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Durch die Dschungeln bewegte sich ein langer Zug von Reitern und Reiterinnen der offenen Grasfläche zu, voraus eine Anzahl Hindus, welche da, wo schnell aufgeschossenes Rohr den Weg sperrte und beschwerlich machte, dieses mit einem krummen, schwertähnlichen Messer abhieben.
Man wußte nicht recht, welche Art von Jagd die Gesellschaft eigentlich betreiben wollte; denn zu einer Tigerjagd fehlten die Elefanten, ohne welche dieses Raubtier höchstens von einzelnen Schützen auf dem Anstand geschossen wird, und zur Treibjagd fehlten jene Unmenge von Eingeborenen mit Spektakelinstrumenten, wie sie dazu verwendet werden.
Wartete man aber bis zum Schlusse des Zuges, so erblickte man zwei vergitterte Karren, in denen je ein katzenähnliches Raubtier mit einer Kappe über den Kopf gefangen gehalten wurde. Es galt also eine Jagd auf Antilopen mit Geparden.
Der Gepard ist ein Mittelding zwischen Hund und Katze, man kann ihn sowohl zu der einen, wie zu der anderen Klasse zählen. Der Kopf und die Zähne sind die des Hundes, die spitzen Ohren wiederum die der Katze, ebenso wie die Tatzen, deren Nägel aber nicht so beweglich sind. In der Gestalt ähnelt er völlig dem Wolf, sie besitzt aber auch die Geschmeidigkeit eines Jaguars. Ferner hat der Gepard noch zwei Eigenschaften, von denen die eine der Katze, die andere dem Hunde gehört: er ist ein leidenschaftliches Jagdtier und läßt sich dennoch zur Jagd im Dienste der Menschen abrichten.
Der in der Tierdressur sehr bewanderte Indier – man denke nur an die Elefanten- und Schlangenbändiger – haben sich diese Eigenschaft zu nutze gemacht und ihn zum Jagdtier abgerichtet, aber nicht wie den Hund, welcher das Wild nur aufstöbert, sondern er muß das flüchtige Wild, welches dem Jäger nur selten zu Schuß kommt, selbst fangen und dann abliefern. Wie seltsam sich der Gepard bei dieser Jagd benimmt, auf welch eigentümliche Art er das Wild fängt, soll nachfolgend geschildert werden.
Auch Ellen hatte viel von diesen Jagden mit Geparden gehört, und gern war sie daher der Einladung des Rajah Skindia gefolgt, einer solchen beizuwohnen. Allerdings ist man hierbei mehr Zuschauer als Jäger. Trotzdem waren natürlich alle, auch die Damen, mit Büchsen bewaffnet, war man doch in keinem Orte Indiens, nicht einmal in den kleineren Städten vor Angriffen von Tigern sicher, obgleich gerade hier selten noch ein solches Raubtier, der König der Dschungeln, gesehen wurde. Die englischen Offiziere von Sabbulpore hatten ihm die Herrschaft zu sehr streitig gemacht.
Die Gesellschaft, unter der Leitung des Rajahs, bestand aus den Herren des ›Amor‹ und den Damen der ›Vesta‹; außerdem hatten sich ihnen noch die meisten Offiziere des Forts, englische, wie eingeborene angeschlossen, ebenso Miß Rosa. Die letztere war recht niedergeschlagen, und wer etwas davon wußte, erklärte es sich damit, daß Leutnant Werden durch Dienst in der Festung gehalten wurde.
Jetzt erreichte der Zug die offene Wiesenfläche. Man darf bei einer solchen nicht an die in Europa denken; in Indien wächst das Gras bis zur Höhe eines Mannes und darüber, je nachdem der Boden dazu geeignet ist. Hier war es nur etwa einen halben Meter hoch, eben recht geeignet, die Jagd mit den Geparden beobachten zu können.
Es dauerte nicht lange, so meldeten die vorausgeschickten, der Jagd kundigen Hindus, daß ein Rudel Antilopen zu sehen wäre. Nach einigen Minuten hielt der Rajah an einem Ort, welcher dazu geeignet war, die Jagd zu beobachten, ohne selbst von den Antilopen bemerkt zu werden. Dieses flüchtige Wild ist überdies nicht so sehr scheu, solange es zwischen sich und dem Jäger eine sichere Entfernung weiß; erblickt es aber einen Menschen in der Nähe, welche einen Schuß erlaubt – es kennt die Schußweite sehr genau – so flieht es mit unglaublicher Schnelle so weit, bis der gehörige Abstand wiederhergestellt ist.
Die mit der Dressur der Geparden beschäftigt gewesenen Wärter zogen die Tiere am Halsband aus den Bambuskästen, richteten ihre Köpfe so, daß sie die Antilopen erblicken mußten und nahmen dann gleichzeitig die Kappen vom Kopf.
»Geben Sie acht, wie diese Tiere sich benehmen,« rief der Oberst.
Kaum war die Kappe gefallen, so schien sich die gedrungene Gestalt der Geparden zu verändern. Ihr Leib streckte sich, der Hals wurde vorgereckt, und die rotunterlaufenen Augen waren nur auf die Antilopen gerichtet – sie bemerkten die Umstehenden gar nicht, welche anfangs scheu vor den großen Raubtieren zurückgewichen waren.
Dann duckten diese sich plötzlich, wie auf Kommando gleichzeitig, bis ihr Bauch den Boden berührte, krochen nach links und nach rechts, und nicht etwa auf das Rudel zu. Im nächsten Augenblick waren sie den Blicken der Gesellschaft entschwunden; nicht ein zitternder Grashalm bezeichnete den Weg, den sie genommen.
»Das sieht aus, als wollten sie sich aus dem Staube machen,« meinte Hendricks, »lieber wäre es mir, wenn ich auf meinem Pferde hinter den Tieren herjagen könnte.«
»Es wäre eine vergebliche Mühe,« erklärte der Oberst, »kein Pferd, überhaupt kein anderes Tier kann sie einholen.«
»Mir gefällt diese Jagdweise nicht,« sagte auch Ellen, »sie kommt mir wie ein Ueberfall von gedungenen Räubern vor. Wie fallen denn nun die Geparden über ihre Opfer her?«
»Sie schleichen sich von beiden Seiten an das Rudel heran und springen entweder gleichzeitig auf zwei Tiere oder treiben sie sich einander zu. Die Dressur ist eine sehr schwierige, und der Besitzer solcher Tiere ist sehr stolz auf sie.«
Jetzt konnte man sehen, wie zwei gelbe Körper durch die Luft sausten und das Rudel auseinanderstob. Die Gesellschaft bestieg die Pferde und ritt nach dem Platze, wo die beiden Geparden ruhig auf den gefällten Antilopen lagen und die Ankunft der Wärter erwarteten.
»Es ist schade,« sagte der Oberst zu Ellen, »daß Sie nicht sehen konnten, wie die Geparden die Tiere eigentlich töten. Sie springen nämlich auf die Beute, werfen sie durch die Wucht ihres schweren Körpers zu Boden und beißen sie nicht, sondern schlagen sie tot. Sie trommeln mit ihren Vorderläufen so lange auf den Kopf des Tieres, bis dieses kein Lebenszeichen mehr von sich giebt, dann erst beißen sie ihm die Schlagader durch.«
»Ist die Jagd schon zu Ende?« fragten einige der Damen mißmutig.
»Diese eben gesehene Szene kann natürlich beliebig oft wiederholt werden, die Geparden verstehen es, sich immer wieder an das Rudel heranzuschleichen.«
»Ich habe an dem einen Mal vollständig genug, ich bin kein Freund vom Zusehen. Wenn uns der Rajah nichts anderes bieten kann, dann danke ich für das Vergnügen,« sägte Ellen entschieden. »Wer von den Damen schließt sich mir an, um allein weiterzujagen?«
Alle waren dazu bereit, ebenso die Herren, und der Rajah befahl den Hindus, welche zum Treiben genügten, das umliegende Buschwerk abzusuchen und das aufgescheuchte Wild der Gesellschaft zuzutreiben. Man stieg von den Pferden und begab sich langsam nach einem mit dichtem Unterholz bewachsenen Platz, wo sich, der Versicherung der Eingeborenen nach, Wildschweine aufhalten sollten.
Ein Wald in Indien ist aber kein europäischer, wo man gemächlich zwischen den Bäumen spazieren gehen kann, sondern umgestürzte Baumstämme, mächtige Wurzeln und ein Gewebe von undurchdringlichen Schlingpflanzen hindern oft den Pfad und nötigen zu weiten Umwegen. Es dauerte nicht lange, so hatte sich die Gesellschaft auseinander gezogen, die Treiber waren schon vorausgeschickt worden, um einen möglichst großen Teil des Waldes zu umgehen, während sich die Herren und Damen mehr an dem Waldsaum hielten, damit sie etwa herausgetriebenes Wild, welches der offenen Wiesenfläche zufloh, zum Schuß bekommen konnten.
Am weitesten voraus waren der Oberst und der Rajah, die sich weniger um die Jagd zu kümmern schienen, als sich vielmehr in ein eifriges Gespräch vertieften. Dann kamen die unzertrennlichen Freundinnen, Ellen, Johanna und Jessy, in der Begleitung von Lord Harrlington und Abudahm, welcher sich der kleinen Gruppe angeschlossen hatte. Auch Hannibal war seinem Herrn gefolgt.
Der junge Indier hatte heute nicht die Kleidung eines reichen Eingeborenen an, sondern war, wie die anderen Herren, in einen Jagdanzug gekleidet. So machte er vollkommen den Eindruck eines Europäers, seine Unterhaltung, seine höflichen Manieren, nichts verriet an ihm, daß er kein Franzose – denn so sah er aus – sondern ein Indier war. Er suchte sich den Damen möglichst angenehm zu machen, erklärte ihnen die Eigentümlichkeiten der Landschaft und hielt sich, zum geheimen Aerger Harrlingtons, stets an der Seite Ellens.
Da teilten sich die Büsche, und das dumme Gesicht jenes englischen Burschen, den O'Naill mitgebracht hatte, ward sichtbar.
»Ist mein Herr hier?« fragte er.
»Wie du siehst, nein!« fuhr ihn der Indier grob an. »Packe dich weg!«
»Bleibe nur hier!« sagte aber Harrlington freundlich zu dem Burschen. »Wer weiß, wo der Kapitän ist, du bist waffenlos, und es ist riskant, ihn hier im Walde aufzusuchen.«
Der Indier warf dem Sprecher einen spöttischen Blick zu und erzählte Ellen eine Geschichte, wie er einst einen Kampf mit einem Jaguar bestanden, dem er nur mit dem Dolch zu Leibe gegangen wäre.
»Mir kommt es vor, als gleiche unsere Jagd mehr einem Spaziergang,« meinte Ellen nach Schluß seiner Erzählung, die Horatios Diener mit einem sonderbaren »Hm, hm,« begleitet hatte. »Ich habe mir eine Jagd in den indischen Wäldern viel interessanter vorgestellt.«
»Sie kann auch manchmal interessant genug werden,« sagte Harrlington, »wenn ich auch noch nicht wie Kapitän Abudahm einen Jaguar mit dem Messer gejagt habe, so habe ich doch schon manches Abenteuer mit Raubtieren bestanden.«
»Dort liegt eins,« rief plötzlich Jeremy, Horatios Diener, und deutete nach einem Buschwerk.
In der That sah man in demselben einen dunklen Körper liegen.
»Er scheint tot zu sein,« meinte Abudahm, »es regt sich nicht. Wir wollen es näher untersuchen.«
Sie näherten sich vorsichtig dem Busch und fanden in demselben ein verendetes Wildschwein liegen, vollständig zerrissen, aber das rauchende Blut quoll noch aus den schrecklichen Wunden hervor.
»Ein Tiger,« sagte Harrlington und wies auf den Abdruck einer Tatze in einem lehmigen Teil des Bodens. »Er muß eben erst seine Beute verlassen haben und kann sich noch nicht weit von hier entfernt haben.«
»Wir können die Verfolgung nicht aufnehmen, wir haben weder Hunde, noch Treiber mit, aber morgen kehren wir zurück und nehmen genügend Lente mit,« meinte Abudahm.
»O, warum nicht heute?« rief Ellen. »Diese Gelegenheit, einen Tiger zu jagen, lasse ich mir nicht entgehen.«
»Wie wollen Sie aber ohne Hunde der Spur folgen?« fragte Jessy.
Harrüngton deutete auf Hannibal. Dieser hatte sich auf die Erde gelegt und betrachtete genau den Abdruck der Tatze, dann stand er auf und untersuchte ebenso sorgfältig die Umgegend.
»Es ist kein Tiger,« sagte er dann.
»Was denn?«
»Eine Tigerin, und zwar eine säugende. Sehen Sie hier die kleinen Punkte im Boden, die haben die Tatzen eingedrückt.«
»Um so schlimmer,« sagte wieder Abudahm, »eine Jagd auf eine Tigerin mit Jungen ist sehr gefährlich, das angegriffene Tier ist furchtbar.«
»Hier ist mein Taschenmesser, wenn Sie keins bei sich haben, Herr Abudahm.«
Damit klappte Jeremy sein Messer auf und bot es dem Indier an, der den dreisten Burschen gar nicht beachtete.
»Ich warte nicht,« entgegnete die eigensinnige Ellen. »Diese Gelegenheit ist zu günstig, als daß ich sie mir entgehen ließe. Kommen Sie mit Jessy, und Jane?«
Die Damen willigten sofort ein, während Harrlington und besonders Abudahm dringend abrieten, ohne Hunde das Tier aufzusuchen, da man nie wissen könne, wo es sich versteckt hielt.
»So gehen wir allein! Wir werden es auch ohne Hunde zu finden wissen und mit ihm fertig werden.«
Da gaben die Herren nach und setzten ihre Büchsen in Bereitschaft. Es war allerdings verlockend, wie die übrigen Herren und Damen staunen würden, daß die kleine Gesellschaft statt eines Wildschweines einen Tiger erlegt habe.
Wie ein Jagdhund nahm Hannibal die Fährte auf, jeder Grashalm, den die Tigerin nur gestreift hatte, verriet ihm, wohin sie sich gewendet habe. Immer weiter drang der Schwarze in den Wald, hinter ihm Harrlington und Ellen, die beiden anderen Damen, Abudahm und Jeremy.
Jetzt fing der Waldboden zu steigen an, bis man an eine Blöße kam, wo er sich wieder jäh senkte, dadurch eine kleine Schlucht bildend.
»Wenn sich der Tiger irgendwo versteckt hält,« flüsterte Abudahm, »so ist er hier. Wir können nicht weiter vordringen; in diesem Loche ist man keinen Augenblick vor einem Ueberfall sicher.«
Hannibal war stehen geblieben und schaute fragend auf Harrlington, dieser wieder auf Ellen.
»Wollen wir etwa hier stehen bleiben?« fragte diese. »Weiter, Hannibal, zeige uns den Weg!«
»Hannibal geht auch nicht weiter, es hat keinen Zweck, denn in dieser Schlucht steckt er sicher. Miß Petersen kennt diese Jagd nicht. Hannibal aber kennt sie und will einen Tiger nicht mit den Händen fangen.«
Er drehte sich um und trat hinter die Jäger zu Jeremy, der sich eben wieder eine frische Pfeife stopfte.
»Wollen Sie die Jagd nicht aufgeben, Miß Petersen?« fragte Harrlington noch einmal.
»Nein, im Gegenteil. So nahe am Ziele lasse ich mir die Beute nicht entschlüpfen. Vorwärts, Jessy, Miß Lind! Jetzt stöbern wir jeden Busch durch und suchen hinter jedem Felsblock. Wer ihn zuerst sieht, benachrichtigt durch einen Ruf die anderen und wartet, bis sie bei ihm sind. Und dann immer einzeln schießen!«
Schweigend ging Lord Harrlington mit gespannter Büchse neben Ellen her, fest entschlossen, nicht von ihrer Seite zu weichen.
Aber wie sie auch jeden Platz und jede Felsenhöhle untersuchten, wo der Tiger ein Versteck hätte finden können, von dem Tiere war keine Spur zu sehen.
»Es wird zu seinen Jungen zurückgekehrt sein,« sagte Ellen.
Abudahm schüttelte den Kopf.
»Ein Tiger zieht sich, wenn er sich verfolgt weiß, nicht direkt nach seinem eigentlichen Lager zurück, weil er dadurch die Jungen in Gefahr bringen würde, sondern er sucht sich irgendwo anders zu verstecken, von wo aus er über den Platz wachen kann.«
Schon näherten sie sich dem jenseitigen Ausgang der Schlucht, als Johanna plötzlich ausrief:
»Dort in dem Busche liegt etwas Gelbes, das ist er!«
Man sah, nur etwa zwanzig Meter entfernt, in einem dichten Gebüsch, ein buntes Fell schimmern. Gefunden war der Tiger.
Kaum war der Ruf Johannas verschollen, so knallte ein Schuß, und in weiten Sprüngen sah man den Tiger dem Ausgange der Flucht zufliehen.
Tadelnd blickte Ellen auf Abudahm, der den voreiligen Schuß abgefeuert hatte.
»Nun können wir noch einmal die Verfolgung aufnehmen, wenn sich uns überhaupt wieder eine so günstige Gelegenheit bietet. Besser als jetzt hätten wir es nicht treffen können.«
Als sie sich dem Busche näherten, bemerkten sie Blutspuren am Boden, die aber bald wieder aufhörten. Am Gebüsch selbst war eine kleine Blutlache, dann wurden die roten Tropfen immer seltener, bis sie endlich ganz verschwanden.
»Ich habe ihn getroffen,« jubelte der Inder.
»Aber nicht tödlich,« entgegnete Harrlington, »sonst würde der Tiger weiter geblutet haben.«
»Weiter,« rief Ellen, »ich will den Burschen noch heute vor meinen Füßen liegen haben!«
Kaum waren sie einige Schritte vorgedrungen, als in einiger Entfernung ein Knacken des Buschwerkes hörbar ward. Man vernahm, wie die Aeste bei Seite gebogen wurden und zurückschnellten, als dränge sich ein Körper hastig durch.
»Wer ist das?« rief Ellen. »Das ist doch nicht der Tiger.«
Da wurde schon über dem niedrigen Gestrüpp der Kopf eines Mannes sichtbar, bedeckt mit der Mütze eines englischen Soldaten. Der Betreffende schien große Eile zu haben, denn er strebte unaufhaltsam vorwärts, hatte aber die kleine Gesellschaft noch nicht gesehen.
»Leutnant Werden,« rief Ellen, die den Ankommenden zuerst erkannte. »Bleiben Sie zurück, um Gottes willen!«
Jetzt erblickte der Leutnant, der in Uniform war, die Jäger.
»Ich hörte einen Schuß fallen und ging der Richtung nach. Ist der Oberst bei Ihnen? Ich muß ihn sofort –«
Er kam nicht weiter.
Plötzlich sauste in großem Bogen ein gelber Gegenstand durch die Luft, ein Schmerzensschrei ertönte, begleitet von dem Schreckensruf der Jäger – und die Gestalt des jungen Leutnants war zwischen den Büschen verschwunden. Der Tiger war auf den Unglücklichen gesprungen und hatte ihn zu Boden geworfen.
Ohne sich zu besinnen, eilte Ellen als erste der Stelle zu, wo der Tiger sein Opfer niedergestreckt haben mußte, gefolgt von Harrlington, dem sich die übrigen anschlossen. Unter dem nächsten Busch konnten sie die Szene überschauen.
Da lag der junge Mann am Boden, und auf ihm stand, die funkelnden Augen grimmig auf die neuen Ankömmlinge gerichtet, den Rachen halb geöffnet, die eine Vordertatze etwas erhoben, der Tiger und stieß ein dumpfes Knurren aus.
Einen solchen Anblick kann man nicht beschreiben, er spottet der Feder; höchstens der Pinsel eines Malers könnte ihn wiedergeben.
Unter dem Banne des Blickes blieben die Personen wie erstarrt stehen, unfähig den Schrecken zu meistern, der sich ihrer bemächtigt hatte.
»Achtung! Der Tiger springt,« schrie Harrlington entsetzt.
Es war alles so schnell vor sich gegangen, daß keiner der Zuschauer dieses blutigen Vorgangs Zeit gefunden, auch nur die Büchse an die Wange zu legen. Kaum hatten sie den Tiger einen Moment in der ersten Stellung erblickt, so lag er schon wieder geduckt am Boden, zum zweiten Sprunge bereit.
Eben wollte er sich emporschnellen, der nächsten Person zu, Miß Ellen, als aus deren Büchse ein Donner hallte. Ein kurzes, abgerissenes Brüllen erschütterte die Luft. Der Tiger streckte sich und rollte über den Körper des Leutnants hinweg – er war tot.
Jetzt eilten die Jäger nach dem bewußtlos am Boden liegenden Offizier, dessen Kleidung über und über mit Blut bedeckt war. Abudahm war der erste, der sich, während die anderen noch ganz erschüttert dastanden, mit dem Verwundeten, oder vielleicht auch Toten beschäftigte. Er kniete nieder, beugte sich über den Regungslosen und knöpfte ihm den engen Waffenrock auf.
Plötzlich nahmen Abudahms Augen einen merkwürdigen Ausdruck an, er warf einen Blick auf die sich ihm eben Nähernden, beugte sich dann weit nach vorn über, als wollte er die Wunde besichtigen und richtete sich wieder auf.
»Tot,« murmelte er verstört, als wisse er nicht, was er eben sagte.
»Unsinn« rief Harrlington und riß das Jagdmesser aus der Scheide. »Ueberzeugen Sie sich doch erst von der Art der Verletzung!«
Ohne weiteres schnitt er dem Leutnant Weste und Hemd auf, wischte mit seinem Taschentuch vorsichtig das Blut ab und betrachtete die Wunden.
»Er lebt,« sagte er freudig, »er atmet noch. Schnell, Abudahm, rufen Sie Ihre Leute zusammen, daß sie den Ohnmächtigen nach dem Fort tragen.«
Der Indier entfernte sich eiligst, als wolle er möglichst schnell diesen Ort verlassen.
»Gott sei Dank!« sagte Ellen. »So ist Aussicht vorhanden, daß er am Leben bleibt! Sind seine Wunden schlimm?«
»Ja,« entgegnete Harrlington, »die Schulter ist furchtbar zerfleischt, weniger die Brust, sonst würde er nicht mehr leben. Geben Sie mir Ihre Taschentücher, meine Damen; Hannibal sucht schon Kräuter, er versteht sich auf solche Sachen. Wir wollen ihm wenigstens einen Notverband anlegen, um die Blutung zu stillen, mehr können wir jetzt nicht für ihn thun.
»Was mag den Unglücklichen nur hergeführt haben?«
Alle beschäftigten sich mit dem noch Bewußtlosen, mit Ausnahme von Johanna und Jeremy, zwischen denen nach dem Weggang des Inders eine stumme Verständigung erfolgt war.
Kaum hatte sich Abudahm aus der knieenden Stellung erhoben, so begegneten sich beider Augen zu gleicher Zeit, und verständnisvoll blickten sie sich einen Moment an. Johanna verwundert, Jeremy pfiffig, und als des Inders Gestalt hinter den Büschen verschwunden war, da kroch auch mit einem Male Horatios Diener mit der Geschmeidigkeit einer Schlange in das Buschwerk und hatte sich sofort den Blicken Johannas entzogen, die sich jetzt ebenfalls dem Verwundeten zuwendete.
Nach kurzer Zeit kam die ganze Jagdgesellschaft an dem Ort zusammen, geführt von Abudahm. Die Eingeborenen flochten schnell aus Aesten und Zweigen eine Trage, um auf dieser den bewegungslosen Körper des jungen Offiziers nach dem Fort tragen zu können.
In der engen Schlucht, welche zu beiden Seiten von jäh emporsteigenden Felsen eingeschlossen wurde, standen die Herren und Damen umher und ließen sich von denen, welche der Szene beigewohnt hatten, diese erzählen. Auch Abudahm und der Rajah unterhielten sich von den übrigen etwas entfernt, während der Oberst, seine Nichte und Kapitän O'Naill von dem jungen Offizier sprachen.
»Was mag nur den jungen Leutnant Werden dazu bewogen haben, sich hierherzubegeben?« fragte der Oberst den Kapitän, »und noch dazu im Dienstanzug? Sein Pferd ist vor dem Eingang der Schlucht gefunden worden.«
Horatio schüttelte bedenklich den Kopf.
»Jedenfalls wollte er Ihnen eine Bestellung machen, Lord Harrlington. Haben Sie nicht ein Schreiben bei dem Verwundeten gefunden?«
»Diese da, welche neben ihm liegen,« entgegnete Harrlington, der das Anfertigen der Tragen beaufsichtigte.
Die beiden Offiziere suchten unter den Papieren, aber es waren nur solche, welche dem Leutnant selbst gehörten.
»Merkwürdig,« murmelten beide, »dann war's ein mündlicher Auftrag.«
»Oberst,« flüsterte da eine Stimme neben Walton, »geben Sie acht auf Abudahm; er hat dem Leutnant etwas aus der Tasche genommen.«
Erstaunt blickte sich der Oberst um und sah hinter sich Johanna stehen.
»Wissen Sie das genau, Fräulein, haben Sie es gesehen?«
»Ich sah nur, daß er sich so über den Verwundeten beugte, als wolle er uns seine Handbewegungen verbergen. Er hat irgend etwas gethan, was er uns nicht wissen lassen wollte.«
»Hölle und Teufel!« knirschte der Oberst. »Wo ist der Schuft, daß ich ihn züchtigen kann.«
Er blickte sich vergebens um; weder der Rajah, noch Abudahm waren in der Schlucht zu sehen, sie mußten dieselbe unbemerkt verlassen haben.
»Was bedeutet das?« schrie der Oberst.
»Das bedeutet,« ließ sich da die tiefe Stimme des Rajah, hoch oben vom Felsen vernehmen, »daß du, Oberst Walton, und deine Gefährten meine Gefangenen sind. Die Festung Sabbulpore ist in meinen Händen.«
Mehr verwundert, als erschrocken über den Sinn dieser Worte richteten sich aller Augen nach oben. Doch wohin sie auch sahen, von allen Seiten starrten ihnen die Mündungen einer doppelten Reihe von Gewehren entgegen.