit Schande weiterleben. Nein, Marion, mein Plan ist gefaßt. Ich werde nicht eher ruhen, als bis es mir gelungen ist, die ›Stella‹ und die gesamte Besatzung den amerikanischen Gerichten zu überliefern. Wie ich dies fertigbringe, weiß ich heute noch nicht; aber ich werde es tun!«

Der laute, leidenschaftliche Klang in ihrer Stimme ließ in Marion keinen Zweifel aufkommen, daß Christel ihre Worte ernst meinte. Fest drückte sie ihr die Hand: »Ich habe dir gesagt, wenn du jemand brauchst, ich werde dir immer eine gute Freundin sein. Ich halte mein Wort!«

Herzlich preßte Christel die dargebotene Hand: »Ich danke dir, Marion; ich wußte, daß du so handeln würdest.«


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