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Im Jahre 1869 wurde der Schiffahrt eine Verkehrsstraße übergeben, deren Anlegung einst der weitsichtige Napoleon I. für das größte Ereignis in der Weltgeschichte erklärt hatte. Denkt die Gegenwart, denen sie bereits etwas Bekanntes ist, auch anders darüber, so hat sie doch im Seehandel einen vollkommenen Umschwung bewirkt.
Ein geistreicher Franzose, der Ingenieur Lesseps, war es, der zuerst energisch mit dem Plane umging, die enge Verbindung zwischen Afrika und Asien zu durchstechen, er bewies durch Rechnungen, daß der verschieden hohe Wasserstand des roten und des mittelländischen Meeres, welche die Landenge zu beiden Seiten bespülen, keine Schwierigkeiten bereiten würde, hatte ja doch wahrscheinlich schon einmal eine Wasserstraße hier existiert, wie die zahlreichen Salzseen auf dem Isthmus bezeugten, und schritt nach Aufbringen des nötigen Geldes an's Werk.
Was für eine Ersparnis die Dampfer, welche von europäischen Häfen nach Asien, nach der Ostküste von Afrika und nach Australien fahren, durch den Kanal haben, möge nur eine einzige kleine Rechnung zeigen.
Um die Kosten für die fortwährende Ausbaggerung des Kanals – weil derselbe an Wüsten grenzt, droht er wieder zu versanden, wenn der lose Sand nicht ununterbrochen ausgeschöpft wird – zu decken, ebenso den Gehalt der angestellten Beamten und so weiter zu bestreiten, muß natürlich von jedem Schiff ein Durchgangszoll erhoben werden.
Er wird nach der Tragkraft der Schiffe berechnet, und zwar kostet die Tonne – 20 Centner – etwas mehr als 10 Mark. Selbst kleine Dampfer haben aber eine Tragkraft von 2000 Tonnen, sodaß sie also für eine einzige Durchfahrt etwa 20,000 Mark bezahlen müssen, für jeden Passagier noch 5 Mark extra.
Würde ein Dampfer diese Summe nicht ausgeben wollen, sondern lieber um das Kap der guten Hoffnung, die Südspitze Afrikas, seinem Ziele zufahren, so braucht er einige Wochen länger, hat also viel mehr für Kohlen, Gehalt und Beköstigung der Mannschaft und so weiter auszugeben, was die oben angegebene Summe bedeutend übersteigt. Daher fährt kein Dampfer, der von Europa nach dem indischen Ozean bestimmt ist, die alte Wasserstraße, sondern nur durch den Suezkanal.
Die Segelschiffe, deren einzigste Triebkraft der Wind ist, nehmen natürlich nicht diesen kostspieligen Weg, sondern segeln nach wie vor um das Kap der guten Hoffnung. Nur sehr selten sieht man einmal ein solch stattliches Fahrzeug mit hoher Takelage durch den Kanal schleppen, sie haben dann gewöhnlich eine Ladung, welche man lieber einem Segler als einem Dampfer anvertraut, so zum Beispiel feuergefährliche Sachen, auf deren Fracht die zum Durchfahren des Suezkanals nötige Summe natürlich geschlagen werden muß.
Von einem kleinen Dampfer wurden zwei durch Stahltaue aneinander gebundene Segler geschleppt, deren schlanker, zierlicher Bau nicht auf Frachtfahrzeuge schließen ließ. Und dennoch befanden sich an Bord des ersteren, größeren Schiffes feuergefährliche Dinge, nämlich die Augen der Matrosen, welche an dem kupfernen Geländer lehnten, teils das Panorama der Wüste betrachtend, teils sich mit der Mannschaft der hinter ihnen fahrenden Brigg unterhaltend.
Es waren die ›Vesta‹ und der ›Amor‹, deren Besatzungen das Bezahlen des Durchfahrtsgeldes keine Kopfschmerzen machte.
Streng nach Vorschrift dampfte der kleine Schlepper, den Kanallotsen an Bord, vier Knoten in der Stunde, das heißt eine deutsche Meile, also sehr langsam, um einem ihm begegnenden Schiffe rechtzeitig ausweichen zu können.
Der Kanal ist nicht so breit, um zwei Schiffe aneinander vorbeizulassen, von einem großen Passagierdampfer könnte man sogar zu beiden Seiten an's Ufer springen, aber aller zwei Meilen sind sogenannte Stationen angebracht, Ausbuchtungen, in welchen das Schiff, welches eine solche zuerst erreicht hat, dem ihm begegnenden ausweichen muß. An jeder Station befindet sich ein Turm, von dem aus ein Beamter die Hälfte des Weges bis zur nächsten Station beobachtet und dem Schiff, welches in die Bucht einfahren soll, das Flaggensignal dazu giebt.
Außerdem dürfen die Dampfer, welche keinen elektrischen Scheinwerfer an Bord haben, nicht des Nachts fahren, sondern müssen während der Dunkelheit in einer Bucht liegen bleiben.
Das gleiche Schicksal hatten also der ›Amor‹ und die ›Vesta‹ zu erwarten.
Eben unterhielten sich einige Damen, darunter die Kapitänin, welche bereits einmal den Suezkanal passiert hatte, über diese Thatsache.
»Wo werden wir die Nacht zubringen? Im großen Bittersee?« fragte eines der Mädchen.
»Ich glaube kaum, daß wir so weit kommen werden,« erwiderte Ellen. »Meiner Berechnung nach müssen wir zwischen dem Bittersee und Kautare, einer Poststation, wo auch die von Afrika nach Arabien einwandernden Karawanen übergesetzt werden, anlegen.«
»Wann erreichen wir wieder die offene See?«
»Morgen Nachmittag bestimmt. Es ist eine traurige Gegend, Sand, nichts als Sand, höchstens hier und da etwas elendes Buschwerk – und dennoch wohnen Tiere, sogar Menschen hier.«
»Und haben ihre Heimat auch lieb,« ergänzte Johanna.
»Sie halten sie für den schönsten Ort der Erde,« sagte eine andere.
»Was mögen nur die Herren da drüben haben? Sie wollen sich ja halb tot lachen,« unterbrach jemand eine kurze Pause in der Unterhaltung.
Die Damen wandten ihre Aufmerksamkeit der Brigg zu, auf der eine Gruppe Herren um Williams standen, der allerlei seltsame Grimassen schnitt, Bocksprünge machte und unartikulierte Töne ausstieß.
»Natürlich ist es Sir Williams, kein anderer; in dessen Kopf möchte ich einmal hineinsehen können. Aber er ist der beste Mensch und zuverlässigste Freund, den es auf der Welt giebt,« sagte Miß Thomson.
»Sie scheinen ja außerordentlich viel auf ihn zu halten,« lächelte Ellen.
»Ich sage nur die Wahrheit,« entgegnete Miß Thomson, errötete aber über und über.
»Was mag eigentlich der Grund gewesen sein, daß vier der Herren in Port Said den ›Amor‹ verließen und mit der Bahn wegfuhren? Rätselhaft ist es auch, daß die anderen Herren durchaus nicht mit der Wahrheit herauswollen.« – »Haben Sie jemanden darüber gefragt?« – »Ja, Lord Hastings.«
»Da sind Sie gerade an den Richtigen gekommen, der angelt bereits geschlagene sieben Stunden, läßt sich das Essen hinbringen und fährt jeden grob an, der ihn sonst stört,« lachte ein Mädchen.
»Einer Dame gegenüber wird er wohl etwas höflicher gewesen sein!«
»Unhöflich war er zwar nicht, aber immer noch grob genug, und als sich ein Fisch seinem Köder näherte, hörte er mich gar nicht mehr an.«
»Wenn Sie ein Geheimnis der Herren erfahren wollen, so brauchen Sie mir dies nur zu wissen zu geben, ich besitze den Schlüssel dazu. Passen Sie auf, in fünf Minuten will ich es gelöst haben,« sagte Miß Thomson und schritt dem Hinterteil des Schiffes zu.
»Sir Williams,« rief sie, »bitte, kann ich Sie für eine Minute sprechen?«
Der Angerufene hörte sofort mit seiner Vorstellung auf, legte das Gesicht in möglichst ernste Falten und leistete eiligst der Aufforderung Folge.
»Was wünschen Sie, Miß Thomson?«
»Sie führen dort wohl einen Indianertanz auf?«
»Aber Miß, haben Sie denn nicht gehört, daß ich eine Rede gehalten habe?«
»Nein, wirklich nicht. Ich glaubte eher, Sie versuchten, einen Orang-Utang nachzuahmen!«
»O! Sie kennen doch den englischen Kanzelredner Mister Flamming?«
»Ich habe schon von ihm gehört, er soll ein wunderlicher Kauz sein.«
»Nun, in dessen Stil habe ich gepredigt. Etwas Gliederverrenkung ist dabei unbedingt nötig.«
»Was ich noch fragen wollte, Williams – Sir Williams –«
»Bitte, nennen Sie mich einfach Williams, von allen berühmten Männern spricht man nur mit ihrem einfachen Namen. Wenn es Ihnen beliebt, dürfen Sie auch Charles sagen, das klingt viel hübscher.«
»So hören Sie doch endlich auf!« lachte das Mädchen. »Sagen Sie, wo sind die Herren geblieben, die in Port Said den ›Amor‹ verließen?«
»Sie sind gar nicht geblieben; sie sind abgereist.«
»Wohin aber, das will ich eben wissen!«
Williams zog ein schlaues Gesicht.
»Was geben Sie mir, wenn ich es Ihnen sage?«
»Das ist unhöflich.«
»Ist mir ganz egal! Ich darf es eigentlich nicht sagen; eine furchtbare Strafe droht dem, der das Geheimnis verrät. Aber schön soll es werden, Miß Thomson, reizend! Passen Sie auf, Sie fallen aus einem Entzücken in das andere!«
Jetzt hatte das Mädchen Williams so weit, wie es ihn haben wollte; er fing von selbst an zu plaudern.
»Warum denn über die herrliche Nacht?«
»Ja, auch das; es wird eine reizende Nacht, alles erleuchtet – halt, bald hätte ich es verraten, aber ich sage es Ihnen nicht, Sie erzählen es doch gleich den anderen Damen wieder. Wer das Geheimnis preisgiebt, darf heute abend nicht t ...«
»Was darf er nicht t ...«
»Taue mit Theer einschmieren.«
»Auch mir wollen Sie es nicht sagen? Mir, Ihrer Freundin? Für so schlecht hätte ich Sie nicht gehalten.«
»Ach, verehrteste Miß Thomson,« begann Charles mit kläglicher Stimme, »Sie machen nur das Herz furchtbar schwer.«
»Schreiben Sie es mir auf dann sagen Sie es nicht!«
»Auch das darf ich nicht, ich kann überhaupt gar nicht schreiben. Aber halt! Rätsel aufgeben ist nicht verboten. Hören Sie, was ist das? Es fliegt durch die Luft, es schwimmt auf dem Wasser und ist rund.«
»Völlig rund?«
»Rund, nur rund.«
»Dann weiß ich's nicht.«
»Ja, es ist ein bißchen schwer, ich will es Ihnen leichter machen, der erste Buchstabe ist b, der letzte l und der mittelste a.«
»Bal – Ball?«
»Mein Gott, Fräulein, ich bewundere Ihren Scharfsinn!«
»Wie? Heute abend soll ein Ball stattfinden?« rief das Mädchen erstaunt. »Sie scherzen wohl?«
»Pst, nicht so laut! Wenn es gemerkt wird, daß ich Ihnen das Geheimnis verraten habe, darf ich heute abend nicht mit Ihnen tanzen, und dann wäre Ihnen doch das ganze Vergnügen gestört.«
»Aber wo soll der Ball denn abgehalten werden? Wohl an Bord Ihrer Brigg?«
»Ach, der alte Backtrog,« sagte Charles verächtlich. »Nein, die vier Herren sind vorausgereist, um an einer Stelle über den Kanal Bretter zu legen, auf denen getanzt werden soll.«
»Auf Wiedersehen denn,« sagte Miß Thomson, die das alles nicht glaubte, lächelnd, »jetzt gehe ich zu den Damen und gebe ihnen Rätsel auf.«
»Miß Thomson,« flehte Charles, »machen Sie mich und sich nicht unglücklich.«
»Nun, was haben Sie denn herausgebracht?« fragten die Damen neugierig, als sich ihnen das Mädchen wieder zugesellte.
»Williams setzte mir heute doch einmal einen ganz energischen Widerstand entgegen,« antwortete die Gefragte, »nur soviel habe ich erfahren können, daß die Herren irgend eine Überraschung bereithalten, wahrscheinlich eine Illumination oder so etwas Aehnliches.«
Miß Thomson glaubte nicht daran, daß die Herren wirklich einen Ball arrangieren wollten, Charles hatte ihr dies nur weismachen wollen. Aber auch, wenn sie ihm getraut hätte, war sie doch zu diskret, um ein ihr anvertrautes Geheimnis zu verraten. Sie wußte recht wohl, welchen Einfluß ihre Bitten auf den gutherzigen Charles ausüben konnten.
»Dort taucht Kantare auf,« rief Ellen, »die Karawanen- und Poststation.«
Kantare macht Anspruch auf den Namen einer Ortschaft, besteht aber nur aus wenigen erbärmlichen Lehmhütten. Ein einziges Haus macht davon eine Ausnahme; es ist nach europäischem Stil erbaut und dient gleichzeitig als Postgebäude und als Hotel, um den mit den Karawanen reisenden Händlern nach dem beschwerlichen Wüstenmarsch einmal ein gutes Quartier bieten zu können.
»Das macht einen sonderbaren Eindruck,« sagte ein Mädchen und deutete auf das Firmenschild des Hauses. »Hier mitten in der Wüste wird die Benutzung eines guten franzosischen Billards empfohlen.«
In der That waren auf das Brett zwei gekreuzte Billardstäbe gemalt, und darunter standen die Worte: ›Gutes französisches Billard, die Stunde fünf Piaster.‹
»Sehen dort nicht zum Fenster die fehlenden vier Herren heraus und winken uns mit den Tüchern?«
»Sie wollten nur schnell einmal eine Partie Karambolage spielen,« rief Charles vom ›Amor‹ herüber.
In diesem Augenblick trat ein Postbeamter aus dem Hause und warf ein kleines Säckchen an Bord des Vollschiffes.
»Briefe für die ›Vesta‹!« rief er dabei.
Ellen hatte den Beutel geöffnet und sortierte die Briefe.
»Miß Petersen, Miß Murray, Thomson, Nikkerson, Lind – wahrhaftig, für jede ein Brief, und alle von der gleichen Hand geschrieben.«
Sie wurden aufgebrocheu und von den Mädchen gelesen, welche bald in ein fröhliches Gelächter ausbrachen.
Die in den Umschlägen befindlichen, zierlichen Billets enthielten je eine gedruckte Einladung zu einem heute abend im Hotel zu Kantare stattfindenden Ball von den englischen Herren. Die Damen waren überzeugt, daß der Verfasser der Einladung Charles Williams war; denn der Inhalt strotzte von Humor.
»Nehmen wir an?« fragte Ellen. »Ich allein habe nicht darüber zu entscheiden.«
»Natürlich nehmen wir an!« riefen die Damen einstimmig. »Ein Ball in der Wüste wird uns nie wieder geboten, den müssen wir auf alle Fälle mitmachen.«
»Der Lotse ist von Lord Harrlington bestochen, er legt schon hier an, obgleich wir noch einige Stunden fahren können.«
»Das macht nichts, uns treibt keine Pflicht. Tanzen wir in unseren Matrosenkostümen?« fragte eine.
»Nein, in Balltoilette, schlage ich vor,« meinte Ellen.
»Ein Glück ist es, daß es mehr Herren als Damen sind,« rief eine andere, »dann bleibt wenigstens keine von uns sitzen.«
»Unsere Schützlinge müssen natürlich auch mitkommen.«
»Gewiß.«
»Also fort, meine Damen! In die Kabinen! Wir haben nur noch zwei Stunden Ankleidezeit. Es ist sehr unrecht, daß uns die Herren so spät benachrichtigt haben.«
Noch lange unterhielten sich die Damen über das zu erwartende Fest, wahrend die Herren bereits alle an Land gesprungen waren und in den Zimmern des Hotels eifrig hantierten. Uebrigens enthielt dieses Haus im oberen Stock nur einige kleine Zimmer; unten die Gaststube bestand aus einem großen, schmutzigen Raum, der durch die vorausgereisten Herren einigermaßen in einen Saal verwandelt worden war, welcher sich zur Abhaltung eines Tanzvergnügens eignete. – –
Vor den Fenstern des Hotels zu Kantare standen die wenigen Bewohner des Dörfchens und lugten erstaunt durch die geöffneten Flügel in das Innere.
So etwas war ihnen doch in ihrem ganzen Leben nicht vorgekommen.
Da drinnen drehten sich nach den Klängen eines verstimmten Klaviers, einer Violine und einer Posaune schwarzbefrackte Herren und in Weiß gekleidete Damen in Paaren. Auf den primitiven Bänken, welche längs des Saales hinliefen, saßen andere, plauderten und ließen sich die von Arabern umhergereichten Erfrischungen schmecken.
Die Gesellschaft bestand aus den Besatzungen der ›Vesta‹ und des ›Amor‹.
Die Herren trugen vorschriftsmäßig Frack und weißen Schlips; die Damen aber waren nicht, wie sie erst ausgemacht hatten, in Balltoilette erschienen, sondern in einfachen, weißen Kleidern. Es war ihnen zuletzt doch unpassend erschienen, hier, mitten in der Wüste, in einer fast unbewohnten Gegend, mit den Herren in ausgeschnittener Taille sich Arm in Arm zu bewegen. Dennoch hätten sie sich in ihren einfachen Satinkleidern in jeder europäischen Gesellschaft sehen lassen können.
Um den Saal wenigstens etwas festlich zu schmücken, hatten die Herren noch vor der Ankunft der Damen ihn an der Decke und den Seiten mit bunten Lampions geziert; aber so primitiv auch alles war, die Fröhlichkeit wurde dadurch nicht beeinträchtigt. Gerade die eigentümlichen Verhältnisse trugen dazu bei, gute Laune und harmlose Scherze zu erzeugen, in denen besonders Williams Großes leistete.
»Miß Lind ist seit einiger Zeit recht trübe gestimmt?« fragte Lord Harrlington Ellen. Beide hatten neben dem Klavier Platz genommen, welches von einem der Herren unermüdlich bearbeitet wurde.
»Auch ich habe es schon gefunden,« antwortete Ellen. »Dieser Wechsel bei dem sonst immer heiteren Mädchen ist erst eingetreten, seit wir die Beni-Suef verließen. Ich kann mir den Grund hierzu nicht erklären.«
In diesem Augenblick ertönte draußen der schrille Pfiff einer Dampfpfeife.
»Ein durchfahrender Dampfer?«
»Nein,« entgegnete Harrlington, »es ist elf Uhr, und um diese Zeit legt das letzte Postboot in Kantare an.«
Eben wurde Johanna von einem Tänzer nach ihrem Platze geführt; sie dankte, setzte sich aber nicht, sondern schritt langsam, sich mit einem Fächer Kühlung zuwehend, durch den Saal der Thüre zu.
»Miß Lind ist mir das rätselhafteste Wesen, welches ich je getroffen,« sagte Ellen nachdenkend. »Sie ist so still und bescheiden und manchmal wieder in ihren Meinungen hartnäckig bis zum Eigensinn. Wird in einer Beratung der Vestalinnen ihrem Vorschlag wiedersprochen, so giebt sie nicht eher nach, als bis er angenommen ist, und wird er einstimmig abgewiesen, so geberdet sie sich wie außer sich. Allerdings kommt letzteres sehr selten, jetzt überhaupt nicht mehr vor; denn wir haben allen Grund, ihren Ratschlägen Folge zu leisten; sie ist auf jeden Fall die scharfsinnigste von uns allen.«
Der Lord lächelte.
»Wissen Sie etwas von ihrer Vergangenheit?« fragte er.
»Nichts weiter, als daß sie aus einer guter Familie in der Nähe der großen Seen Nordamerikas stammt. Miß Murray führte sie als jene Dame bei uns ein, welche damals bei dem Dammdurchbruch des Oberonsees eine großartige Bravour entwickelt hat, und das genügte, um sie sofort als Vestalin geeignet erscheinen zu lassen.«
Lord Harrlington drehte nachdenklich an seinem Schnurrbart, antwortete aber nichts.
Unterdeß hatte die Person, von der sich die beiden unterhielten, den Saal verlassen, um sich draußen etwas in der kühlen Nachtluft zu erfrischen.
Johanna merkte nicht, daß von dem Ufer des Kanals ein hochgewachsener Mann auf das Haus zuging, dann aber, als er die einsame Wandlerin bemerkte, seinen Schritt plötzlich hemmte.
Das Mädchen hatte sich wirklich, wie Harrlington zu Ellen sagte, seit einiger Zeit merklich geändert. Es schloß sich von seinen Freundinnen möglichst ab, verbrachte oft Stunden allein in seiner Kabine und gab nur einsilbige Antworten, ohne daß sich irgend eine der Vestalinnen, welche das geistreiche und energische Mädchen gern hatten, den Grund hierzu erklären konnte.
Träumend setzte es seinen Weg längs des Kanals fort, sich immer mehr von dem Hotel entfernend, ohne daß es dies beachtete. Es mußten traurige Gedanken sein, mit denen sich Johanna beschäftigte, denn der laue Wind vermochte nicht mehr die hervorquellenden Thränen zu trocknen. Sie drückte das Taschentuch an die Augen und schluchzte leise.
Da berührte eine Hand von hinten ihren Arm.
»Was fehlt Ihnen, Fräulein Lind?« fragte eine Männerstimme in teilnehmendem Tone.
»Können Sie nicht einen Teil Ihrer Sorgen auf meine breiten Schultern legen?«
»Herr Hoffmann,« rief Johanna erstaunt, noch ehe sie das Gesicht des Ankömmlings erblickte; sie kannte seine tiefe Stimme nur zu gut, eben jetzt hatte sie an ihn gedacht.
»Herr Hoffmann, Sie hier? Wir denken, der ›Blitz‹ liegt noch in Port-Said.«
»Er ist auch noch dort, ich fahre erst morgen durch den Kanal; wahrscheinlich nehme ich eine Dynamomaschine an Bord und lege die Durchfahrt nach dem roten Meere während der Nacht zurück.«
»Und was führt Sie jetzt hierher?«
»Sie, mein liebes Fräulein,« sagte der Ingenieur in herzlichem Tone. »Schon lange sehnte ich eine Stunde herbei, in welcher ich Sie einmal ungestört sprechen könnte; aber Miß Petersens Anordnungen machten dies fast ganz unmöglich. Nie trifft man einen ihrer Matrosen allein. Da erfuhr ich, daß die englischen Herren hier in Kantare eine Festlichkeit veranstalten wollten, und sofort beschloß ich, auch daran teilzunehmen, weil ich hoffte, dabei Gelegenheit zu finden, mit Ihnen einige Worte unter vier Augen zu wechseln.«
Johanna wurde sichtlich verlegen.
»Was ist es denn,« fuhr er zärtlich fort, »das Ihr junges Herz so traurig stimmt? Können Sie es nicht einem Freunde anvertrauen, der innigen Anteil, ja, mehr als dies, an Ihnen nimmt? Geteiltes Leid ist halbes Leid.«
Johanna schwieg und trocknete die Thränen.
»Halten Sie mich nicht für Ihren Freund, Johanna?«
Sie nickte, blieb aber eine Antwort schuldig.
Beide wandelten stillschweigend nebeneinander her, immer weiter von dem Hause fort, aus dem nur noch leise die Klänge der Tanzmelodien erschollen.
Es war eine wundervolle Nacht, wie man sie nur in südlichen Gegenden genießen kann. Der Vollmond beschien hell den gelben Sand der Wüste, ließ die Kiesel in seinen bleichen Strahlen blitzen und spiegelte sich in der silbernen Wasserfläche wieder. Ab und zu schnellte ein Fisch hoch empor, und zitternde Wasserringe zogen sich dann weiter und weiter, bis sie endlich den Uferrand erreichten und sich verloren. Wäre nicht noch der Schall der Posaune in die Ohren der Einsamen gedrungen, so hätte kein Laut die Stille unterbrochen, höchstens das Zirpen einer Zikade, aber gerade die entfernte Musik paßte vortrefflich zu der Landschaft, sie übte einen wunderbaren Zauber auf die Gemüter der beiden jungen Leute ans.
Nach einer langen Pause begann der Ingenieur, langsam und träumend jedes Wort betonend wieder:
»Es war am Oberonsee; der kalte Wintermorgen fing an zu dämmern. Wir hatten beide eine furchtbare Nacht hinter uns, Sie eine noch viel schwerere, als ich, denn mein gegen Wind und Wetter abgehärteter Körper empfand das lange Stehen im Eiswasser bei weitem weniger, als Ihr zarter Leib. Aber nie werde ich den Augenblick vergessen, als wir uns nach Vollbringung des Rettungswerkes am anderen Morgen wiedersahen; Sie hatten sich bereits umgezogen, denn für Sie war nichts mehr zu thun, ich hatte eben erst den letzten Balken einrammen lassen. Wir gaben uns die Hand, und Sie bemerkten, daß die meine stark blutete – ein Holzsplitter hatte sie zerrissen. Mit Ihren steif gefrorenen Fingerchen rissen Sie das Taschentuch entzwei und legten mir den ersten Verband an. Ich sehe es noch so deutlich, als wäre es erst gestern gewesen, wie Sie sich immer in die verklommenen Hände hauchten, weil sich der Faden nicht knoten lassen wollte. Wissen Sie es noch, Johanna?«
Das Mädchen lächelte unter Thränen.
»Dann nahmen wir Abschied und sahen uns erst in Konstantinopel in jenem Café wieder. Ich kann Ihnen nicht sagen, welcher Art meine Gedanken seit jener Zeit gewesen sind, wie ich mich nach Ihnen sehnte, und wie ich mich bei unseren Wiedersehen freute. Sie schrieben mir den Brief und baten mich, da auch ich mich nur auf Vergnügsreisen befinde, der ›Vesta‹ zu folgen, weil der Kapitänin derselben nach dem Leben getrachtet würde; ferner baten Sie mich, einen von Ihnen abgesandten Mann an Bord zu nehmen, welcher noch besser, als Sie, in diesen verwickelten Verhältnissen Bescheid wüßte, und ich erwartete ihn in Konstantinopel, allerdings vergeblich. Sie selbst gaben sich für eine Freundin der Miß Petersen aus –«
Der Ingenieur blieb plötzlich stehen und erfaßte Johannas Hand, welche heftig in der seinigen zitterte.
»Sieh, Johanna!« fuhr Hoffmann leise, eindringlich fort. »Du kennst mich nicht näher; unser Zusammentreffen war immer nur ein kurzes. Ich will Dir sagen, was Du von meinem Charakter zu halten hast; ich bin ein guter Mensch, soweit man das Wort gut auf diese Welt beziehen kann; ich halte das Gebot, daß man seinen Nächsten nicht verurteilen soll, aber einen Fehler verdamme ich unnachsichtlich; ich verachte, verabscheue den, der ihn besitzt und sich nicht die Mühe giebt, ihn abzustreifen; es ist Betrug, Heuchelei,«
Hoffmann hatte zuletzt erregt gesprochen. Jetzt fuhr er wieder in zärtlichem Tone fort:
»Sage mir nun, Johanna! Wie kommt es, daß du dich am Oberonsee für die Kammerzofe einer reisenden Gräfin ausgabst und ein halbes Jahr später als reiche, vornehme Dame in einen Klub eintratest, der sich nur aus den Töchtern der Geldaristokratie zusammensetzte?
Johannas Körper durchlief ein Zittern; mit gesenktem Kopfe blickte sie stumm vor sich nieder.
»Willst du es mir nicht sagen?«
Sie schüttelte ihr Haupt.
»Warum nicht? Hast du kein Zutrauen zu mir, oder bindet ein Geheimnis deine Zunge?«
Johanna brach in einen neuen Thränenstrom aus.
»Ich schäme mich vor Ihnen, ich bin –«
Sie stockte, als brächte sie das Wort nicht von den Lippen,
»Johanna, ich kenne dich besser, als du glaubst! Ich weiß, daß du nicht heucheln kannst, darum würde ich dir alles verzeihen –«
Da riß das Mädchen heftig die Hand aus der seinen.
»Nein, Herr Hoffmann,« rief Jane furchtbar erregt, als der Ingenieur ihre Hand wieder ergreifen wollte. »Sie täuschen sich in mir, ich bin so ein Mensch, den Sie verdammen; ich bin die größte Heuchlerin und Lügnerin, die unter Gottes Sonne lebt. Lassen Sie mich! Leben Sie wohl!«
Sie drehte sich um und rannte förmlich dem Hause zu. Doch im nächsten Augenblick war der Ingenieur wieder neben ihr und hielt sie bei der Hand fest.
»Johanna,« begann er im vorwurfsvollem, aber freundlichem Tone. »Warum schenkst Du mir kein Vertrauen? Weißt du nicht, daß ich dich liebe? Hast du es noch nicht gemerkt?«
Die Gefragte schluchzte krampfhaft auf.
»Herr Hoffmann!« stöhnte sie. »Lassen Sie mich! Quälen Sie mich nicht länger! Sie schenken Ihre Liebe einer Unwürdigen!«
»Vielleicht darum, weil du Detektivin bist?«
»Felix,« schrie sie auf, halb erschrocken, halb freudig.
»Vielleicht darum,« fuhr Hoffmann unbeirrt fort, »weil du zu diesem Geschäfte förmlich erzogen worden bist und deine Talente dazu anwendest, deine Eltern zu ernähren?«
»Felix,« jauchzte Johanna auf, »so verachtest du mich nicht, daß ich für das Spionieren bezahlt werde, wie Ellen sagt?«
»Nein,« erwiderte der Ingenieur und zog den Kopf des zitternden Mädchens an seine breite Brust. »Ich weiß jetzt, Johanna, Deine Lebensgeschichte; ich weiß, wie du während der Abwesenheit deines Bruders, welcher unter dem Namen Nikolas Sharp bekannt ist, die Armut deiner leichtsinnigen Eltern dadurch verbessert hast, daß du eine Stelle als Detektivin annahmst, wozu du die Fähigkeiten besitzest, und daß du noch jetzt eine Hauptkraft in jener Maschine bist, durch deren Lenkung dein begabter, scharfsinniger, aber zugleich auch rücksichtsloser Bruder die Welt in Staunen setzt. Ich verachte die Beschäftigung einer Detektivin durchaus nicht; das thuen nur thörichte, vorurteilsvolle Menschen; im Gegenteil, ich bewundere diese Leute, welche täglich ihr Leben aufs Spiel setzen, um durch Aufdecken und Verhindern von Verbrechen die Sicherheit der Gesellschaft zu bewirken.«
Immer mehr hatten sich Johannas Züge bei diesen Worten aufgeklärt.
»Ist dies deine wirkliche Meinung?« fragte sie noch zweifelnd. »So wäre meine Beschäftigung kein Grund, mich von dir zu trennen?«
»Nicht der mindeste!« Hoffmann zog die Geliebte fester an sich und küßte ihr die Thränen von den Augen. »Erfülle noch den Auftrag, den du von deinem Bruder erhalten hast! Begleite Miß Petersen auf ihrer Reise um die Erde, und dann werde ich ihn bestimmen, daß er sich nach einer anderen Gehilfin bei seinen gefährlichen Unternehmungen umsieht.«
»Ach, das Glück!« rief Johanna. »Manch' schlaflose Nacht habe ich verbracht, seit Miß Petersen mir so recht deutlich ihre Verachtung gegen die Polizeispione zu verstehen gab, obgleich ich eigentlich nie begreifen konnte, warum das Handwerk dieser Leute verächtlich genannt werden soll. Seit jenem Tage kam es mir erst recht zum Bewußtsein, wie elend ich war; denn, ach, Felix, ich habe dich geliebt von der Nacht an, da ich neben dir am Ufer des Sees stand, und jede Verhandlung, die ich mit meinem Bruder hatte, jeden Brief, den ich auf sein Geheiß hin heimlich erbrechen mußte, ließ mich immer deutlicher erkennen, wie unwürdig ich deiner war. Wenn schon die sehr freidenkende Ellen so übel von einem Detektiven denkt, was würdest erst du, ein ernster, wahrheitsliebender Mann von einem bezahlten Spion halten?«
»Denken wir nicht mehr daran!« unterbrach sie Hoffmann. »Es giebt Unterschiede, die scharf getrennt werden müssen. Die Absicht giebt den Ausschlag. Aber ich kann mir deine Gefühle denken, wenn du von der, über welche du wie eine Schwester wachst, geschmäht wirst, wenn auch unwissentlich. Doch jetzt laß uns die kurzen Minuten unseres Beisammenseins noch genießen! Wer weiß, wann sich während dieser Reise noch einmal Gelegenheit dazu bietet. Ich kann vielleicht dafür sorgen,« fuhr er plötzlich nachdenkend fort, »daß sie uns öfter beschert wird.«
Arm in Arm wanderten die beiden Liebenden langsam am Rande des Kanals entlang wieder dem Hotel zu, aus dessen geöffneten Fenstern noch immer die Klänge der Instrumente ertönten. Sie achteten nicht des herrlichen Abends; in ihren Herzen sah es noch schöner aus. Endlich war die Stunde gekommen, nach der sie sich schon längst gesehnt hatten.
»Kommst du mit in den Saal?« fragte Johanna.
Dann zuckte sie zusammen, sie entzog sich dem Arme des Ingenieurs.
»Die Gesetze der Vestalinnen,« hauchte sie, »verbieten mir, so lange wir uns auf dieser Reise befinden, mit einem Manne einen anderen als gesellschaftlichen Umgang zu pflegen.«
»Nun, nun,« lächelte Hoffmann, »diese unnatürlichen Vorschriften sind von den Damen sehr leichtsinnig gegeben worden; noch manch' eine von ihnen wird bitter bereuen, mit dafür gestimmt zu haben. Es ist jetzt nicht mehr nötig, mich in der Gesellschaft blicken zu lassen; ein Dampfboot wird mich nach Port Said zurückbringen, wo meine Anwesenheit erforderlich ist.«
Sie standen etwa noch zwanzig Meter von dem Hotel entfernt, sodaß sie von den Fenstern aus nicht gesehen werden konnten und nahmen Abschied voneinander.
»Wohin gedenkt Miß Petersen die ›Vesta‹ zu steuern?« fragte der Ingenieur.
»Noch ist es nicht bekannt. Wahrscheinlich nach Vorderindien. Vielleicht wird unterwegs Madagaskar ein Besuch abgestattet. Ich lasse es dich noch wissen.«
»Madagaskar? Zu dieser Jahreszeit? Johanna, das mußt du verhindern. Die Insel ist ja vollständig verseucht von jenem Gallenfieber, das Europäer unrettbar dahinrafft.«
»Ich werde es ihr auszureden versuchen.«
»Thue das und benachrichtige mich davon!«
Der Ingenieur zog aus seiner Brusttasche ein flaches, fein gearbeitetes Kästchen hervor.
»Unsere Korrespondenz miteinander war bisher noch sehr mangelhaft, aber nimm hier dieses Kästchen. Es enthält einen Signalapparat, wie er schon an Bord von Kriegsschiffen eingeführt, aber nicht immer verwendbar ist. Ich habe daran Verbesserungen vorgenommen, welche alle Mängel beseitigen. So lebe wohl, mein liebes Mädchen! Wache über Miß Petersen, wie ich über dich wachen werde.«
Ihre Lippen fanden sich noch einmal zum Kusse; dann schritt er dem Ufer, Johanna dem Hause zu.