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Die Aufregung war schon längst vorüber, die Spur des blutigen Zwischenfalles beseitigt und die Ordnung und Ruhe wiederhergestellt. Die Begum saß allein auf ihrem Thron zwischen Bahadur und Nana Sahib, der Bengalese hatte, wie zuerst, neben Phöbe Platz genommen und das Mädchen ihn nicht wieder an ihre Seite gerufen.
Seine erst schmucklose Kleidung hatte sich verändert; überall waren Diamantagraffen, Broschen, Spangen und andere Schmucksachen angeheftet, seine Finger waren mit Edelsteinen und Gold förmlich gepanzert. Die Fürsten und übrigen Gäste mußten diesen Mann als ihren Lebensretter anerkennen, sie taten dies auch offenherzig und gaben ihrer Dankbarkeit dadurch Ausdruck, daß jeder von seinen Kleinodien eines ablöste und ihm dasselbe persönlich übergab.
Bei den Orientalen ist das Schenken überhaupt Sitte. Wer für eine Person eine besondere Teilnahme empfindet, der zieht einen Ring vom Finger und gibt ihr denselben mit einigen passenden Worten. Bei einer anderen Gelegenheit wird dieser Ring wieder weiterverschenkt, ohne daß daran Anstoß genommen wird, auch nicht von dem ersten Geber.
Nur die Begum selbst, deren Leben am meisten bedroht gewesen, hatte weder für ihren Retter ein Geschenk übrig, noch ein Wort des Dankes, noch ließ sie ihn zurückrufen; ebensowenig aber auch Duplessis, wenigstens vorläufig nicht.
Der Franzose hatte sich dem Mädchen, gleich, als der Panther tot am Boden lag, genähert, den gespannten Revolver in der Hand.
»Ich komme zu spät. Welch unglücklicher Zufall, daß ein anderer rascher war als ich!«
sagte er. »Ich stand hinter dem Thronsessel und hatte das Raubtier schon aufs Korn genommen, als der tödliche Schlag fiel.«
Das blasse Gesicht, die zitternde Hand und die bebende Stimme straften die prahlerischen Worte des Franzosen Lügen. Der Bengalese wendete sich verächtlich von ihm ab, nicht so die Begum.
»Ich danke Ihnen für Ihren Schutz, der mir leider nicht zuteil werden konnte,« sagte sie zwar kalt, aber weder höhnisch noch geringschätzend.
Da Duplessis nicht aufgefordert wurde, sich wieder neben der Begum niederzulassen, mußte er seinen alten Platz neben Montpassier aufsuchen, der ihn im Herzen bedauerte, denn sein Freund hatte eine klägliche Rolle gespielt.
Die Indier kannten Scham über ihre Feigheit nicht; ihnen ist doch alles vom Schicksal vorherbestimmt. Ruhig nahmen sie die Plätze wieder ein und erwarteten die Fortsetzung der Schaustellung, die jetzt erst ihren Glanzpunkt erreichen mußte, denn bisher hatten die Bajaderen gefehlt, und ein Fest ohne diese Tänzerinnen ist keins.
Es war unterdes dunkel geworden. Drähte mit unzähligen Lampions wurden gezogen, und bald erstrahlte die Terrasse in tausendfachem, buntfarbigem Lichte.
Da flatterten aus dem Tore etwa dreißig schöne, reizend kostümierte Bajaderen und ordneten sich unter einer Anführerin zum Reigen und Einzeltanz.
Es wurde schon einmal gesagt, was von den indischen Bajaderen zu halten ist. Will man sie einfach als käufliche Mädchen bezeichnen, so ist es eigentlich falsch, denn sie sind dies nur insofern, als sie dem gehören, der sie für lange Zeit, fürs ganze Leben bezahlen kann, also entweder Reichen und Vornehmen oder Tempeln.
Stehen sie im Dienste der letzteren, so müssen sie das Gelübde der Keuschheit ablegen, und dann tanzen sie zu Ehren des Gottes, dem sie dienen müssen, und verherrlichen dessen Feste auch öffentlich auf der Straße durch Tanz.
Die vornehmen Indier halten sich eigene Bajaderen, sie gleichen den Almeen der türkischen Harems. Die niedrigste Klasse vermietet sich zeitweise an Vergnügungsorte oder an herumziehende Unternehmer, und diese Bajaderen sind die eigentlichen öffentlichen Tänzerinnen, welche dem Gott der Liebe speziell dienen und den Ruf ihrer Schwestern so schwer geschädigt haben.
Auch Bahadur hielt sich in seinem Schlosse eine Schar Bajaderen, über deren Leib und Seele er zu befehlen hatte, es waren seine Sklavinnen, nicht etwa seine Weiber, nicht einmal seine Maitressen. Randschid Singh, ein berühmter indischer Fürst, besaß sogar eine Leibwache aus Bajaderen gleich dem König von Dahome, und die Mädchen waren trefflich in den Waffen geübt. Nach dem Tode ihres Gebieters zerstreuten sie sich.
Es waren durchweg schöne Mädchen, welche sich nach den Klängen zweier Pfeifen und einer Trommel im rhythmischen Schritt um die Anführerin bewegten, die den Reigen mit einem schellenbesetzten Tamburin begleitete. Die Gacegewänder verhüllten zwar züchtig den Körper, durch die vielen Lichter jedoch erschienen sie durchsichtig und ließen den Gliederbau deutlich erkennen. Es war nur ein schwebendes, anmutiges Gehen, die Grazie der Bewegung gab den Ausschlag.
Dann fanden die Einzeltänze statt, und zwar begann die Anführerin damit, ein junges Mädchen von wunderbarer Schönheit, ein wahrhaftiges Ideal.
Das Sanfte und Melancholische des indischen Charakters verband sich in ihr mit einem unendlichen Liebreiz.
Das Gesicht war von zarter, ovaler Form und besaß jenen klaren, goldartigen Teint, der durchsichtig zu sein scheint. Die Nase war fein geformt wie die Ohren und die kleinen Hände, und die nackten, mit Goldspangen geschmückten Füßchen, der schwellende Mund mit den Purpurlippen wie geschaffen zum Küssen.
Das üppige, tiefschwarze Haar, das in schweren Flechten auf den Rücken lag und auch über die Brust herabhing, war mit Korallenketten durchflochten und mit Goldschmuck behangen – der Lohn ihres Tanzes.
Makalli, die Mandelblüte – so hieß diese Vortänzerin – war in faltige, blaue Gaze gehüllt, unter der nur manchmal der kleine, nackte Fuß sich hervorstahl, so lange sie nicht tanzte. Ein rosafarbenes Gewebe, wie es von solcher Zartheit nur im Tibet hergestellt wird, bedeckte Brust und Rücken, ohne die schwellenden Formen und zarten Linien verbergen zu können.
Auf dem Scheitel trug sie einen phantastischen Ausputz, aus smaragdgrünen, in Gold schimmernden Kolibris zusammengesetzt, und Diamanten und Rubinen erhöhten noch die Farbenpracht.
Sie war die einzige, die ihr Gesicht nicht durch Striche mit Oker und Antimon entstellt hatte, letzteres hatte sie nur benutzt, um ihren schon wunderbaren Brauen einen noch kühneren Schwung und noch tiefere Schwärze zu geben.
Sie hätte die Augen nicht erst zu verschönen brauchen, denn diese strahlten schon in einem feuchten, schwärmerischen Glanze, wie man ihn bei Orientalen findet, doch es war fast auffällig, wie melancholisch sie blickten.
Während sich die Tänzerinnen um sie drehten, hatte Makalli nicht wie die übrigen Mädchen die Zuschauer mit zudringlichen Blicken gemustert; ängstlich waren ihre Augen im Kreise umhergewandert, und als sie endlich den fremden Bengalesen gefunden, kehrten ihre Blicke immer wieder zu diesem zurück.
Ihr Solotanz begann.
Langsam erklangen Pfeife und Trommel, langsam drehte sich die Tänzerin, ganz einfache Bewegungen und Schrittchen machend, immer auf einer Stelle bleibend. Sie hob die Arme über dem Kopf, schlug einmal das Tamburin und bog den Oberkörper vorwärts, rückwärts und zur Seite. So einfach auch alles war, konnte man doch nicht genug die Grazie und diese Geschmeidigkeit des schlanken Körpers bewundern.
Nach und nach begann sich ihr Gesicht zu röten, sofort wurde die Musik schneller, und jetzt glichen die Linien, die ihr Körper beschrieb, den Windungen einer Schlange. Makalli blieb nicht mehr stehen, sondern glitt geräuschlos, ohne daß man die Füße sehen konnte, an den Zuschauern vorüber, beugte sich auch über den und jenen und glitt wieder zurück.
Schon wurden ihr hier und da Geldspenden zugeworfen, die sie geschickt, aber achtlos, ohne den Tanz zu unterbrechen, im Tamburin auffing. Phöbe hatte wenig Auge für die Bajadere, sie beobachtete mehr die Begum, welche sich viel mit Bahadur unterhielt, und es kam Phöbe vor, als ob des Maharadschas Blick oft den neben ihr sitzenden Bengalesen streife, und zwar mit wohlgefälligem Ausdruck.
Da näherte sich die Tänzerin auch ihr, beugte sich über den Bengalesen, und plötzlich vernahm Phöbe die leisen, aber für ihr Ohr noch ganz deutlichen Worte: »Beschenke und bewundere mich, Fremdling, lobe mich, lobe mich!«
Phöbe kannte die Sitten an den Fürstenhöfen ganz genau. Seit wann durften Bajaderen es wagen, sich selbst einen Begünstigten auszusuchen, sich selbst ihm anzupreisen? Die Bajadere war ein willenloser Gegenstand, den der Besitzer dem für einige Zeit verlieh, den er auszeichnen wollte.
Lauter und wilder erklang die Musik, immer heftiger und üppiger wurden die Bewegungen der Bajadere. Bald drehte sie sich wie ein Kreisel um sich selbst, bald glich ihr Leib einer Linie von zuckenden Blitzen; sie kokettierte mit scheu zurückgebogenem Oberkörper, bog ihn in schmachtendem Verlangen vor und schien mit den Armen ein Phantom umfangen zu wollen.
So raste sie durch den Kreis, auch jetzt noch ab und zu sich einem der Zuschauer nähernd.
Als sie zum zweiten Male sich über den Bengalesen beugte, hörte Phöbe abermals deutlich die geflüsterten Worte.
»Lobe mich, Fremdling, beschenke mich!«
Was sollte das heißen? Kein Zweifel, diese Tänzerin war ehrsüchtig und geldgierig; diese Worte flüsterte sie jedem zu.
Von allen Seiten flogen ihr Goldstücke zu, von denen sie soviel wie möglich zu fangen suchte, ohne jedoch im Tanze einzuhalten.
Jetzt erreichte sie den Bengalesen zum dritten Male.
»Bei dem Gott, den du am meisten verehrst, beschenke mich, ich flehe dich darum an,« erklang es leise in herzzerreißendem Tone.
Der Bengalese warf ihr ein Goldstück zu. Sofort eilte die Bajadere tanzend zurück, die Musik brach ab, und sie kniete in einer reizenden, bittenden Stellung, die Augen noch immer vor sinnlicher Lust erglühend, vor Bahadur, ihrem Herrn, nieder.
Als das rasende Beifallsklatschen verklungen war und die Bajadere sich erhoben hatte, jedoch noch vor Bahadur wartend stehen blieb, durchschritt der Zeremonienmeister den Kreis und berührte mit seinem Stock des Bengalesen Schulter.
»Folge mir!«
Penab Ran schritt nach dem Throne.
»Das ist eine infame Falle!« murmelte Phöbe mit angsterfülltem Gesicht.
Es geschah, wie sie erwartet hatte.
Bahadur hatte seinen Sitz verlassen, war zu der Bajadere getreten und legte ihre Hand in die des angekommenen Bengalesen.
»Der tapfere Puharri, der den Panther mit einem Streich zu töten versteht, ist kein Fremder mehr in Delhi, er ist Bahadurs Gast. Ich sah deine Augen, Penab Ran, freundlich auf Makalli ruhen, du beschenktest sie auch, die Begum selbst machte mich darauf aufmerksam. Mit dem Willen der gnädigen Begum ist Makalli dein Eigentum, solange du in den Mauern meines Schlosses weilst. Möge dir die Mandelblüte Freude bereiten.«
Damit legte er über die geschlossenen Hände beider ein weißes Tuch, das Zeichen, daß sie ein Lager teilen sollten.
Die Augen der Bajadere leuchteten in hellem Jubel auf, über das Gesicht des Bengalesen ergoß sich eine dunkle Blutwelle, ein unbeschreiblicher Blick traf die lächelnde Begum.
Lächerlich! In Indien erhält jeder Gast, wenn er geehrt werden soll, vom Festgeber ein Mädchen, die Hausherrin selbst teilt ihm ein solches zu, will sie ihn ganz besonders ehren.
Eine Prüderie in derartigen Sachen ist völlig unbekannt.
Nein, der Bengalese errötete vor Freude über dieses Geschenk, es konnte nicht anders sein. War doch Makalli die schönste der Bajaderen, vielleicht die schönste aller Indierinnen. Das Mädchen zog sich einstweilen zurück, der Bengalese verbeugte sich dankend und begab sich wieder auf seinen früheren Platz.
»Durchschaust du das feine Gespinst?« flüsterte ihm Phöbe unbemerklich zu.
Ein leises Seufzen war die Antwort.
»Ärmster, du darfst dich nicht weigern. Beklagt sich die Bajadere wegen deiner Gleichgültigkeit ihr gegenüber, so wäre das dein Tod. Bahadur ist furchtbar, wenn er in seiner Gastfreundschaft gekränkt wird.«
Über des Bengalesen Lippen kam ein zischender Laut, der Phöbe zum Schweigen brachte.
Die übrigen Bajaderen traten auch noch auf, einige allein, die meisten in Gruppen. Nach der Beendigung jedes Tanzes wurden sie an die Gäste Bahadurs verteilt, meist wurde das Verhältnis schon während des Tanzes durch Blicke, Zurufe und Geschenke angeknüpft.
Nur einmal wurde eine Ausnahme gemacht.
Die Begum ließ Duplessis wieder zu sich rufen und unterhielt sich lange liebenswürdig mit ihm. Der Franzose war über die Tänze entzückt, jedoch nicht über die Bajaderen. Er gab deutlich zu verstehen, daß die Begum alle an Schönheit übertreffe.
»Aber bitte, vergleichen Sie mich doch nicht mit einer Bajadere!«
»Betreffs der Schönheit ist jeder Vergleich erlaubt.«
»Nun, mit dieser, welche jetzt tanzt, würde ich den Vergleich wohl nicht aushalten können.«
Eben tanzte ein schönes Mädchen, welches es mit Makalli hätte aufnehmen dürfen, wenn nicht ihre Körperformen das erlaubte Maß der Fülle etwas überschritten hätten. Doch der Geschmack an Schönheit ist verschieden, Duplessis' Augen hingen schon lange mit verstohlenem Entzücken an dieser leidenschaftlichen, glutäugigen Tänzerin. Doch er wollte die Begum nicht beleidigen.
»Sie ist schön, gewiß,« sagte er; »aber wäre sie noch zehnmal schöner als Sie, für mich wären Sie doch die Schönste.«
»Wie soll ich das verstehen?«
»Sie bleiben doch immer die Schönste für mich, weil – darf ich das französisch sagen, was im Indischen zu sagen erlaubt ist?«
»Sprechen Sie!«
»Weil ich Sie liebe, schöne Begum!«
Duplessis erhielt eine seltsame Erwiderung auf diese ungeschminkte Liebeserklärung.
Der Tanz war eben aus, die Bajadere kniete vor Bahadur nieder. Doch die Begum entriß sie einem auf sie schon spekulierenden Fürsten, indem sie die Bajadere zu sich rief und sie mit Duplessis durch das Tuch verband.
»Ein Geschenk von mir,« sagte sie dabei lächelnd.
Einen Augenblick war Duplessis doch verblüfft, von dem Mädchen, dem er soeben eine Liebeserklärung gemacht hatte, ein anderes Geschenk für die Nacht zu erhalten. Doch schnell besann er sich. Die Begum war ja eine Indierin, dazu noch eine vornehme, also über Skrupel anderer Nationen erhaben. Nur weil sie mit ihm im modernsten Französisch sprach, war es ihm so verblüffend vorgekommen.
Aber immerhin, es war ein seltsamer Fall, nach dem, was er sich vorgenommen hatte, und er sah auch, wie der dicke Montpassier das Taschentuch vors Gesicht hielt, um das Lachen zu ersticken.
Hingegen machte Duplessis diese improvisierte Heirat wirklich Freude, das sah die Begum ihm nur zu deutlich an. Sie entließ ihn schnell, ehe er seinen Dank für diese Gnade hervorstammeln konnte.
Die Bajaderen verschwanden von der Terrasse, nachdem sie Schüsseln voll Konfekt erhalten hatten, den Gästen wurde nach den vielen Süßigkeiten noch ein kompakteres Mahl vorgesetzt, bestehend aus Reis mit zerlassener Butter, gebratenem Lammfleisch und aus verschiedene Art zubereitetem Geflügel. Die Indier tranken dazu Jagory, ein berauschendes Getränk aus gegorenem Palmensaft, den Europäern wurde griechischer Rotwein vorgesetzt, der wegen seines Spritgehaltes bekannt ist.
Die Franzosen waren äußerst unmutig über diese frugale Mahlzeit, am meisten über den erbärmlichen, den Gaumen beizenden Wein.
Sie hatten geglaubt, mit den feinsten und raffiniertesten Delikatessen, sowie Champagner bewirtet zu werden, und jetzt zeigte sich der sonst so luxuriös lebende Bahadur geizig wie ein Filz.
Niemand wußte, daß Bahadur zu dieser Einfachheit durch die Anwesenheit eines Gastes gezwungen wurde.
Jener ältliche Mann dort mit dem herkulischen Körperbau und den riesigen Fäusten, der die Lammfleischstücke nicht aß, sondern hinunterschlang, war daran schuld. Er hockte zwar bescheiden an der Erde, genoß aber von allen Seiten große Ehrerbietung. Man nannte ihn Radscha Gholab, er war ein Fürst ohne Land und durch seine einfachen Sitten bekannt.
Warum man sich bei dem Feste nach diesem nur durch seinen Körperbau, sein häßliches Gesicht und seine blutunterlaufenen Augen sich auszeichnenden Mann richtete, werden wir noch später erfahren. Er liebte keine Verschwendung beim Essen, noch weniger beim Trinken, und das gab den Ausschlag.
Er war es auch gewesen, der die korpulente Bajadere für sich bestimmt hatte, und als die Begum durch Eingreifen seine Absicht zunichte gemacht hatte, traf ein böser Blick aus seinen geröteten Augen das Mädchen. Bahadur war fast erschrocken gewesen, aber die Begum beachtete es nicht.
Bahadur reichte die Schüssel mit Wasser zuerst der Begum, dann nahm er die seine, die Gäste wuschen sich, und damit war das Zeichen zum Ende der Festlichkeit gegeben.
Die Diener begannen sofort ihr Amt, die Gäste nach den ihnen angewiesenen Zimmern zu führen, war es doch schon sehr spät geworden.
Auf den Bengalesen schritt der Zeremonienmeister selbst zu, um ihn nach seinem Zimmer zu führen, das er heute zum ersten Male im Schlosse Bahadurs einnehmen sollte.
Vergebens versuchte Phöbe, noch einmal mit ihm zu sprechen, die Ankunft des Dieners verhinderte es.
»Weigere dich nicht, du darfst es nicht!« gelang es ihr, ihm noch unbemerkt zuzuflüstern.
Hintereinander zogen die Gäste an dem Thronsessel vorüber, auf welchem Bahadur und die Begum noch saßen, und verneigten sich ehrfurchtsvoll. Ersterer nickte dem Bengalesen freundlich zu, letztere hatte für ihren Lebensretter keinen Blick.
Dann strebten die Gäste teils dem Ausgange zu, teils verloren sie sich unter Führung der Diener in den weitläufigen Flügeln des riesigen Schlosses, oder besser gesagt, in den Straßen dieser Schloßstadt, denn es bildete ein ganzes Viertel für sich.
Der Bengalese wurde von seinem gravitätisch einherschreitenden Führer, dem noch ein Diener mit der Lampe vorausging, kreuz und quer durch winkelige Gänge geleitet, man konnte kaum begreifen, wie sich hier jemand zurechtfinden konnte.
Endlich blieb er stehen, ein anderer Diener gesellte sich noch zu ihnen.
»Schlafe wohl, tapferer Sirdar,« Häuptling. sagte der Zeremonienmeister feierlich; »mögest du unter Brahmas Schutz so sicher ruhen, wie du unter dem des mächtigen Padischah bist. Kama, der Gott der Liebe, sei dir gnädig, bis Surya Sonne, auch Gott der Sonne. erwacht.«
Er entfernte sich hierauf mit einer Verbeugung, der Lampenträger begleitete ihn.
Der neue Diener, ein häßlicher, alter Kerl, reichte dem Bengalesen eine mit duftendem Öl gefüllte Lampe und öffnete demütig die Tür.
Der Bengalese befand sich in einem luxuriös ausgestatteten Gemach, jedenfalls nur als Wohnzimmer dienend; denn die schmalen Diwane waren sicher nicht für den vornehmen Gast zum Schlafen bestimmt.
Eine andere Tür gab es allerdings nicht, wohl aber hing an der einen Wand ein zweiteiliger Teppich, der zum Schlafzimmer führte.
Ehe Penab Ran dieses betrat, stellte er die Lampe auf den Tisch und ließ sich nieder.
Lange saß er brütend da, bis ihn ein leises Räuspern aus seinen Träumen weckte.
Er erinnerte sich, was seiner noch wartete, ergriff wieder die Lampe und ging in das Schlafzimmer hinüber.
Wirklich, dort auf dem bequemen, breiten Diwan, dessen Vorhänge zurückgeschlagen waren, lag im weißen, leichten Nachtgewand – dort lag Makalli, die ihm als Gastgeschenk gegebene Bajadere, seiner wartend.
Sie hatte die Füße unter dem leichten Gewand dicht an den Körper gezogen, und es entging dem Bengalesen nicht, daß sie zitterte. Ihre großen Augen ruhten mit einem gespannten und ängstlichen Ausdruck auf dem Manne, dem sie jetzt willenlos angehörte.
Über das Gesicht Penab Rans flog es fast wie ein Zug der Freude – natürlich. Er setzte die Lampe auf den Tisch und trat vor das Mädchen hin. Sonderbar, was er sagte.
»Das Wort Bahadurs gibt mir unbedingte Macht über dich, Mädchen, er hat dich mir geschenkt, und ich darf dich nicht ausschlagen, will ich mir nicht seinen Zorn zuziehen. So ist es auch in meiner Heimat Sitte. Doch bist du mit der Wahl des Mannes nicht zufrieden, weigerst du dich, mir zu gehören, so darfst du dies sagen, und dann ist es mir erlaubt, dich zu entlassen, dann bist du frei.«
»Aber ich will dir gehören!« sagte das Mädchen laut. »Du bist ein tapferer und schöner Mann, der Liebe wert, du gefällst mir und mußt mit mir das Lager teilen!«
Plötzlich legte das Mädchen die Finger auf die Lippen und sah den vor ihr Stehenden bedeutungsvoll an.
»Lösche das Licht der Lampe!« flüsterte sie kaum hörbar. »Ziehe dich aus und lege dich neben mich daß mein Mund dein Ohr berührt. Ich habe dir Wichtiges zu sagen!«
Der Bengalese besaß eine leichte Fassungsgabe. Augenblicklich wußte er, daß des Mädchens erste Worte nur zum Schein gesprochen waren. Hier lag etwas anderes als ein Liebesabenteuer vor, die Bajadere wollte ihm ein Geheimnis mitteilen.
»Kama sei Dank, daß meine Liebe erwidert wird,« entgegnete er ebenso laut; »denn nimmermehr würde ich ein solch schönes Geschöpf, wie du bist, zur Liebe zwingen!«
Er warf klirrend die Dschambea auf den Tisch, Pistolen und Dolch daneben und entledigte sich langsam seiner Tschoga, des Oberkleides, welches er über den Sessel legte, aus welchem schon die dunklen, einfachen Kleider der Bajadere lagen.
Dann blies er die Lampe aus und streckte sich neben dem Mädchen auf den Diwan nieder.
»Komme näher,« flüsterte Makalli, »immer näher, noch näher! Das leiseste Wort, das aus diesem Zimmer in die Ohren des Lauschers dringt, bedeutet unser beider Tod!«
Ihre weichen Arme umschlangen den Mann und zogen ihn dicht an sich heran. Er fühlte ihre warmen, elastischen Glieder, wie sie sich an die seinen schmiegten.
»So, nun sage mir Liebesworte!« flüsterte sie weiter. »Laut! Man muß es draußen verstehen können. Kaschin horcht wie gewöhnlich; aber nicht zu laut, daß es nicht Verdacht erregt. Küsse mich, daß es schallt! Während du von Liebe sprichst, will ich zu dir flüstern, und wenn ich laut mein Glück preise, solch einen Mann zugeteilt bekommen zu haben, flüsterst du. Kama wird uns vergeben, daß wir ihn betrügen.«
»Tapferer Mann, edler Puharri,« fuhr sie plötzlich laut fort, »wie soll ich der Göttin der Liebe danken, daß du dein Auge auf mich geworfen hast. Du bist stark, wie der Fürst der Dschungeln, und kühn, wie der Falke, der auf den Reiher stößt. Du warst der einzige, der vor dem Panther nicht die Flucht ergriff, dein Dschambea war wie der Blitz, der vom Himmel fährt und alles vernichtet, wohin er auch trifft. So, nun sprich du laut!« flüsterte sie wieder.
Wenn auch Penab Ran ein noch so großer, auf Liebesabenteuer ausgehender Don Juan gewesen wäre in eine ähnliche Lage wäre er wohl nie wieder gekommen. Hier ruhte er neben dem himmlisch schönen Mädchen, er fühlte ihren Körper, sie legte seine Arme um ihren Leib, sie zog und preßte ihn an sich, und doch war dies alles nur, wie jedes gewechselte Liebeswort, ein Vorwand, um sich flüsternd Mitteilungen machen zu können.
Unwillkürlich gehorchte der Bengalese und befolgte genau die Weisung. Der eine sprach laut, während der andere flüsterte, laut sprachen sie von Liebe, leise die furchtbarsten Sachen, die tiefsten Geheimnisse Indiens, und Penab Ran fiel nicht aus der Rolle, obgleich ihm das Blut immer heißer zu wallen begann, hätte er doch sonst kein Mann sein müssen.
Während er ihr zärtliche Worte sagte, flüsterte sie ihm ins Ohr.
»Bist du ein Feind der Faringis?«
Es mußte jedesmal eine lange Pause erfolgen, ehe die Antwort kam, denn der begonnene, laute Satz konnte nicht gleich abgebrochen werden, doch der Bengale zögerte diesmal sichtlich mit der Antwort.
»Wohl mir, ich weiß jetzt, du bist ein Freund der Faringis.«
»Weder ihr Freund, noch ihr Feind.«
»Du bist ein mutiger Mann und stehst dem bei, der in Not und Gefahr ist. Ich habe gesehen, wie alle großprahlerischen Radschas und Faringis die Flucht vor dem Panther ergriffen. Du aber gingst nicht von der Seite der bedrohten Begum, sondern rettetest sie. Da dachte ich, dieser und kein anderer ist es, welcher seinen Beistand Makalli angedeihen lassen wird, steht Edelmut doch schon in deinen Zügen geschrieben. Nicht wahr, du wirst mir beistehen?«
»Ich weiß noch gar nicht, um was es sich handelt. Was trägst du hier um deinen Leib?«
»Es ist aufgewickeltes Garn, welches wir brauchen müssen, wenn du mir beistehst. Höre mich an, Fremdling mit dem schönen und edlen Antlitz. Dich schickt mir Wischnu, der Erhalter, Ehre sei seinem Namen. Ich bin im Begriff, den heiligsten Eid zu brechen, den ich der mächtigsten Göttin geschworen habe; bevor ich das tue, muß ich bestimmt wissen, daß der, dem ich alle die mir anvertrauten Geheimnisse verrate und zeige, sie auch nicht wieder verrät, damit die Meinen nicht unglücklich werden. Was mich betrifft, so werde ich durch Brechen meines Eides gezwungen, zehntausend Jahre auf Erden in allerlei Tiergestalten zu leben, aber gern will ich dies leiden, denn es gilt, den Mann zu befreien, den ich ins Unglück gestürzt habe, und den ich doch liebe. Schwöre mir, daß du schweigen wirst!«
»Nein, ich schwöre nicht, bevor ich nicht weiß, zu welchem Zweck!« entgegnete der Bengalese fest.
»Schwöre, schwöre!« flüsterte die Bajadere, warf sich über den Mann und drohte ihn mit ihren Liebkosungen zu ersticken. »Still, sprich jetzt nicht, ich kitzele dich, lache, schreie, steh, ich zupfe dich am Bart! Schwöre, du mußt mir helfen, nur du kannst es, nur du hast Mut zum Schrecklichen, es gilt eine gute Tat. Bedenke, daß ich zehntausend Jahre als Tier Wandlungen durchzumachen habe; doch ich verzage nicht!«
Die Bajadere schrie leise auf. Sie hatte den Mann am Bart gezupft, und plötzlich hielt sie diesen in der Hand, hatte ihn abgerissen.
Der Bengale wollte sich freimachen, doch Makalli hielt ihn fest.
»Nein, nein, ich lasse dich nicht, jetzt weiß ich, du bist ein Feind der Rebellen, du hältst es mit den Faringis. Um so besser, auch, ich tue es. Sei nicht stumm, liebkose mich, scherze, jubele, lache, wir müssen den Wächter draußen täuschen. Nicht wahr, du hast dich nur als Spion unter die Radschas gemischt?«
»Ich will dir noch mehr sagen; ich selbst bin ein Faringi, nur als Indier verkleidet.«
Das Mädchen erschrak nicht, es wunderte sich nur.
»Aber woher sprichst du ein so reines Indisch? Ich kann es kaum glauben.«
»Ich bin unter den Faringis ein Gelehrter, der Indien studiert. Ich spreche alle Sprachen, die hier geredet werden.«
Wenn der liebe Leser noch nicht erraten hätte, daß dieser Bengalese der verkleidete Reihenfels ist, so weiß er es jetzt.
»So verstehst du auch die Ramasyana?«
»Ramasyana? Nein, was ist denn das?« »Du sollst es noch erklärt bekommen, noch viel mehr. Um so besser, wenn du ein Faringi bist, du bist dennoch ein starker, mutiger und edler Mann. Jetzt wirst du mir helfen; der, den wir befreien wollen, ist ein Offizier der Faringis.«
»Ein Engländer?«
»Ja. Schwöre mir bei deinem Christengott, daß du mich nicht verrätst, wenn es uns gelingt und du mir später einmal wieder begegnest.«
»Nun denn, ich schwöre bei dem heiligen Gott, an den ich glaube, und bei dem Blute dessen, der für mich gestorben ist, daß ich dich nicht verraten werde, daß ich dir vielmehr treu beistehen werde im Leben und Sterben.«
Wieder umschlang ihn die Bajadere und erdrückte ihn fast mit Liebkosungen, als wolle sie ihm dadurch ihre Dankbarkeit bezeugen. Dann aber drängte sie ihn von sich.
»Weißt du, Faringi, neben wem du liegst?«
»Neben Makalli, der schönsten Bajadere.«
»Nein, neben Makalli, der Sutha. Weißt du, der alles in Indien kennen will, was eine Sutha ist?«
»Nein.«
Der Bajadere Stimme nahm plötzlich einen unheimlichen Ton an, als sie flüsterte.
»So erfahre es denn, du hast geschworen, du mußt jetzt schweigen. Das Lager, auf dem du liegst, kann sich sofort in dein Totenbett verwandeln. Ich bin – erschrick nicht, Fremdling – – eine Sutha, das heißt ein Weib, welches durch ihre Reize Männer anlockt und diese dann in die Hände der Thags liefert.«
Hatte Reihenfels doch Liebesgedanken bekommen, so verrauchten sie im Nu. Er fühlte, wie sein Blut förmlich erstarrte. Jetzt wußte er auch, was Ramasyana bedeutete. Er hatte diese Sprache von Hira Singh Ramasi nennen hören, ein anderer Ausdruck dafür; sie war die geheime Sprache der Thags, der furchtbaren Würgerbande. Sutha bedeutet so viel wie Verlockerin oder auch Spionin.
Er wollte hastig aufspringen, um nach seinen Waffen zu greifen, doch lachend warf sich das Mädchen über ihn und hielt ihn fest.
»Ich beschwöre dich bei deinem Christengott, sei besonnen, oder wir sind beide verloren,« flüsterte sie unter dem Lachen. »Von mir hast du ja nichts zu fürchten, ich bin an dich durch das Brechen meines Eides – ich habe ihn schon gebrochen – mit furchtbaren Banden gefesselt. Habe Mitleid mit Makalli, die sich selbst zu zehntausend Jahren Strafe verdammt hat, um den Geliebten zu retten. In meiner Nähe ist dein Leben immer sicher, wenn du mich nicht verrätst.«
Reihenfels sah das ein. Er konnte sich wieder dazu aufraffen, Liebesworte laut zu sprechen und dann wieder zu flüstern.
»Ja, ich bin eine Sutha; schon Hunderte habe ich verführt und den Würgern überliefert.
Schaudere nicht, ich büße meine Vergehen durch den Eidbruch schrecklich. Daher eben verrät der gefangene Thag selbst unter den entsetzlichsten Qualen sein Geheimnis nicht, weil er die Strafe dafür mehr fürchtet als den Martertod. Ich verrate es aus Liebe zu einem Manne. Hast du, Faringi, den Radscha gesehen, den großen, starken Mann mit den blutunterlaufenen Augen?«
»Radscha Gholab?«
»Ja. Es ist der Oberguru, der Oberpriester der Buthotes, Erdrosseler welche mit der Phansi Schlinge oder mit dem Devy Seidentuch das Opfer ersticken. Ich war vierzehn Jahre alt, Bajadere im Tempel Siwas, keusch, rein, als dieser Mann kam, die Bajaderen musterte, mich besonders lange betrachtete, mit einem Priester sprach und mich dann fortführte. Die Göttin Kali brauchte Dienerinnen, ich wurde gezwungen, in ihre Dienste zu treten. Damals hatte ich noch keine Ahnung von den Thags, ich wurde eingeweiht und wegen meiner Schönheit zur Sutha bestimmt. Anfangs empörte sich mein Herz gegen die scheußlichen Bluttaten; aber an unbedingten Gehorsam von Kindheit an gewöhnt, gehorchte ich auch jetzt, und schließlich stumpfte sich mein Gefühl ab; ich konnte mit einem Manne scherzen und kosen, konnte sehen, wie der Würger von hinten kam, ihm die Schlinge um den Hals warf, und wie der Lugha ihn dann in das unterdes schon bereitete Grab legte. Du weißt vielleicht nicht, Fremdling, daß das Grab dessen, welcher getötet werden soll, schon fertig sein muß, ehe er tot ist, es sei denn, er soll der Kali geopfert werden, oder wenn ihm die heiligen Schlangen die Augen ausfressen dürfen.«
Reihenfels schauderte zusammen. So hatte Kiong Jang doch nichts als die Wahrheit erzählt, er war nicht irrsinnig, wie so viele behaupteten. – Ehe wir der Erzählung der Bajadere weiter lauschen, seien einige Erklärungen über die Thags erlaubt.
Wunderbar ist es, daß das Bestehen dieser Mördergesellschaft bis zum Jahre 1820 in das Reich der Fabeln verwiesen wurde. Erwähnung tut ihrer schon der alte Geschichtsschreiber Herodot, als er den Kriegszug des Xerxes schildert; sie bestehen gewiß schon so lange wie die indische Religion, reichen also bis in uralte Zeiten zurück.
Die Thags, nach anderer Schreibweise Dugghs, sich selbst Phansigars, das heißt Schlingenwerfer, nennend, sind Anbeter der Kali, der Göttin der Vernichtung, und werden als solche auch von den Anbetern Wischnus, Siwas und so weiter anerkannt, aber zugleich verfolgt, eben weil diese Götter der Entstehung und Erhaltung sind, jene die Göttin der Vernichtung ist.
Über die Entstehung dieser furchtbaren Mörderbande ist zu bemerken, daß nach der religiösen Anschauung der Indier (Buddhisten), seit Schaffung der Welt das Prinzip des Bösen dem des Guten widerstrebte. Die Göttin Kali, als Prinzip des Bösen, kämpfte gegen den Schöpfer und gründete zu diesem Zwecke die Sekte der Thags, deren Mitglieder sie selbst in der Kunst des Würgens unterwies. Sie beschützte die Thags in jeder Weise und vertilgte die Spuren der von ihnen verübten Verbrechen. Doch neugierige Würger beobachteten sie einst, wie sie die ermordeten Opfer verschwinden ließ, und dafür mußten sie büßen, indem sie seitdem die Spuren selbst verdecken und die Toten auch selbst beerdigen müssen.
Die Aufnahme in die Sekte ist mit allerlei Zeremonien verknüpft, die vom Guru, dem Chef der Bande, unterstützt durch Chams (Priester) ausgeführt werden.
Die Engländer in ihrem stolzen Hochmut bestritten das Bestehen dieser Sekte, nur wenige geben es zu. Die vielen Menschen, Europäer und Eingeborene, die in Indien verschwanden, hielt man für Opfer der Raubtiere, Schlangen und Straßenräuber.
Von 1808-1810 verschwanden eine unglaubliche Anzahl von Menschen, besonders von eingeborenen Soldaten, und man begann doch ernstliche Nachforschung zu halten, ohne etwas zu finden – Leichen wurden nicht entdeckt.
Im Jahre 1821 wurde dem Colonel Sleemann während der Nacht auf der Straße eine Schlinge von hinten um den Hals geworfen. Es gelang dem herkulischen Engländer, sich zu befreien, die ihn plötzlich Umringenden niederzuschlagen und den Schlingenwerfer selbst zu fassen.
Der Indier, ein Mann namens Faringhea, räumte offen ein, ein Thag zu sein, und prahlte damit, schon 779 Menschen mit der Schlinge getötet zu haben. Man hielt das für Prahlerei und glaubte ihm nicht. Der Mann bezeichnete aber genau die Stellen, wo er seine Opfer verscharrt habe, man suchte dort nach und fand, über ganz Indien zerstreut, über 600 Gerippe und Leichen.
Lord Bentink, damals Generalgouverneur von Indien, organisierte sofort unter Colonel Sleemann eine Gesellschaft von verwegenen Männern, um gegen die Thags zu operieren.
Diese Männer ließen sich anscheinend von den Thags in Fallen locken und fingen dann diese selbst. In kurzer Zeit lieferte Sleemann, nach amtlichen Berichten, 3266 Thags in die Hände der Justiz; diejenigen, welche im Kampfe ihren Tod gefunden hatten, waren gar nicht zu zählen. Nach Angabe dieser Gefangenen suchte man die Gräber der Opfer auf und scharrte über zehntausend Leichen aus. Über die Geheimnisse ihres Kultus waren die Gefangenen jedoch nicht zum Sprechen zu bringen, davon erfuhr man erst nach dem letzten indischen Aufstand.
Nach diesem tatkräftigen Vernichtungszug hatte man einige Jahre vor den Thags Ruhe, sie erholten sich aber nach und nach wieder, und kurz vor dem indischen Aufstand betrieben sie ihr Geschäft wieder im vollsten Schwunge.
Die Mitglieder, namentlich die Chams oder Priester und die Gurus oder Häupter, leben oft jahrelang in der bürgerlichen Gesellschaft als dies oder jenes, suchen inzwischen ihre Opfer aus und studieren deren Gewohnheiten. So lebte 1829 Hurry Singh, ein Guru, als reicher Seidenhändler unbelästigt in Hingoly.
Die Sutha, die Verlockerin, meist ein schönes Mädchen, lockt das Opfer nach einem verborgenen Platze, und inzwischen gräbt der Lugha schon das Grab. Während das Opfer in den Armen der Sutha liegt, wirft der Buthote die Schlinge, erdrosselt den Unglücklichen, der Leichnam wird beraubt und mit solchem Geschick verscharrt, daß von der Begräbnisstelle nicht die Spur zu merken ist. Man durchsticht den Körper vorher sogar mit Stäben, damit er von den Zersetzungsgasen nicht aufgebläht wird und das Erdreich heben kann.
Entgeht den Thags ein Opfer, so müssen sie unter sich losen, wer von ihnen getötet werden und das schon fertige Grab ausfüllen soll, damit die Göttin nicht betrogen wird.
Braucht die Kali lebendige Opfer, oder müssen die Schlangen mit lebenden Menschen gefüttert werden, so bedient man sich des Devy, des Seidentuches, das man dem Manne über den Kopf wirft. Tötet die Schlinge nicht sofort, so verfällt das Opfer den Schlangen. Derartige Personen dürfen nicht beraubt werden, alles an ihnen gehört der Kali.
Die Thags suchen sich nicht etwa nur Faringis als Opfer aus, sondern im Gegenteil am liebsten vornehme Indier, womöglich Diamantenhändler. Nur zur Klasse der Thags dürfen sie nicht gehören. – Vor dem Schlafgemache des angeblichen Bengalesen stand der Kaschin genannte Diener und lauschte. Er hörte Lachen, leise Schreie, Scherze, Küsse, Liebes- und Koseworte und ahnte nicht, daß Makalli eben einem Faringi die Geheimnisse des Bundes verriet; denn Kaschin war ebenfalls ein Thag.
»Zum Feste des Siwa, das aber eigentlich seiner Gattin, der Kali, galt,« fuhr die Bajadere flüsternd fort, ohne den Mann aus den Armen zu lassen, »wurde uns Suthas und allen Bajaderen, die sich in Delhi befanden und sich wegen ihrer Schönheit auszeichneten, befohlen, so viel englische Offiziere wie möglich an uns zu locken, damit sie nicht ihre Leute gegen die Rebellen anführen konnten. Einigen gelang es, darunter auch mir. Ach, wäre es mir doch nicht geglückt. Den, welchen ich verraten sollte, liebte ich wirklich, und auch er glaubte, von mir geliebt zu werben. Als Bajadere hatte ich mich ihm schon lange vorher auf Befehl des Obergurus genähert, ich sollte ihn in meine Schlingen ziehen, wie ich es schon mit so vielen Männern getan hatte, aber da geschah es, daß mein Herz in Liebe entbrannte zu ihm, das erstemal. An jenem Abend bestellte ich ihn zu mir in mein Haus, ich betete zu allen Göttern, daß er nicht kommen möchte, denn ich kannte sein Los, und ihn zu warnen wagte ich damals nicht; denn die Strafe, die darauf steht, ist entsetzlich. Der Unglückliche kam, ich koste mit ihm, er lag an meiner Brust, als von hinten der Buthote kam und ihm den Devy überwarf. Ich sah es und konnte ihm nicht helfen. Er wurde gefesselt, geknebelt und fortgeführt. Den Blick, den er mir, der Verräterin zuwarf, kann ich nie vergessen.«
Ein Schauer ging durch den Körper des Mädchens, doch es vergaß nicht, den jungen Mann aufzufordern, nicht mit lauten Liebesworten zu sparen.
»Und was ward aus ihm?« fragte dieser dann.
Die Bajadere zuckte zusammen.
»Ja, das ist die Hauptsache. Er ist nicht, wie so viele andere, wie die meisten der gefangenen Offiziere, getötet worden, der Oberguru schützte ihn vor dem Blutdurste Bahadurs und Nana Sahibs, welche den Bund der Thags zwar gut kennen, aber nicht zu ihm gehören. Morgen nacht findet ein Fest der Kali statt, alle Thags finden sich dazu ein, und dann wird auch mein Freund mit den übrigen Gefangenen geopfert werden. Wir müssen ihn retten, du hast geschworen.«
»Mit welchen übrigen?«
»Die vorgestern fortgeführt worden sind.«
Ein furchtbares Gefühl schnürte plötzlich Reihenfels das Herz zusammen.
»Die gefangenen Frauen?«
»Ja.«
»Alle?«
»Alle ohne Ausnahme. Der Oberguru hat darauf bestanden, daß sie der Kali zu Ehren geopfert werden, und Bahadur hat endlich nachgegeben.«
»Wo findet die Opferung statt?«
»In der Burg der Thags.«
»Wo ist diese?«
»Weit, weit von hier, doch ich kenne den Weg. Wir fliehen noch diese Nacht aus dem Schlosse, Pferde stehen zur Verfügung; ich teile dir noch unterwegs die Geheimnisse der Thags mit, du bist als Indier unkenntlich, unter männlicher Begleitung habe auch ich Zutritt zum Feste, sonst nicht, und ich weiß, wie es uns gelingen wird, meinen Freund zu befreien.«
»Wie heißt er?«
»Mac Sulivan.«
Reihenfels kannte ihn, es war ein Schotte, ein junger Leutnant.
»Aber ich bin nicht vertraut mit den Gebräuchen der Thags, ich würde mich verraten.«
»Ich teile dir die Zeichen und den Händedruck mit, weiter brauchst du nichts. Hast du Furcht?«
»Bei Gott, ich schrecke vor nichts zurück. So werden alle Gefangenen geopfert?«
»Alle, alle.«
»In ein und demselben Tempel?«
»In demselben Tempel, in welchem sich Sulivan befindet.«
»Wenn wir zu spät kommen?«
»Unmöglich! Erst müssen die indischen Gefangenen geschlachtet werden, dann kommen die Faringis daran, ganz zuletzt.«
»Du hast einen Plan zur Rettung?«
»Einen ganz sicheren. Ich bin in dem Tempel, welcher in den Grundfesten der Burg liegt, wie zu Hause, ich kenne alle seine Geheimnisse und werde sie benutzen.«
»So bin ich der Deine, Mädchen, ich komme mit und werde dich unterstützen.«
»Und auf mich kannst du dich verlassen, denn stirbst du, so ist es auch mein Tod.«
»Noch eins. Werde ich auch die anderen Gefangenen sehen?«
»Ah, auch du willst welche befreien?«
»Gewiß; deshalb wagte ich mich in dieser Verkleidung nach Delhi.«
Das Mädchen schien zu zaudern.
»Wenn du außer meinem Freunde noch jemanden befreien willst, müssen wir auch noch einen Begleiter haben,« sagte sie dann.
»Den habe ich, er hält sich in Delhi versteckt.«
Er begann Dick Red zu schildern, und zwar so, daß die Bajadere von dessen Tüchtigkeit eingenommen wurde.
»Spricht er so gut Indisch wie du?«
»Ach so, das hatte ich vergessen, er spricht gar kein Indisch.«
»Das würde nichts schaden. Die Thags legen oft das Gelübde ab, taubstumm zu erscheinen. Jetzt vorsichtig, Faringi, wir müssen uns ankleiden und das Schloß heimlich verlassen.«
»Erst noch eine Frage: Weiß die Begum, daß die Gefangenen der Kali geschlachtet werden sollen?« »Nein, sie weiß überhaupt nur wenig von der Verbindung der Thags, sie wird absichtlich darüber in Unkenntnis gehalten, und uns ist streng befohlen worden, uns vor ihr zu hüten.«
»Alle die Gefangenen standen doch unter ihrem Schutze?«
»Die Begum glaubt, sie werden in ein Versteck nach dem Gebirge gebracht, man hat sie getäuscht. Doch jetzt vorwärts, mein Getreuer, wir müssen eilen, denn wir müssen dem Oberguru zuvorkommen, der ebenfalls nach der Burg reist. Es ist ein weiter Weg, wir dürfen nicht ruhen, wollen wir morgen abend dort sein. Auch müssen wir erst deinen Freund aufsuchen und ihn vorbereiten.«
Die Bajadere erhob sich, trat zu der Portiere und schlug sie zurück.
»Kaschin, frisches Wasser,« sagte sie laut.
Keine Antwort, nichts regte sich.
»Er ist fort oder schläft. Kleide dich leise an, wie ich es tue.«
Einige Minuten später verließen beide das Gemach durch eine geheime Wandtür.
Reihenfels' Herz klopfte zum Zerspringen, so kalt und entschlossen er auch äußerlich war.
Er sollte die Geheimnisse der Thags kennen lernen, seine gefangene Schwester sehen und Gelegenheit haben, sie zu befreien, sowie vielleicht alle anderen Gefangenen.
Vielleicht konnte er auch etwas über das Schicksal der Tochter Mister Woodfield's erfahren und sie dem Vater wieder zuführen. Die Bajadere wollte er noch nicht über sie fragen, damit Makalli nicht über seine Kenntnis dieser Dinge mißtrauisch würde.