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Während die heimliche Unterredung zwischen dem Piraten und dem maskierten Mann in jenem Häuschen stattfand, spielte sich in dem Prachtgebäude, welches dem ehemaligen Damenruderklub ›Ellen‹ als Versammlungsort diente, eine andere Scene ab.
Alle vierundzwanzig Mitglieder, welche sich noch diese Nacht an Bord der ›Vesta‹ begeben wollten, um früh ihre Reise um die Erde anzutreten, waren anwesend. Die Kapitänin, Miß Ellen Petersen, hatte sich eben erhoben, um eine Ansprache zu halten.
Miß Petersen war eine Waise. Nach dem Tode ihres Vaters, eines enorm reichen Pflanzers in Louisiana, hatte die Mutter noch einmal geheiratet, dann aber selbst bald das Zeitliche gesegnet. Mit ihrem Stiefvater, einem ehemaligen Abenteurer, der durch seine schöne Gestalt und seine bestechenden Manieren das Herz ihrer geliebten Mutter gefangen hatte, konnte sich Ellen nie befreunden. Ein unnennbares Gefühl stieß sie von dem ihr stets sehr liebenswürdig begegnenden Mann mit den stechenden, grauen Augen zurück und ließ sie schon in ihrem siebzehnten Jahre nach New-York ziehen.
Das Mädchen hatte in seiner Kindheit eine zügellose Freiheit genossen, wie sie nur der Aufenthalt auf einer Plantage gewähren kann. Wurde sie nicht durch Unterricht an das Haus gefesselt, so konnte man sie während der Tagesstunden zwischen den Cow-boys finden, jenen unübertrefflichen Rinder- und Pferdehirten der Prärie. Von diesen lernte sie, wie man das wildeste Roß zum Gehorsam zwingt, und wie man, während das Pferd über eine Hecke setzt, eine in die Luft geworfene Orange mit der Revolverkugel zerschmettert.
Als der verhaßte Stiefvater dem schon erwachsenen Mädchen einst Vorwürfe über dieses unweibliche Betragen gemacht hatte, war sie kurz entschlossen nach New-York gezogen, um ganz ihren Neigungen leben zu können.
Hier war ihr nicht so oft die Gelegenheit geboten, Rosse zu tummeln und andere körperliche Uebungen vorzunehmen, dafür aber fand sie bald Geschmack am Wassersport und gab sich diesem mit vollem Eifer hin. Schon nach einem Jahre hatte sie viele gleichgesinnte, junge Mädchen, die reich und unabhängig gleich ihr waren, um sich versammelt und gründete mit diesen den ersten Damenruderklub der Welt, von dessen Siegen oft in den Zeitungen zu lesen war.
Ihre neueste Idee war nun, mit diesen Freundinnen als Matrosen eine Reise um die Erde zu machen, um der staunenden Männerwelt zu zeigen, daß die Frauen, wenn sie wollen, jener in nichts nachstehen.
Miß Ellen stand jetzt im zweiundzwanzigsten Jahre. Ihr prächtiger, schlanker und doch voller Wuchs bezauberte jeden Mann, auch wenn er nicht in das schöne Gesicht sah, welches einer Venus zu gehören schien. Reiches, blondes Haar umrahmte die weiße Stirn und flutete über den Nacken. Aber das Herrlichste an Ellen waren ihre tiefblauen Augen, deren Strahlen bis in das Herz zu dringen schienen. Zwar waren diese Strahlen noch kalt, aber es schien nur die Gelegenheit zu fehlen, um sie in sengende, leidenschaftliche Gluten zu verwandeln.
»Meine Freundinnen,« begann sie mit einer wundervollen Altstimme, »es handelt sich also um die Aufnahme einer neuen Vestalin. Wir sind vierundzwanzig Mitglieder, und, wie wir berechnet haben, sind zur Bedienung der ›Vesta‹ unbedingt fünfzig Hände erforderlich. Eine geeignete Person haben wir bis jetzt noch nicht finden können. Nun stellte sich mir heute früh eine junge Dame mit dem dringenden Wunsche vor, uns auf der Reise begleiten zu dürfen. Empfohlen wurde sie mir von unserer Freundin Jessy Murray. Die Novize wartet im Nebenzimmer, und ehe wir zur Abstimmung schreiten, sollen Sie sie dem Aeußeren nach beurteilen. Ich bemerke gleich, daß Johanna Lind zwar in Amerika geboren ist, über von deutschen Eltern abstammt.«
Während Miß Ellen die Hand nach der Klingel ausstreckte, um die Wartende zu rufen, entstand unter den Damen ein mißmutiges Gemurmel, weil eine Deutsche an Bord der ›Vesta‹ kommen sollte. Doch ehe die Vorsitzende ihr Vorhaben noch ausführen konnte, sprang Jessy Murray auf.
»Halt!« rief das junge Mädchen mit blitzenden Augen. »Wenn Miß Petersen gegen Miß Lind ein Vorurteil erweckt hat, so will ich dies abschwächen. Johanna Lind ist in ganz Amerika nicht unter diesem, sondern unter ihrem englischen Namen, Jane Lind, bekannt.«
Triumphierend wartete die Sprecherin den Eindruck ihrer Worte ab.
»Ah,« riefen alle Damen fast gleichzeitig aus. »Jane Lind, die Heldin vom Oberonsee?«
»Ja, sie ist es. Johanna Lind wagte im Winter letzten Jahres siebenmal ihr Leben, um ebensoviele Personen aus den hochgehenden Wogen des Oberonsees zu retten.«
»Dann ist eine Abstimmung gar nicht nötig,« rief eine Dame.
»Nein, sie ist aufgenommen!« stimmten alle anderen bei.
Die Gerufene trat ein. Wenn ihre Aufnahme noch nicht beschlossen gewesen wäre, so hätte doch schon ihre Erscheinung diese bewirkt.
Unter all den schönen Mitgliedern des Klubs konnte sie Anspruch erheben auf den Titel der schönsten; dabei blickte das kluge, braune Auge so liebevoll und freundlich, daß es im Nu die Herzen aller Damen bezauberte. Niemand hatte dieser zarten, schmiegsamen Gestalt zugetraut, daß sie sich siebenmal den eisigen Fluten preisgegeben hatte, ohne nachteilige Folgen zu verspüren.
Mit herzlichem Willkommen wurde sie als neue Vestalin begrüßt. Jessy Murray hatte bereits erzählt, daß dieselbe in jeder Weise würdig sei, an Bord der ›Vesta‹ zu leben, da sie auch auf den großen Seen oder vielmehr Binnenmeeren Nordamerikas, genügend Gelegenheit gehabt hätte, sich mit dem Wassersport vertraut zu machen.
»Bevor wir jedoch,« nahm die Kapitänin wieder das Wort, »Sie definitiv als Vestalin aufnehmen können, ist es nötig, daß Sie unsere Gesetze kennen lernen. Glauben Sie diese nicht halten zu können, so steht Ihrem Rücktritt nichts im Wege. Die Regeln sind einfach, aber sehr streng, doch nicht streng für uns, die wir uns freiwillig Vestalinnen nennen. Sie kennen die Sage von der Vesta und deren Priesterinnen?«
Johanna bejahte lächelnd.
»Nun wohl! So wissen Sie auch, daß eine Vestalin, welche das Gelübde der Keuschheit brach, eingemauert wurde; ließ sie das heilige Feuer ausgehen, so wurde sie gegeißelt, desgleichen, wenn sie Ungehorsam zeigte. Dies gilt allerdings nicht für uns. Wer aber mir, der Kapitänin der ›Vesta‹, ungehorsam ist, wird an der Stelle, wo wir uns gerade befinden, sei es an der Küste, an einer Insel oder mitten auf dem Ocean, unwiderruflich vom Schiff ausgesetzt. Wer während dieser Reise das Gelübde der Keuschheit bricht, wird an den Mast gebunden, gegeißelt und im nächsten Hafen an das Land gesetzt. Dasselbe gilt für diejenige, welche etwas über unser Leben verrät, ein Reiseziel nennt oder überhaupt Mitteilungen über etwas macht, was unter uns besprochen wurde. Sind Sie damit einverstanden, Miß Jane Lind, so unterschreiben Sie dieses Formular, sodaß Sie sich später nicht über uns beschweren können.«
Die Vestalin ergriff die Feder, überlegte einige Sekunden und unterschrieb dann mit fester Hand den Vertrag.
Bis jetzt hatte die Vorsitzende mit ernster Stimme gesprochen, nun aber fuhr sie in ihrer gewöhnlichen, heiteren Weise fort:
»Der Zweck dieser Reise ist, der Welt den Beweis zu geben, daß wir Frauen den Männern in nichts nachstehen, daß wir ebensogut wie sie ein Schiff durch den Sturm leiten und jeder Gefahr Trotz bieten können, ohne mit den Wimpern zu zucken. Wer, wie ich, schon vielfach Seereisen gemacht hat, weiß, daß unbedingter Gehorsam auf einem Schiffe notwendig ist. Alle diese Bestimmungen sind nicht willkürlich von mir getroffen, sondern von allen beschlossen worden. In den einzelnen Hafenplätzen hört dieses Vorgesetztenverhältnis zu mir natürlich auf. Wir besehen uns die betreffende Stadt, unternehmen Ausflüge ins Innere des Landes, Jagdpartien u. s. w., für welche an Bord alle Vorbereitungen getroffen sind. Und nun seien Sie als Vestalin herzlich begrüßt.«
Sie schüttelte, ebenso wie die anderen, Johanna Lind, der neu angemusterten Vestalin, herzlich die Hand.
»Wie wird die Arbeit an Bord verteilt?« fragte diese.
»Ich bin für immer zur Kapitänin gewählt worden,« erklärte Miß Ellen. »Zeigt sich aber eine der Damen mehr für diese Stellung geeignet, so werde ich sie ihr freiwillig abtreten. Bei Segelmanövern arbeiten alle nach verteilten Rollen in der Takelage. Die Funktionen der beiden Steuerleute gehen die Reihe um, ebenso die der Köchin, bis sich im Laufe der Zeit zeigt, wozu jede der einzelnen Damen besondere Neigung besitzt. Die Mannschaft ist, wie auf jedem Schiffe in zwei Gruppen geteilt, in die Backbord- und in die Steuerbordwache, welche sich aller vier Stunden ablösen. Die Verteilung der Wachen machen die Damen unter sich aus, damit Freundinnen möglichst zusammenkommen. Das Schiff ist neu, sodaß außer den nötigen Segelmanövern und der täglichen Reinigung sehr wenig Arbeit zu thun sein wird. Für Unterhaltung, Musik, Bücher u. s. w. ist auf der ›Vesta‹, wie Sie finden werden, aufs beste gesorgt, desgleichen für Bequemlichkeit. Die einzelnen Arbeiten, wie zum Beispiel Zeugwaschen, muß sich natürlich jede selbst besorgen, wie auf anderen Schiffen die Matrosen.«
»Die ›Vesta‹ geht bereits morgen in See?«
»Ja, morgen früh. Wir begeben uns noch diese Nacht an Bord. Lassen Sie Ihre Sachen gleich nach dem Schiffe bringen! Ordnen Sie noch alles Nötige an, und kommen Sie selbst an Bord.«
»Kann ich schon jetzt erfahren, welchen Hafen die ›Vesta‹ zunächst anlaufen wird?«
»Gewiß. Wir haben keine Heimlichkeiten unter uns. Wir kreuzen durch den atlantischen Ocean, möglichst langsam, um uns im Segelmanövrieren zu vervollkommnen, fahren ins mittelländische Meer und laufen zuerst Konstantinopel an. Von dort begeben wir uns nach Alexandrien, machen einen Abstecher nach Kairo, besuchen die Pyramiden u. s. w. und segeln dann wieder der Straße von Gibraltar zu, unterwegs noch einige sehenswerte Plätze mitnehmend. Welchen Weg wir dann einschlagen, wird später beschlossen.«
Die jungen Mädchen plauderten und scherzten noch lange miteinander und malten sich die sie erwartenden Erlebnisse und Abenteuer mit den heitersten Farben aus. Hätten sie ahnen können, daß jetzt gerade der berüchtigtste Seeräuber und seine Matrosen, Hyänen in Menschengestalt, die Anker lichteten, um draußen auf dem Meere der ›Vesta‹ aufzulauern und sie samt ihrer Besatzung für immer verschwinden zu lassen!
Noch ehe sich die Damen an Bord ihres Schiffes begaben, entfernte sich Miß Jane Lind, weil sie ihre Koffer noch besorgen wollte, mit dem Versprechen, bald nachzukommen.
Als sie auf der Straße stand, seufzte sie tief auf und schlug die Augen zum Himmel empor.
»Gott, Du Allmächtiger,« stammelte sie, »gieb mir die Kraft, mein Vorhaben zu vollbringen! Schweres habe ich mir vorgenommen. Behüte Du mich, wie Du mich immer bis jetzt wunderbar beschirmt hast! Mut, Johanna, es muß sein, und es wird dir gelingen!«
Eilends entfernte sie sich, bestieg eine Droschke und fuhr in ein anderes Stadtviertel. Vor einem Postgebäude hielt der Wagen.
Johanna stieg aus, trat in den Schalterraum und spähte umher. Niemand außer ihr befand sich im Zimmer. Flüchtig warf sie ein paar Zeilen auf ein ausliegendes Depeschenformular und reichte dieses dem dienstthuendcn Beamten.
Der Telegraphenapparat klapperte, und im nächsten Momente durchliefen das Kabel des atlantischen Oceans die Worte:
»Lord Harrlington, London. Abreise morgen früh. Konstantinopel.«
Die neue Vestalin hatte den ersten Verrat verübt; die Geißel wartete ihrer.