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29. Die Brieftaube

Es war Dick, der von früher Jugend auf zwischen Indianern und in beständigem Kampfe mit diesen gelebt hatte, sehr leicht geworden, einen Weg über die hohe Stadtmauer zu finden, ohne dabei von einem Menschen erblickt zu werden, und ebenso sicher und unbemerkt erreichte er den ihm von Reihenfels beschriebenen Ort.

Der das Grabgebäude des Humayun umgebende Friedhof wurde von den abergläubischen Indiern, wie schon erwähnt, auf das ängstlichste gemieden, und seitdem das Gerücht aufgetaucht war, ein Agni triebe dort sein Wesen, man hätte das irrende Feuer dort erblickt, noch mehr als früher.

Dick hatte von Reihenfels die Weisung erhalten, falls er einmal in Gefahr kommen sollte, zum Gespensterspielen seine Zuflucht zu nehmen, und der pfiffige Trapper brauchte keine lange Auseinandersetzung, um das Nützliche dieses Ratschlages einzusehen.

Er fand schnell das Loch, in dem einst Reihenfels mit Jeremy versunken war. Ersterer hatte ihn gewarnt, sich in die Gänge zu begeben, denn auch der sonst außerordentlich scharfsinnige Trapper konnte sich in ihnen verirren. Nur in der Not sollte er Gebrauch von diesem Versteck machen.

Als er mitten in der Nacht das beschriebene Loch erreichte, versuchte er dennoch erst den Boden desselben zu betreten.

Seine in der Dunkelheit sehenden Augen erkannten den Grund, und er schätzte die Tiefe ganz richtig auf zwanzig Meter.

Da nahm er von seinem Gürtel eine zusammengewickelte Lederschnur, rollte diese auf und hielt in der Hand einen langen Lasso, wie er in Amerika zum Fangen von Pferden, Rindern und auch der Feinde gebraucht wird. Nachdem Dick die Schlinge an dem nächsten Baumstamm befestigt hatte, warf er das andere Ende in das Loch, glitt an der Lederschnur hinunter und erreichte auch glücklich den Boden. Er tastete an den Wänden herum und fand das von Reihenfels beschriebene, meterhohe Loch, durch das man in die unterirdischen Gänge gelangte. Schon wollte er wieder hinaufklettern, vorläufig mit dem Ergebnis seiner Untersuchung zufrieden, als er lauschend stehen blieb.

Aus dem Loch an der Erde schlugen Töne an sein Ohr, es klang wie das Murmeln von Stimmen.

Dick legte das Ohr an die Erde und horchte. Deutlich konnte er menschliche Stimmen vernehmen, aber nicht die Worte selbst.

Ohne Zögern beschloß er, trotz der Warnung von Reihenfels, sich in die Gänge zu wagen, und führte seinen Vorsatz sofort aus.

Ein Licht besaß er nicht, mußte seine Wanderung also in vollständiger Finsternis antreten.

Er tastete sich immer an der rechten Wand entlang und merkte sich genau, wenn er abschwenkte; so war es ihm allerdings möglich, sich zurückzufinden, aber es war sehr die Frage, ob dieser Weg ihn auch dahin führte, wo die Stimmen erklangen.

Er gelangte richtig in den hohen Gang, in dem er sich aufrichten konnte, hier aber hörte er nicht mehr das Murmeln, er wartete lange, ohne dasselbe wieder zu vernehmen.

Etwas anderes war es, was nun seine Aufmerksamkeit fesselte.

In einem Winkel stieß sein Fuß an etwas Weiches, als er es befühlte, fand er einige übereinandergeschichtete Decken, ferner, als er herumtastete, ein irdenes Trinkgefäß, einen Krug, ein haariges Fell und einige starke Äste.

Es war, als hätte sich hier jemand ein Lager hergerichtet, auf dem er die Stunden der Ruhe zubrachte.

Mehr konnte Dick nicht erforschen, und da das Stimmengemurmel nicht wieder erklang, Dicks Aufgabe auch eine ganz andere war, als sich mit dieser neuen Entdeckung zu beschäftigen, so machte er sich auf den Rückweg und gelangte sicher wieder an den Ausgangspunkt zurück.

Gewandt kletterte er an der Lederschnur empor, löste sie vom Baum, ergriff seine Büchse und begab sich dann nach dem nächsten steinernen Grab, in das er sich legte, ohne daß ihm die menschlichen Knochenüberreste darin Grausen einzuflößen vermochten.

Hier sollte er warten, bis Reihenfels kam, wenigstens drei Tage, falls derselbe so lange abgehalten wurde.

Dick hatte Proviant bei sich, überdies machte er sich nicht viel aus dem Hunger. Sein Magen war daran gewöhnt, tagelang ohne Nahrung und Wasser zu sein.

Er entzündete seine Pfeife, ohne den Schein des Feuers zu verbergen, schlug laut mit dem Stahl gegen den Feuerstein – jedes außergewöhnliche Geräusch und jedes Licht vermehrte ja nur die Angst der etwa anwesenden Indier – und schlief endlich über dem Rauchen ein.

Die Morgensonne erst weckte ihn, und Dick sah sich die Umgegend genauer an.

Vor ihm erhob sich das imposante Monument, das noch nicht ganz zerfallen, aber dem Verfall geweiht war. Das Gebäude mußte betreten werden können, wenigstens führten Türen ins Innere, auch Öffnungen wie Fenster gab es, vielleicht waren sogar richtige Zimmer darin.

Nach oben wurden diese Öffnungen immer kleiner, und durch die obersten flatterten zahlreiche Tauben ein und aus. Sie mußten also in dem alten Gemäuer nisten, und zwar sicher, denn Dick nahm an, daß sie hier vor Menschen Ruhe hatten und auch vor den Falken und anderen Stoßvögeln Schutz fanden, die hoch in der Luft ihre Kreise zogen.

Aber was war das? Erschien dort oben an einem Fenster nicht ein menschliches Gesicht? Dicks Augen trogen nie, es war wirklich der Kopf eines Mannes, und zwar eines Indiers. Was hatte der dort zu suchen? Am meisten wunderte sich der erfahrene Trapper, daß die Tauben sorglos durch das Loch huschten, an dem der Mann stand; sie fürchteten die Anwesenheit eines Menschen also nicht.

»Das ist ja seltsam,« murmelte er in den roten Bart. »Es ist nicht anders möglich, als daß dort ein Taubenschlag eingerichtet ist, in dem die Tierchen gepflegt werden. Habe damals nicht gehört, daß in diesem Grabmonument so etwas ist, und wüßte Reihenfels, daß da drinnen Menschen sind oder manchmal hineinkommen, um nach den Tauben zu sehen, so hätte er es mir gesagt, damit ich mich vor ihnen hüte.«

Er beobachtete den Mann, der nicht vom Fenster wich, und er hätte darauf schwören können, daß dessen Augen unausgesetzt dahin gerichtet waren, wo er, Dick, lag. Doch gesehen konnte er nicht werden, dafür sorgte er schon.

Die einzige Möglichkeit war die, daß der Indier in der Nacht das Blitzen von Dicks Feuerzeug gesehen hatte und sich nun überzeugen wollte, ob das vermeintliche Gespenst, der Feuergeist, auch noch am hellen lichten Tage sichtbar wäre.

Endlich verschwand der Kopf wieder.

Dick wartete bis Mittag, ohne daß Reihenfels gekommen wäre.

Um diese Zeit hörte er Schritte, aber sie waren auch nur für das scharfe Ohr des Trappers hörbar, denn jener Kuli dort, der sich schnell zwischen den Steinsärgen hin dem Grabmonument zu bewegte und sich dabei fortwährend furchtsam umsah, schlich auf den Zehen. Der Mann wurde offenbar von Gespensterfurcht geplagt und ging, wenn auch schnell, doch so leise wie möglich, um die am Tage schlafenden Geister nicht zu wecken.

Dick hütete sich, ein Lebenszeichen von sich zu geben oder sich sehen zu lassen.

Der Mann verschwand in dem Monument, und gleich darauf kamen an demselben hohen Mauerloche zwei Köpfe zum Vorschein. Beide Männer sprachen eifrig zusammen, und eine Hand deutete wiederholt dahin, wo Dick lag.

»Jetzt erzählt der erste dem zweiten von dem Licht, das er in der Nacht gesehen hat,« brummte der Rote. »Und nun rutscht dem zweiten das Herz noch vollends in die Hosen, das heißt, wenn der Kerl unter dem Frauenrock überhaupt eine Hose anhat!«

Das Gespräch oben wurde fortgesetzt, die beiden machten ängstliche Gesichter, während der unsichtbare Dick über die Bekleidung der Indier Betrachtungen anstellte. Er zog einen Vergleich zwischen ihnen und den Delawaren, einem Indianerstamme, dessen Männer ebenfalls Weiberröcke, aber ein männliches, furchtloses Herz im Busen tragen.

Dann änderte sich das Benehmen der Indier; sie blickten scharf in die Ferne, als musterten sie den Himmel, schrien dann lebhaft und schwenkten Tücher zum Fenster hinaus.

Dick sah ebenfalls nach oben, konnte aber nichts anderes erblicken als eine Taube, hinter welcher ein Sperber her war. Sonderbarerweise benutzte die Taube nicht ihre Schnelligkeit – die Tauben sind die am schnellsten fliegenden Vögel – um dem Räuber der Lüfte zu entgehen. Angstvoll flatterte sie hin und her oder beschrieb große Bogen, ohne dem sicheren Taubenschlag zuzustreben.

Der Sperber näherte sich ihr mehr und mehr, er wartete die Gelegenheit ab, bis er mit sicherem Stoß auf sie schießen konnte.

Warum aber floh die Taube nicht und verhielt sich so sinnlos, so daß sie in die Klauen des Würgers kommen mußte? Dick hatte bald die Ursache ihres Verhaltens gefunden. Noch ein anderer Raubvogel, mehr in der Nähe des Monuments, schwebte mit ausgebreiteten Flügeln in der Luft, und wäre die Taube direkt auf ihr Ziel zugeflogen, so wäre sie diesem zweiten Feinde in die Fänge geraten.

Deshalb flatterte sie teils im Bogen, teils im Zickzack hin und her, senkte sich dabei und suchte so den Boden, um dort ein Versteck zu erreichen.

Dies wußten auch die beiden Raubvögel, und so weit wollten sie die Taube nicht kommen lassen, denn ihr Element war die Luft, nicht die Erde.

Plötzlich, als sie den Moment für gekommen hielten, weil die Taube mit ausgebreiteten Flügeln einen Augenblick ruhig schwebte, stießen sie herab und erreichten das Opfer gleichzeitig.

Dick sah einen wirren Knäuel in der Luft, Federn stoben umher, dann stürzte die Taube flügellahm herab, während die beiden Rivalen krächzend und sich zankend in die Luft emporstiegen. Jetzt waren sie selbst aneinandergeraten. Einer der Räuber ließ seine Wut über die entgangene Beute am anderen aus. Die Taube aber stürzte zufällig gerade in das Grab, in welchem Dick lag.

Der Trapper nahm das Tierchen, aus dessen Rücken Blut floß, und untersuchte es. Das Herz Dicks war durch das rauhe Leben noch nicht verhärtet worden, er fühlte Mitleid mit dem unschuldigen Geschöpf, welches in seiner Hand zitterte und angstvoll die Augen verdrehte.

Ein Schnabelhieb hatte ihm eine tiefe Wunde beigebracht, an der es sowieso sterben mußte, die Fänge der Raubvögel hatten auch die Flügel zerfleischt und gebrochen.

»Ich kann dir nicht wieder aufhelfen,« murmelte Dick; »aber einen Liebesdienst will ich dir doch erweisen.«

Damit drehte er dem Vogel den Hals um – er brauchte wenigstens nicht mehr zu leiden.

»Was mögen die beiden Kerls dort nur mit dem Vogel zu tun haben?« dachte er dann weiter. »Sie wollten erst in ihrer Dummheit die beiden Stößer durch Schreien und Tuchwedeln verscheuchen, und nun sehen sie in einem fort hierher und deuten nach mir, oder vielmehr dahin, wohin die Taube gestürzt ist. Denn mich können sie doch nicht sehen, sonst würden sie sich wohl anders verhalten. Hm, die Taube muß für sie doch etwas mehr sein, als nur ein eierlegender und verspeisbarer Vogel.«

Er hob das vorhin achtlos fortgeworfene Tier wieder auf, und wie er es so aufmerksam betrachtete und in der Hand hin und her drehte, entdeckte er plötzlich eine weiße Schwanzfeder, auf welche ein seltsames Muster gezeichnet war.

Doch nein, das war kein Spiel der Natur, das waren künstlich mit Farbe oder Tinte aufgetragene Zeichen, Punkte und Striche, symmetrisch geordnet und sich oft wiederholend.

Kein Zweifel, diese Feder trug Schriftzeichen, waren doch die übrigen Schwanzfedern völlig weiß und fleckenlos! Dick konnte die Schrift nicht lesen, er hielt sie auch nicht für Indisch.

Aber eine Taube, welche beschriebene Schwanzfedern hatte? Dick richtete die Augen nach dem Grabmonument, aus dessen Fenster die beiden Indier noch immer nach seinem Versteck sahen, und plötzlich schlug er sich vor die Stirn, eine Ahnung ging in ihm auf.

Wahrhaftig, das war eine Brieftaube, von denen er schon hatte erzählen hören. Der aus dem Schlage entnommenen Taube wird entweder ein Briefchen um den Hals gebunden, oder man schreibt ihr gleich, was sicherer ist, die Nachricht auf eine Feder, läßt sie fliegen, und das freigelassene Tier findet mit Hilfe seines unglaublichen Orientierungssinnes immer wieder seinen Schlag, und wenn es auch tagelang oder Hunderte von Meilen weit davon entfernt ist.

Die Brieftaube wird da benützt, wo es keine andere Verbindung gibt; so nehmen zum Beispiel Nordpolfahrer, durch die Wildnis Reisende und Luftschiffer solche geflügelte Postboten mit, aber man verwendet sie auch im Kriege. Briefe und Depeschen können abgefangen werden, wenn die Verbindung nicht überhaupt schon gestört ist; die schnellfliegende Taube ist schon sehr schwer zu schießen, und man weiß doch auch gar nicht, ob sie eine Nachricht expediert.

Raubvögel können die Taube wohl erbeuten, doch wie selten mag dieser Fall einmal eintreten. So ist die Brieftaubenpost im Kriege die sicherste und nach dem Telegraphieren die schnellste.

Dick war darüber zwar nicht besonders genau orientiert, er hatte nur schon von Brieftauben gehört, doch sein scharfer Verstand sagte ihm, daß hier eine Kriegsdepesche vorlag, in einer Geheimschrift geschrieben.

Nun konnte er sich auch das Benehmen der beiden Indier dort erklären.

Sie hatten die von den Sperbern verfolgte Taube als eine der ihrigen erkannt; vielleicht erwarteten sie eine Depesche; naiv suchten sie die Raubvögel durch Schreien zu verscheuchen, sie sahen die Taube herabstürzen, wußten, wo sie lag, wagten aber in ihrer Gespensterfurcht nicht, den berüchtigten Friedhof zu betreten und die wichtige Taube zu holen.

»Wenn Reihenfels kommt, werde ich ihm die Feder zeigen,« dachte der Trapper, riß sie aus und steckte sie zu sich, »der ist so ein Tausendkünstler und kann dergleichen enträtseln, wie mir Charly erzählt hat. Dieser Krieg geht mich eigentlich nichts an, meinetwegen mögen sie sich gegenseitig abschlachten; aber vielleicht steht doch etwas Wichtiges auf der Feder.

Also das dort ist eine sogenannte Brieftaubenstation! Hm, jedenfalls von den Franzosen eingerichtet. Wenn nur Reihenfels erst käme!«

Aber der Erwartete kam nicht. Es wurde Abend, und er war nicht da. Doch Dick hatte Warten gelernt; ruhig blieb er liegen und beobachtete die Umgegend. Die beiden Indier entfernten sich nicht, sie spähten immer mit angstvollen Gesichtern bald nach Dicks Versteck, bald nach einer anderen Richtung in die Ferne.

Da kam von dieser Seite her ein Mann gegangen, in einen europäischen Tropenanzug gekleidet, und Dick kauerte sich plötzlich, die Büchse in der Hand, wie zum Sprunge zusammen, denn jener Mann dort war Monsieur Francoeur, dessentwegen Dick die gefährliche Expedition gemacht hatte. Diesen Mann wollte und mußte er über verschiedenes befragen.

Francoeur ging geradeswegs auf das Monument zu. Dick sah ihn hineingehen, und bald erschien er oben am Fenster, wo er heftig auf die beiden Männer einsprach.

Diese entschuldigten sich anscheinend, deuteten nach dem Grabe, in das die Taube hineingestürzt war, und bekreuzigten sich dann, indem sie sich an die Schulter schlugen.

Der Franzose mußte sie aufgefordert haben, ihn zu begleiten, sie weigerten sich aber.

Schließlich ging er allein, trat aus dem Monument und schritt auf das steinerne Grab zu.

Sofort war Dicks Plan fertig.

Die Taube ließ er liegen, er selbst kroch auf Händen und Füßen aus dem Sarg und versteckte sich hinter dem nächsten Baum. Gesehen worden konnte er dabei nicht sein, denn Francoeur ging arglos weiter.

Jetzt hatte er das Grab erreicht. Mit einem Freudenruf sprang er hinein und hob die Taube auf.

»Gott sei gelobt,« jubelte er förmlich auf, »ich habe sie!«

»Die Taube wohl, aber die beschriebene Schwanzfeder habt Ihr nicht!« rief eine spöttische Stimme in nächster Nähe.

Erschrockener war Francoeur wohl niemals gewesen als in diesem Augenblick, da diese Worte an sein Ohr schlugen und er aufblickend die rote Gestalt, die Büchse auf ihn anschlagend, hinter dem Baume stehen sah.

Er erkannte diesen Mann sofort wieder. Es war jener Pelzjäger, der ihm schon einmal solch eine glänzende Probe seiner Schlauheit gegeben hatte, der Genosse Mister Woodfields.

Francoeurs erste Bewegung war nach dem Revolver im Gürtel gewesen.

»Keine Bewegung, keinen Griff, am allerwenigsten nach einer Waffe, oder es war Eure letzte Stunde, und Ihr füllt das Grab aus, in dem Ihr jetzt steht.«

Diese Worte genügten. Francoeur stand bewegungslos da.

»Nun, Monsieur Francoeur, oder Monsieur Janvier, wie Ihr Euch früher zu nennen beliebtet,« fuhr Dick gemächlich fort, »seid Ihr geneigt, eine kleine Konversation mit mir in Frieden abzuhalten?«

Des Franzosen Gedanken wurden augenblicklich von etwas anderem beschäftigt. Er warf einen Blick auf die tote Taube in seiner Hand, er sah sofort, daß die betreffende Schwanzfeder fehlte, und er erbleichte noch mehr.

»Wo ist die Feder?« stammelte er.

»Die habe ich.«

»Gebt sie her, sie hat für Euch keinen Wert.«

»Da mögt Ihr allerdings recht haben, aber da ich jetzt sehe, welchen Wert sie für Euch hat, so bekommt Ihr sie gerade nicht.«

»Mann, gebt mir die Feder, Ihr dürft für sie verlangen was Ihr wollt.«

»Und wenn Ihr sie mir in Gold auswiegen würdet,« lachte Dick, »Ihr bekämt sie nicht, weil das nämlich nicht viel Gold wäre.«

»Stellt einen Preis.« »Gut, das werde ich gleich tun. Erst sagt mir, was darauf steht – pst, rührt Euch nicht, mein Finger liegt am Drücker, und ich kenne keine Schonung, am allerwenigsten bei solch einem Menschen, wie Ihr seid.«

»Sagt Eure Forderung!«

»Was steht auf der Feder?«

»Eine Kriegsdepesche.«

»Hm, das glaube ich Euch nicht. Ich glaube vielmehr, da steht etwas für Euch Verfängliches darauf.«

Der Franzose knirschte mit den Zähnen. Dick hatte allerdings das Richtige erraten.

»Sagt mal, Monsieur,« fuhr Dick gemütlich fort, »kennt Ihr mich eigentlich noch?«

»Nein.«

»Ach, macht doch keine Geschichten! Ich stellte mich Euch schon einmal in Wanstead vor. Na, Ihr habt eben ein schwaches Gedächtnis, ich glaube, Ihr leidet an Gehirnschwindsucht. Wißt Ihr, Ihr zogt die Stiefelettchen von dem Straßenräuber, der schwarzen Maske, an, aber sie waren Euch wohl etwas zu eng, denn Ihr machtet ein ganz verzweifeltes Gesicht. Drückt Euch jetzt wieder ein Hühnerauge? Habt Ihr wieder fremde Stiefel angezogen? Ihr beißt Euch auf die Lippen, als wolltet Ihr vor Schmerz aus der Haut fahren. Geniert Euch nicht, fahrt nur zu – pst, aber nicht rühren, sonst knalle ich Euch eins aufs Fell, so leid mir es auch tun sollte.«

»Macht ein Ende, Bursche!« zischte Francoeur. »Ich sehe, ich bin in die Hände eines Wegelagerers gefallen.«

»Nanu, das ist merkwürdig! Was ich von Euch will? Die Feder will ich Euch wiedergeben, weil Euch so erschrecklich viel daran gelegen ist.«

»So gebt sie her!«

»Und was gebt Ihr mir dafür?«

»Was Ihr verlangt!«

»Ich bitte höflichst um Beantwortung einiger Fragen.«

»Hol Euch der Geier! Behaltet denn die Feder!« Francoeur ahnte ungefähr, welche Fragen der Mann stellen würde, und diese zu beantworten hatte er wenig Lust. Geld hätte er gern so viel gegeben, wie gefordert wurde, er hätte selbst zur Befreiung von Gefangenen verholfen, aber verfängliche Fragen an diesen schlauen Burschen beantworten – nein.

Doch Dick ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, er war seiner Sache sicher.

»Oho, Ihr denkt wohl, weil es eine Geheimschrift ist, wäre sie für unsereinen wertlos?«

»Denkt und glaubt, was Ihr wollt!«

»Ich werde sie Mister Reihenfels zum Buchstabieren geben, und der wird bald heraushaben, was sie enthält. Wenn es dann Bahadur oder sonst so ein großmoglicher Herr erfährt, dann häng man Euch vielleicht an den Galgen.«

Dick entging nicht, wie der Franzose zusammenzuckte. Er hatte also wiederum das Richtige getroffen.

»Nun, seid Ihr geneigt, mir zu antworten?«

»Was wollt Ihr wissen?«

»Wo ist der Felsentempel, in welchem die Thags Menschen schlachten, und wo Nancy gefangengehalten wird. Ihr wißt doch, jenes Mädchen, welches Ihr oben in Nordamerika entführtet.«

Francoeur stierte finster vor sich hin in seinem Innern ging ein Kampf vor sich. Er sollte dieses Geheimnis preisgeben. Kam sein Verrat heraus, so war er geliefert, aber anderseits mußte er unbedingt in den Besitz der Feder kommen.

»Nun, wollt Ihr es mir nicht sagen?«

»Gut, Ihr sollt es erfahren. Gebt jedoch erst die Feder her!«

Dick brach in ein lautes Lachen aus.

»Daß Ihr mich auf solch plumpe Weise nicht übertölpeln könnt, muß Euch doch Euer Verstand sagen, und wenn Ihr auch noch so wenig habt. Wo ist der Tempel der Kali?« Francoeur zögerte eine Weile, dann sagte er mit gepreßter Stimme.

»Ich will es Euch beschreiben. Dieser Felsentempel liegt nordöstlich von hier in den Ausläufern des Himalaja. Habt Ihr von der Stadt Jalenaut gehört?«

»Die kenne ich sogar sehr genau.«

»Woher?«

»Das geht Euch nichts an. Weiter!«

»Verlaßt Ihr diese Stadt und wendet Euch nach Norden, so kommt Ihr in ein Hügelland, welches schnell immer gebirgiger wird. Erreicht Ihr den Fluß Himat, so fragt nach dem Dorfe Eskandera. Auf dem Wege dahin erblickt Ihr schon einen außergewöhnlich hohen Berg, dessen Gipfel noch ein mächtiger Felsen krönt. In diesen Berg ist der Felsentempel der Kali eingehauen. Wie Ihr hineinkommt, kann ich Euch nicht sagen, denn ich selbst habe keinen Zutritt, wüßte mir auch keinen zu verschaffen. Ich bin ehrlich und offen gewesen, nun seid auch Ihr's – gebt mir die Feder!«

Der Franzose hatte Dicks Gesicht nicht beobachtet, sonst hätte er bemerken müssen, daß sich darin während der Beschreibung das größte Erstaunen widergespiegelt hatte.

Er kannte die geschilderte Gegend sehr gut; denn eben dort, hatte Kiong Jang behauptet, sei er gleich im Anfang seiner Flucht durchgekommen, er wollte gewisse Felsen und Bäume wiedererkennen, dann aber wurde er manchmal vollständig irre an sich selbst.

Vor allen Dingen konnte er die Schlucht nicht wiederfinden, wo er zuerst wieder das Tageslicht erblickt hatte; aber bei der Behauptung blieb der Chinese, daß sich der Felsentempel ganz in der Nähe befinden müsse. Im Dorfe Eskandera befanden sich auch die Zurückgebliebenen.

Sollte Francoeur also doch das Geheimnis verraten haben? Nein und abermals nein, daran konnte Dick unmöglich glauben. Dieser Franzose war schlau, er gab das Geheimnis sicher nicht eher preis, als bis er im Besitz der Feder war, oder bis er eine Garantie hatte, sie zu bekommen.

»Nein, Monsieur, ich glaube Euch nicht. Frag nicht erst, warum. Entfernt Euch, wenn Ihr nicht mit einem Stück Blei nähere Bekanntschaft machen wollt. Ihr wißt, ich zaudere nicht.

Entfernt Euch eins – zwei –«

»Halt,« rief Francoeur, »ich will Euch etwas anderes sagen.«

»Aha, Ihr habt also gelogen.«

»Nein, ich habe nicht gelogen.«

»Der Tempel befände sich wirklich dort?«

»Der Tempel befindet sich wirklich dort, aber er ist leer, durch Sprengungen sind die Zugänge verschüttet worden, das Aussehen der ganzen Umgegend hat sich verändert.«

»Also eine Art von Umzug.«

»Ja, das Heiligtum der Thags befindet sich jetzt wo anders.«

»Wo?«

»Ich will es Euch sagen, wenn Ihr mir die Feder gebt.«

»Und Euch will ich nun meine Bedingungen stellen, unter denen Ihr die Feder bekommt.

Ich weiß, wie ungeheuer wichtig dieselbe für Euch ist, ich schwöre Euch aber, Ihr sollt sie nicht eher bekommen, als bis ich sehe, daß Ihr mich nicht getäuscht habt. Beschreibt mir den Ort, wo sich der Felsentempel befindet, in dem Nancy ist, und, bei meinem Wort als ehrlicher Mann, ich werde Euch die Feder einhändigen.«

»Also erst dort, wo sich der Tempel befindet?«

»Nicht eher.«

»Dann müßte ich Euch begleiten.«

»Tut das, führt mich selbst!«

»Das kann ich nicht.«

»So gebt mir einen treuen Mann mit!«

»Ich weiß keinen.« »Das ist freilich schlimm. Doch hört, Monsieur. Ihr habt da oben genug Tauben, die den Weg wieder nach ihrem Schlage zurückfinden. Gebt mir eine solche mit, und wenn ich Eure Aussage bewahrheitet finde, so schwöre ich Euch, die Feder der Taube unterzubinden und sie fliegen zu lassen. Nun, seid Ihr damit einverstanden?«

Francoeur zögerte lange mit einer Antwort.

»Wenn Ihr aber nicht Wort haltet?«

»Monsieur, schließt nicht von Euch auf andere! Nicht jeder ist solch ein Schuft wie Ihr.«

»Oder wenn die Taube nicht ankommt?«

»Dafür kann ich nicht. Also los, antwortet; entweder – oder! Wenn Ihr auf meinen Vorschlag nicht eingeht, so bekommt die Feder noch heute jemand, der sich mit der Schrift beschäftigen wird, und dann, ich weiß es wohl, dann seid Ihr geliefert.«

»Wohlan, ich will Euch trauen!«

»Danke sehr! Also wo ist der Aufenthaltsort von Nancy?«

»Ich gehe erst die Taube zu holen. Schießt mich nicht von hinten nieder.«

»Hahaha, könnte ich das nicht schon jetzt tun? Verdient hättet Ihr es eigentlich.«

Francoeur ging in das Monument zurück und kam bald mit einem kleinen Holzkäfig wieder, in dem sich eine Taube befand.

»Also Ihr versprecht, mir die Feder zu schicken, wenn Ihr seht, daß ich die Wahrheit gesprochen habe?«

»Bei meinem Ehrenwort. In dem Augenblick, da ich weiß, daß Ihr mich nicht betrogen habt, binde ich die Feder der Taube an den Schwanz und laß sie fliegen. Setzt das Bauer hin.«

Francoeur hatte doch Vertrauen zu der Ehrenhaftigkeit dieses Mannes, er glaubte ihm.

»Wo ist nun dieser Felsentempel?«

»Nur etwa vier Meilen von Eskandera entfernt,« entgegnete Francoeur, dessen Unentschlossenheit besiegt war, »liegt eine Burg, welche dem Sirdar Akkallah, einem seines Reichtums wegen bekannten Häuptling, gehört ...«

»Ah, das ist die neuerbaute Burg, mehr schon eine kleine Festung.«

»Ja, sie ist erst vor zwei Jahren fertig geworden. Dieser Akkallah, obgleich man ihn für einen Freund der Engländer hält, ist selbst ein Thag, und er hat die Burg auf dem Felsen bauen lassen, in welchem sich der große Tempel der Kali befindet. Seit aus dem früheren Tempel Gefangene entflohen sind, haben die Thags ihr Heiligtum wieder nach dem alten Tempel verlegt. Er befindet sich unter der Burg Malangher.«

Dick musterte den Sprecher scharf. Jetzt glaubte er, daß dieser die Wahrheit gesagt hatte, denn er brachte die Worte nur scheu und zögernd heraus.

»Gut! Und wie gelange ich in die Burg?«

»Zu der Burg hat jeder Freund der Engländer Zutritt.«

»Richtig, Akkallah gibt sich ja selbst für einen aus. Aber wie gelange ich in den Tempel?«

»Ich glaube, ein jeder, der diese Burg betritt und kein Thag ist, macht Bekanntschaft mit dem Innern des Berges.«

»Das heißt, er wird ein Opfer der Thags?«

»So ist es.«

»Hm, das ist freilich schlimm. Ich nehme an, Ihr verratet, daß ich nun um dieses Geheimnis weiß.«

»Was fällt Euch ein! Dann gebe ich mich ja selbst als Verräter an und habe die Rache der Thags zu fürchten.«

»So beruht unser Schweigen auf Gegenseitigkeit. Ich werde Euch nicht verraten und Ihr mich nicht. Jetzt, Francoeur, entfernt Euch und wagt keinen Versuch, mich stumm zu machen; denn es würde Euch nicht gelingen. Ich könnte Euch jetzt, da Ihr das Geheimnis verraten habt, niederschießen, doch ich tu's nicht, weil auch Mister Woodfield noch ein Wort mit Euch zu sprechen hat. Wäre es möglich, ich würde Euch selbst gefangen mitnehmen, aber es geht nicht, ich gehe allein. Merkt Euch also. Habt Ihr mich betrogen, so soll die Feder zum Ankläger gegen Euch werden, und ich vermute, dann habt Ihr Eure Rolle hier ausgespielt. Im anderen Falle werde ich mein Wort halten. Entfernt Euch und hütet Euch, mir noch einmal zu Gesicht zu kommen. Das andere macht mit Mister Woodfield aus.«

Francoeur drehte sich langsam um und ging. Als er hinter sich ein Geräusch hörte, legte er schnell die Hand an den Revolver und wendete den Kopf.

Dick war allerdings hinter dem Baume vorgetreten und bückte sich, um das Vogelbauer aufzuheben, aber sein Revolver war auf Francoeur gerichtet, ebenso wie seine Augen.

»Gebt Euch keine Mühe, mich zu hintergehen. Es gelingt Euch doch nicht.«

Noch einmal versuchte der Franzose den Mann, dem er ein so großes Geheimnis verraten hatte, zu töten. Er stand oben am Mauerloch des Monuments, ein Gewehr in der Hand, den Kolben an der Wange und beobachtete den Trapper, wie dieser gleich einem Wiesel von Stein zu Stein schlüpfte, mit schnellem Sprung über eine Blöße setzte und hinter jeder Deckung Schutz suchte, denn auch er wußte, daß Francoeur ihm nur gar zu gern einen Todesboten nachgesandt hätte.

Da knallte es, und neben Dick, der eben über einen freien Platz gesprungen war, schlug klatschend ein Stück Blei an einen steinernen Sarg.

Im nächsten Augenblick vernahm Francoeur einen peitschenähnlichen Knall, und gleichzeitig ward ihm sein Gewehr wie von einer unsichtbaren Gewalt aus der Hand gerissen.

In weitem Bogen flog es durch die Luft; unten sah er es mit total verbogenem Laufe liegen.

Die nie fehlende Kugel aus der Büchse des Trappers hatte es getroffen.

»Monsieur Francoeur!« klang Dicks drohende Stimme aus weiter Ferne. »Ich hätte Euch töten können, aber ich schonte Euch, weil Mister Woodfield Euch noch einmal als Monsieur Janvier sprechen will.«

Dann sah der Franzose den Trapper nicht mehr, und er traf auch keine Anstalten, den Freund der Engländer in den Mauern Delhis festzuhalten.

– – – – – – – – – –

Es war schon Mitternacht vorüber, als sich der Erdversenkung zwei Gestalten näherten, von denen die eine ein Mann, die andere offenbar ein Weib war.

Letzteres schmiegte sich ängstlich an seinen Begleiter.

»Hätte ich gewußt,« flüsterte eine Mädchenstimme, »du würdest mich hierherführen, ich wäre dir nicht gefolgt.«

»Sei ruhig, Makalli! Nur böse Menschen haben Gespenster zu fürchten, die Gespenster ihres Gewissens. Dir aber, die du eine gute Tat vorhast, werden sie nichts anhaben können.«

»Ein Agni soll hier umgehen.«

»Er ist umgegangen, er tut's nicht mehr,« sagte Makallis Begleiter, Reihenfels, und wie ein schmerzlicher Seufzer klangen seine Worte.

Sie umgingen die Versenkung, suchten die nächsten Gräber ab, warteten auch lange Zeit, aber von Dick, den Reihenfels hier zu treffen gehofft, war weder etwas zu sehen noch zu hören.

Der Bajadere Vorhaben duldete keine Verzögerung, und so mußte Reihenfels den Friedhof mit schwerem Herzen wieder verlassen, ohne von Dicks Schicksal etwas zu wissen.


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