Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Sir Charles Williams, Baronet von England, hatte von der Mutter Natur eine gute Dosis Humor geschenkt bekommen. Wer seine Bekanntschaft in einer Gesellschaft machte, der hielt den jungen, lebenslustigen, immer zum Scherzen aufgelegten Mann zwar für einen gutmütigen und witzigen, aber zugleich für einen etwas oberflächlichen Menschen, für einen sogenanten, harmlosen Taugenichts.
Wer ihn aber genau kannte – das waren allerdings sehr wenige – an Bord des ›Amor‹ zum Beispiel nur Lord Harrlington – der wußte, daß Charles außerhalb der Gesellschaft, wenn er sich allein befand, ein stiller, nachdenkender und für seine Bildung sehr sorgender Mensch war. Mit der Zeit hatte er sich eine Art ›lachende Philosophie‹ gebildet, nach welcher er lebte; er konnte tagelang sich in ernste Studien vertiefen, überlegen und lesen. Steckte aber nur einer seiner Bekannten den Kopf zur Thür herein, so legte er schnell das Buch zur Seite und empfing den ihm angenehmen Besuch mit einigen Witzen; wollte er aber nicht gestört sein, so behauptete er mit ernsthafter Miene, er müsse zählen, wie oft in einem Buche das Wort ›und‹ vorkäme und schob den Gast ohne weiteres zur Thür hinaus.
Ueberhaupt übte er über alle seine Kameraden eine Herrschaft aus, von der sie sich nichts träumen ließen. Seine Scherze wurden gern gehört, daß er ihnen aber in denselben Wahrheiten sagte, welche sie sich sonst nicht hätten gefallen lassen, merkten sie gewöhnlich nicht, was ihm auch ganz gleichgiltig war – er konnte die Wahrheit nicht verschweigen, hatte sich aber daran gewöhnt, sie in scherzhafte Worte zu kleiden. Selbst die sonst so scharfsinnige Ellen hatte ihn nicht verstanden, als er sich der erkrankten Miß Staunton zur Pflegerin anbot; sie hielt es nur für einen Spaß; er aber wollte ihr andeuten, daß sie, Miß Petersen, als Weib besser in eine Krankenstube passe, als zum Matrosen an Bord eines Schiffes.
Jetzt war Charles Williams zwar auch allein in seiner Kabine, aber sein Benehmen zeigte sich sehr auffallend. Er hatte einen Briefbogen in der Hand, drehte ihn hin und her, hielt ihn gegen das Licht, roch daran und legte ihn kopfschüttelnd auf den Tisch.
»Der Brief ist für mich, das ist ein Faktum,« murmelte er. »Ich heiße Charles Williams, und alle die mir darin gesagten Schmeicheleien passen auf mich. Aber was in aller Welt mag sie nur mit mir vorhaben? Ich muß den Brief noch einmal lesen, dann kann ich ihn auswendig.«
Halblaut las er:
»Geehrter Baronet!
Verzeihen Sie mir, wenn ich Sie mit einer Bitte belästige. Ich brauche zu einem Unternehmen, welches ich vorhabe, eine kühne, thatkräftige und begabte Person, auf deren Verschwiegenheit ich zugleich vollkommen rechnen kann. Die Herren des ›Amor‹ haben mir oft versichert, daß ich auf ihren Beistand in jeder Angelegenheit unbedingt zählen darf, aber zu dem, was ich plane, eignet sich nicht jeder; nur Sie, geehrter Baronet, besitzen die Fähigkeiten, welche dazu nötig sind. Ich bitte Sie dringend, heute abend acht Uhr in den Tempel-Anlagen am Quai zu sein, wo wir uns über alles Nähere besprechen können.
Mit vorzüglicher Hochachtung
Ellen Petersen, Kapitänin der ›Vesta‹.
»Hm, hm,« brummte Charles, »entweder hat Miß Thomson mich ihr vorgeschlagen, oder das Mädchen kennt mich besser, als ich sie. Nun, wir werden sehen, jedenfalls bin ich zur rechten Zeit in den Anlagen. Was ist die Zeit jetzt? Sieben Uhr, also noch eine Stunde.«
Er zündete ein Streichholz an und verbrannte den Brief.
»Herein,« rief er, als es klopfte.
Chaushilms schön frisierter Kopf ward in der Spalte sichtbar.
»Störe ich?« fragte er.
»Jetzt zufälligerweise nicht, kommen Sie nur herein!«
»Was war denn das für ein Eingeborener, der Ihnen vorhin den privaten Brief brachte?« fragte der neugierige Marquis.
»Nicht wahr, der Mensch hatte eine merkwürdige Physiognomie? Das war ein in Indien geborener Indier.«
»Nun ja, das meine ich nicht – von wem war der Brief?«
»Sie wissen doch, mein lieber Herzog,« sagte Charles und knöpfte sich den Kragen um, »daß ich schon früher in Bombay gewesen bin. Da lernte ich nun einen Mann kennen, der eine Pomadenfabrik hat, und dem kaufte ich gestern ein Rezept zu einer ganz vorzüglichen Pomade ab. Da liegt noch die Asche.«
»Warum haben Sie es verbrannt?«
»Ich hatte Angst, daß es Ihnen in die Hände fallen würde, und Sie dann den ganzen Tag Pomade fabrizierten und sich in die Haare schmierten. So – nun bürsten Sie mir einmal den Hut einstweilen ab! Ich danke – und nun den Rock. Fertig? Dann kommen Sie heraus, ich will an Land und muß abschließen.«
Er schob den Herzog zur Thür hinaus und ging an Deck.
Der mächtige Hafen von Bombay hat mit seinen zahllosen, bewimpelten Schiffen ein malerisches Aussehen. Der Handelsgeist des indischen Volkes beschränkt sich nicht nur auf die Hafenstraßen, auch zwischen den Schiffen treiben sich Boote der Eingeborenen umher, welche unausgesetzt den Besatzungen Früchte, Limonade, Eiswasser und Schmuckgegenstände, wie seidene Tücher, Korallenketten u.s.w. anbieten. Zeigt der Kapitän nur einmal die Schwachheit, einen der beturbanten Kaufleute an Bord zu lassen, so wird sein Schiff förmlich von ihnen überschwemmt. Indier, Chinesen, Malayen klettern von allen Seiten empor und lassen die bedrängten Matrosen nicht eher in Ruhe, als bis man ihnen entweder etwas abgekauft oder sie mit einigen drohenden Handbewegungen in ihre Boote zurückgejagt hat. Außerdem liegen auch noch eine Unmenge von Booten zwischen den Schiffen, deren Besitzer sich durch Ueberfahren nach dem Lande Geld verdienen.
Einem solchen winkte Charles.
»Nach der vierten Treppe,« sagte er zu dem Bootsführer in der Sprache der Eingeborenen. Williams war dieser vollkommen mächtig.
Geschickt ruderte der Mann zwischen den Fahrzeugen hindurch nach der bezeichneten Stelle, Charles zahlte eine kleine Silbermünze und stieg aus, er befand sich dicht in der Nähe der sogenannten Tempel-Anlagen, eines Gartens, in dem sich während des Abends hauptsächlich europäische Familien ergehen.
Charles setzte sich auf eine Bank und wartete, bis seine Uhr auf Acht zeigte, dann stand er auf und ging unter den Bäumen des Gartens auf und ab. Da erblickten seine Augen einige Vestalinnen und richtig, unter ihnen auch Miß Petersen. Sie sprach einige Zeit mit Johanna Lind; Charles sah, wie sie sich die Hände gaben und Ellen das in den Garten führende Thor durchschritt, während ihre Freundinnen nach dem Quai gingen.
»Ich wußte, daß Sie bestimmt kommen würden,« lächelte Ellen ihn an.
»Ich hätte mich hertragen lassen,« behauptete Charles.
»Lassen Sie uns in jene offene Laube treten; dort sind wir ungestört und brauchen keinen Lauscher zu fürchten.«
»Sie verlangen doch nichts Unrechtes von mir, gnädiges Fräulein?« fragte Charles ängstlich. »Das kann ich Ihnen vorher sagen, ich schlage niemanden tot, breche nicht ein und zünde keine Häuser an, dazu habe ich eine viel zu gute Erziehung.«
»Brauchen Sie auch nicht, Mut ist allerdings erforderlich.«
»Den habe ich. Verlassen Sie sich darauf! Verlangen Sie, daß ich mich in diesen Springbrunnen stürze, und im nächsten Augenblick liege ich darin. Soll ich?«
»Machen Sie keinen Unsinn, Sir Williams, sondern nehmen Sie sich einmal für zehn Minuten zusammen! Seien Sie ernsthaft!«
»Wie ein Leichengräber,« versicherte Charles und setzte sich neben Ellen auf die Bank.
Ellen begann ihm ihren Plan auseinanderzusetzen, und Charles zog ein immer erstaunteres Gesicht.
»Nun,« schloß Ellen, »wollen Sie oder wollen Sie nicht?«
»Wollen will ich wohl,« entgegnete Charles, »aber es geht nicht.«
»Warum nicht?« rief Ellen eifrig. »Sie sprechen indisch, sind ein gewandter Weltmann außerdem, was die Hauptsache ist, pfiffig und scharfsinnig. Warum geht es also nicht?«
»Danke!« Charles machte eine leichte Verbeugung. »Aber erstens haben Sie neulich zu einer Dame gesagt, ich bedürfe der Aufsicht, und in diesem Falle soll ich doch die Aufsicht führen. Das ist also schon ein Grund.«
Ellen errötete. Sie hatte diese Worte wirklich zu Miß Thomson gesprochen, als die Damen einzelne der englischen Herren kritisierten. Also war ihm ihre Meinung über ihn mitgeteilt.
»Ich nehme es zurück, man kann sich täuschen. Und der zweite Grund?«
»Ist der, daß ich dort, wohin Sie mich schicken wollen, wie ein bunter Hund bekannt bin.«
»Das ist eben recht gut, so wissen Sie schon mit den Verhältnissen Bescheid.«
»Aber die Personen kennen mich auch alle, wie soll ich da –«
»Das ist Ihre Sache,« unterbrach ihn Ellen, »mir ist von Ihrer Schlauheit so viel Rühmenswertes gesagt worden, daß ich Sie einmal auf die Probe stellen will. Also ja oder nein, wollen Sie oder nicht?«
»So gebe ich Ihnen mein Jawort, aber auf Kündigung,« sagte Charles und stand auf. »Wann soll ich die Reise antreten?«
»So bald wie möglich. Wann können Sie den ›Amor‹ verlassen?«
»Ich habe ihn schon verlassen.«
»Wie –?«
»Ich schreibe an Lord Harrlington eine Zeile und bleibe gleich fort. Mein Testament liegt in meinem Schreibtische in Oxford.«
»Diese Bündigkeit gefällt mir an Ihnen. Sie können auf einen Gegendienst rechnen. Adieu, Sir Williams, auf baldiges Wiedersehen!«
»Darf ich Sie nach dem Quai begleiten, Miß Petersen?«
»Ich danke! Miß Lind erwartet mich am Eingange des Gartens.«
Ellen grüßte freundlich und ging.
»Na, dann nicht,« sagte Charles, setzte sich wieder und brannte sich eine Cigarre an. Dann riß er aus einem Notizbuche ein Blatt Papier und fing an zu schreiben, ab und zu vor sich hinsehend.
»Darf ich Sie um Feuer bitten?« fragte da eine Stimme auf Englisch.
Charles blickte auf. Vor ihm stand ein Herr, dem Aussehen nach unverkennbar ein Engländer, das Kinn glatt rasiert, aber mit ein paar großen, sorgfältig gepflegten Koteletten. Er war sehr stutzerhaft gekleidet.
»Bitte,« sagte Charles und hielt ihm die brennende Cigarre hin.
Der Fremde beugte sich vornüber und zündete die seinige an. Dann nahm er ebenfalls auf der Bank Platz.
»Schönes Wetter heute!« begann er nach einer kleinen Weile, während Charles, vom Fremden beobachtet, eifrig weitergeschrieben hatte.
Charles warf einen prüfenden Blick nach dem Himmel, an dem kein Wölkchen zu sehen war.
»Es wird bald regnen,« antwortete er.
»Davon ist jetzt nichts zu merken.«
»Es wird aber doch; denn in zwei Monaten fängt die Regenzeit an.«
Charles wurde durch das Gespräch des Fremden im Schreiben gestört, er wünschte denselben von sich zu entfernen.
»Sagen Sie einmal,« fing dieser plötzlich an, »was wollte eigentlich vorhin Miß Petersen von Ihnen?«
Der Schreibende maß den Frager mit einem erstaunten Blicke, klappte das Buch zu, steckte es ein und drehte sich halb nach seinem Nachbar um.
»Eine offene Frage verdient auch eine offene Antwort: das geht Ihnen gar nichts an.«
Charles wollte aufstehen, da aber legte die Fremde die Hand vertraulich auf sein Knie, als wären sie schon alte Bekannte.
»Bleiben Sie, Sir Williams, Sie thun ja gerade, als kennten Sie mich nicht, und doch weiß ich bestimmt, daß Sie meine Visitenkarte bei sich haben.«
Charles quälte sich vergeblich, in dem ganz gewöhnlichen Gesichte seines Nachbars einen bekannten Zug zu entdecken. Der Mann war ihm völlig fremd.
»Zum Teufel,« schnauzte jetzt Charles denselben an, »ich kenne Sie nicht! Wer sind Sie?«
»Sie haben aber doch meine Visitenkarte bei sich,« versicherte der Fremde lächelnd.
»Was wetten Sie, daß ich Ihre Karte nicht bei mir habe?« fragte Charles.
Er verbrannte grundsätzlich jede ihm gegebene Karte; er führte nur seine eigenen bei sich.
Der Engländer läßt keine Gelegenheit vorbeigehen, um seine Lust am Wetten zu befriedigen.
»Hundert Pfund!«
»Well, ich nehme an! Sehen Sie Ihre Taschen nach!«
Charles griff zuerst in die Brusttasche und zog sein Notizbuch. Er öffnete es, und sofort fiel eine steife Karte heraus. Der Ueberraschte warf dem Fremden einen merkwürdigen Blick zu, dann las er:
»Nikolas Sharp.«
»Was,« schrie er, »Sie sind Nikolas Sharp? Wissen Sie auch, daß ich bereits seit einer halben Stunde immerwährend an Sie denke?«
»Gewiß! Sonst hätte ich Sie nicht aufgesucht und mir Ihre Grobheiten gefallen lassen.«
»Wie, Sie wissen, was für einen Auftrag mir Miß Petersen gegeben hat?« rief Charles erstaunt.
»Ich weiß es, aber ohne meine Unterstützung können Sie ihn nicht ausführen.«
»Bescheidenheit scheint keine Ihrer Tugenden zu sein. Weiß Miß Petersen auch, daß Sie mir Ihre Dienste anbieten?«
»Nein, und ich bitte Sie, sagen Sie Ihr nichts davon, überhaupt nicht, daß Sie mit Nikolas Sharp gesprochen haben. Uebrigens werde ich Ihnen auch nur unter der Voraussetzung eines Gegendienstes behilflich sein. Leisten Sie mir den nicht, so sehen Sie sich nach einem anderen um.«
»Aber, liebster Master Sharp,« sagte Charles, »in diesem Falle sind Sie gar nicht zu ersetzen, Sie sind doch jener Detektiv, der von den Gaunern das Kamel genannt wird?«
»Beinahe so! Nur ist es der Name eines kleineren Tieres, nämlich Chamäleon.«
»Also, Herr Chamäleon, sagen Sie mir, was Sie von mir verlangen, und geht es nicht über meine Kräfte, stehe ich Ihnen zu Diensten. Erst aber erzählen Sie mir, wie Ihre Visitenkarte in mein Notizbuch hineinkommt.«
»Sehr einfach,« lachte der Detektiv, »während ich mir vorhin die Cigarre an der Ihren anbrannte, schob ich sie zwischen die Blätter.«
»Ich habe gar nichts davon bemerkt.«
»Sollten Sie auch nicht! Doch nun passen Sie auf, und unterbrechen Sie mich nicht!«
Hatte sich Charles schon vorhin auf derselben Bank über den Auftrag von Miß Petersen höchlichst gewundert, so sperrte er jetzt bei der Erzählung des Detektivs Mund und Nase auf, wie man sagt, und als Nick Sharp endlich schloß, saß Williams eine Zeit lang sprachlos da.
»Nun, können Sie mir dazu helfen?«
»Mensch, sind Sie denn verrückt, so etwas von mir zu verlangen? Oder glauben Sie vielleicht, ich stehe zur rechten Hand der Königin von England, daß ich so mir nichts, dir nichts befehlen kann?«
»Das nicht, aber ich hielt Sie für den brauchbarsten aller Herren, die sich auf dem ›Amor‹ befinden.«
»Die ganze Welt scheint sich verbunden zu haben, mir heute Schmeicheleien zu sagen,« lachte Charles, »aber Sie fangen mich damit nicht. Eine solche Handlung verträgt sich nicht mit meinem Gewissen.«
»Gewissen hin, Gewissen her! Der Zweck heiligt die Mittel. Alles, was man so von Dienstehre u. s. w. spricht, sind meist nur leere Faseleien. Zieht der Herr Offizier den bunten Rock aus, dann zieht er auch einen anderen Menschen an. Sie wollen nicht?«
»Dann rechnen Sie auch nicht auf mich. Eine Gefälligkeit ist der anderen wert, so ist es bei mir Prinzip.«
»Aber lieber Herr Chamäleon, das ist doch etwas anderes.«
»Es ist ganz genau dasselbe.«
»Außerdem ist es noch sehr fraglich, ob der Betreffende einwilligt.«
»Dies zu bewirken, ist Ihre Sache.«
»Er wird es nicht thun.«
»Er thut es doch! Sie sind sein spezieller Freund, er hat von Ihnen eine ungeheuer hohe Meinung, und außerdem sind noch andere Gründe vorhanden, seine Einwilligung zu geben.«
»So.«
»Sie werden mir recht geben, nachdem Sie mit ihm gesprochen haben. Und nun bedenken Sie einmal, wie nützlich ich Ihnen dabei sein kann,«
»Das ist allerdings wahr. – Gut, ich werde es möglich zu machen suchen.«
»Bravo!« rief der Detektiv. »Wo kann ich den Herrn treffen, nachdem Sie ihn tüchtig vorbereitet haben?«
»Schlagen Sie einen Ort vor.«
In diesem Augenblicke kam ein Fakir, einer jener indischen, religiösen Fanatiker, welche sich meist durch Betteln ernähren, vorüber. Mit demütiger Gebärde streckte er den beiden die zusammengeballten Hände hin, sodaß man sehen konnte, wie die Fingernägel durch das Innere der Hand gewachsen waren. Die Fakire glauben, ein Gott wohlgefälliges Werk zu thun, wenn sie sich selbst quälen, und sind in derartigen Selbstmartern äußerst erfinderisch. Dieser Mann nun hatte, vielleicht schon vor vielen Jahren, gelobt, nie wieder die geballte Faust zu öffnen, um nichts Unreines mehr anzurühren, und so waren ihm schließlich die Fingernagel ins Fleisch gewachsen, bis sie auf der anderen Seite der Hand wieder zum Vorschein kamen.
Die beiden Herren reichten ihm einige kleine Geldstücke, welche er mit den Lippen aus ihren Fingern nahm.
»Hm,« brummte der Detektiv, als er sich entfernt hatte, »es ist schon dunkel, also eigentlich für Fakire nicht Zeit zu betteln. Nun, Sir Williams, wann kann ich Sie wieder sprechen?«
»Bis morgen abend will ich alles arrangiert haben. Doch schlagen Sie einen Ort vor, wo wir ungestört die Sache abmachen können, das heißt, wenn der Betreffende einwilligt.«
»Well, ich werde morgen abend um 8 Uhr im Hotel Alhambra in meinem Zimmer sein, das ist absolut sicher. Fragen Sie nur nach Master Chamberlin; unter diesem Namen bin ich hier eingetragen. Gute Nacht, Sir Williams, auf Wiedersehen!«
Im nächsten Augenblicke war der Detektiv von Charles' Seite verschwunden. Dieser Mann liebte es eben nicht, Zeit zu verlieren. Charles sah noch, wie er dem Fakir nacheilte, kurz hinter demselben den Gang mäßigte und ihn aufmerksam betrachtete.
Charles blieb noch so lange stehen, bis die beiden seinen Augen entschwunden waren; dann stand er auf und schritt dem Ausgange des Gartens zu.
»Charles,« rief plötzlich hinter ihm eine Stimme, und wie er sich umdrehte, sah er einen jungen Mann in der schmucken Uniform der englischen Dragoner vor sich stehen, von denen ein Regiment in Indien stationiert ist.
»Charles, du hier? So gehörst du mit zur Besatzung des ›Amor‹? Wir haben von eurem Unternehmen viel gelesen und uns lebhaft dafür interessiert. Sind auch Hendricks mit und Harrlington und Welton?«
Das alles sprudelte ohne Unterbrechung von den Lippen des erfreuten Offiziers.
»Horatio!« rief Charles, mehr erstaunt, als erfreut über das Wiedertreffen eines alten Freundes. »Plagt mich denn heute der Teufel? Eben wollte ich nach dem Kasino gehen, um dich dort aufzusuchen oder doch wenigstens deine Adresse zu erfahren, und nun läufst du mir von selbst in den Weg.«
Horatio O'Naill war ein alter Freund Williams', dessen Bekanntschaft er während seiner Dienstjahre in Indien gemacht hatte. Es ist allgemeine Sitte in England, daß die Herren der Aristokratie sich einige Jahre dem Vaterlande zur Verfügung stellen, und zwar dienen sie meist, nachdem sie in England selbst eine kurze Zeit als Volontär militärische Ausbildung genossen haben, in den Kolonien als Offiziere. Dann quittieren sie den Dienst und kehren nach England zurück. Ebenso wie Williams, hatten auch Hendricks, Harrlington und noch andere der Herren vom ›Amor‹ in Indien gestanden, andere wieder, wie Hastings und noch einige, in südafrikanischen Kolonien oder Gibraltar, Malta u. s. w. Daher kannte auch Horatio O'Naill, von Geburt ein Irländer, die meisten der Herren, aber er hatte an dem freien Soldatenleben ein solches Behagen empfunden, daß er nicht, wie seine Freunde, nach England zurückgekehrt, sondern im Dienste der englischen Armee geblieben war.
»Wie geht es deiner Braut, Horatio?« fragte Charles weiter. »Ich erfuhr vor einem Jahre von deiner Verlobung. Sie ist die Tochter eines englischen Großkaufmanns hier in Indien, nicht wahr?«
Horatio zog eine etwas betrübte Miene.
»Ich danke, sie befindet sich wohl, und wir sind glücklich. Seit einem Vierteljahr wohnt ihr Vater in Bombay, wo ich stationiert bin, und wo es für uns eine herrliche Zeit gab, da wir uns jeden Tag sehen konnten. Aber gestern kommt mit einem Male der Befehl, daß ich nach dem 4. Dragonerkontingent versetzt werden soll; in drei Tagen muß ich abreisen, und nun ist die schöne Zeit natürlich aus; denn unmöglich kann ich verlangen, daß Clarence, meine Braut, mir folgt. Doch hoffe ich, daß ich höchstens ein halbes Jahr fortzubleiben brauche; dann scheide ich aus der Armee und führe Clarence als mein Weib nach England heim.«
Charles war stehen geblieben.
»Wohin bist du kommandiert?« fragte er erstaunt. »Sage es mir noch einmal, deutlich und langsam.«
»Nach dem 4. Dragonerkontingent, Oberst Walton. Was ist da so besonders Merkwürdiges daran?« fragte Horatio, der das sonderbare Benehmen seines Freundes schon kannte, lächelnd.
»Nun schlage Gott den Teufel tot!« Charles griff sich an die Stirn. »Ich glaube, du Kerl stehst mit dem Satan im Bunde!«
»Was hast du nur, Charles? Du bist ja über meine Versetzung ganz erregt!«
»Komm', laß uns weitergehen! Ich dachte an etwas Anderes.« Charles hatte sich schnell wieder gesammelt. »Erzähle mir, lieber Horatio, wie es der Familie des Obersten Walton geht. Leben die beiden Mädchen noch bei ihm?«
»Gewiß, seine Nichte Rosa sowohl, wie Evelyn, eine entfernte Verwandte von ihm.«
»Hattest du nicht einmal ein Verhältnis mit der schönen Evelyn? Man munkelte etwas davon.«
»Das ist eben, was mir so furchtbar fatal ist,« rief Horatio ärgerlich. »Die glutäugige Evelyn hat sich allerdings einmal um mich bemüht, aber kein Entgegenkommen meinerseits gefunden. Ich liebe diese leidenschaftlichen Naturen nicht, die weder Maß, noch Ziel kennen. Nun ist meine Braut außer sich, daß ich nach dem 4. Dragonerkontingent komme und somit täglich im Hause des Obersten und mit Evelyn verkehren muß. Einem Mädchen kann man dies nicht übel nehmen.«
Charles stieß einen trillernden Pfiff aus, das Zeichen seiner höchsten Freude.
»Ich hab's, ich hab's!« rief er. »Horatio, ich kenne dich, du hast mich früher bei keinem Streich verlassen und wirst mir auch jetzt noch einmal die Hand zu einem bieten.«
»Ich glaube kaum. Als Bräutigam ist die Zeit vorüber, wo man sich mit lustigen Streichen abgiebt. Was hast du vor?«
»Es ist ein Streich, den ich gegen jemanden führen will. Willigst du nicht ein, mir zu helfen, so ist die Ausführung desselben unmöglich gemacht.«
»Wir werden sehen,« lächelte Horatio. »Ich bin, wie du weißt, in meinen Ansichten durchaus nicht so penibel, wie man eigentlich von einem Menschen verlangt, der in dem bunten Rocke steckt.«
»Topp!« rief Charles und schlug seinem Freunde auf die Schulter. »Du bist noch der Alte. Sage mal, Horatio, ist deine Braut eifersüchtig?«
»Ich glaube, ja.«
»Ausgezeichnet! Was meinst du, liebt dich Evelyn noch?«
»Sie schrieb mir bis vor einem halben Jahr immer noch; aber ich habe ihr die Briefe stets ungeöffnet zurückgeschickt, und zwar in Gegenwart meiner Braut – so unterließ sie dann ihre Korrespondenz. Deshalb also, mein lieber Charles, wenn du mich etwa als Köder benutzen und vielleicht so eine kleine Liebesszene arrangieren willst, dann hast du dich getäuscht. Auf so etwas lasse ich mich nicht mehr ein, das bin ich meiner Clarence schuldig.«
»Brauchst du auch gar nicht,« schmunzelte Charles. »Deine Braut wird sogar sehr zufrieden mit der Rolle sein, für die ich dich bestimmt habe. Dn sollst nämlich in der ganzen Geschichte nur eine Nebenfigur spielen.«
»Erkläre dich näher! Verlangst du nichts Unmögliches, so sage ich zu; verträgt es sich nicht mit meinen Anschauungen, so werde ich es dir kurz abschlagen.«
»Laß uns hier in dieses Hotel gehen! Bei einem Glase Wein läßt sich die Sache besser besprechen.«