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Der Gouvernements-Palast zu Delhi war nicht mehr die Stätte ruhiger, ernster Arbeit; nicht mehr dachten erfahrene Männer dort darüber nach, wie man den Indiern begreiflich machen könne, daß man sie nicht nur ausnutzen wolle, und wie man der ostindischen Handelskompanie eine Schranke setze, daß sie das Land nicht allein für ihr Interesse aussauge.
Jetzt herrschte in dem prächtigen, majestätischen Gebäude Tag und Nacht ein aufgeregtes Leben. Die Anführer der Rebellen, welche in Delhi weilten, hatten von den Zimmern Besitz ergriffen, und da ein Radscha stets von Dienern umschwärmt sein will, die ihm die Wünsche an den Augen ablesen, so wimmelte es in dem Palast von Eingeborenen. Auch Bahadur und Nana Sahib hielten sich fast den ganzen Tag hier auf und berieten sich, wobei oft in den sechzig Minuten der Stunde ebensoviel Vorschläge gemacht wurden, einer immer toller als der andere, um den Engländern mit einem Schlage das Lebenslicht auszublasen.
So zum Beispiel wurde der Vorschlag, erst die Engländer in Indien niederzumetzeln und dann in Prauen nach ihrer Heimat zu fahren und ihnen dort den Garaus zu machen, mit wildem Jubel begrüßt, denn dann war es mit ihnen ein für allemal vorbei.
Ein so fanatischer Feind Englands aber Bahadur auch war, diesen Vorschlag verwarf er doch.
Mit den Engländern sah es übrigens sehr traurig aus. Sie hatten jetzt in Indien noch 20 000 Mann auf ihrer Seite stehen, und diese waren über einem Länderkomplex zerstreut, der 180 Millionen Seelen zählte. Man merkte überhaupt gar nichts mehr von englischen Soldaten.
Aber auch die indischen Fürsten hatten sich getäuscht. Sie hatten geglaubt, das indische Volk wäre genügend vorbereitet, wie ein Mann würde es aufstehen und nach der Waffe greifen; aber es kam anders. Das Volk verhielt sich indifferent; es hatte mit der Zeit einen zu großen Respekt vor den Engländern bekommen. Nur an den Metzeleien und Plünderungen nahmen alle redlich Teil, zur offenen Schlacht waren sie nicht zu bewegen, höchstens ab und zu einem heimlichen Überfall.
Die abgefallenen 80 000 Sepoys dagegen waren den Engländern furchtbare Feinde, hatten sie doch von ihnen militärische Schulung genossen. Nun, standen die übrigen Indier den Rebellen nur hier und da bei, so ging alles gut; Hauptsache war, daß sie nicht etwa, durch ihre Radschas dazu aufgefordert, gegen die Sepoys die Waffen ergriffen, denn mit diesen hätten sich auch die Bauern gut geschlagen, weil sie vor ihren eigenen Landsleuten keine Scheu hatten.
Wie Delhi, so waren auch gleichzeitig oder etwas später alle Städte in den Nordwestprovinzen: Benares, Asinghar, Allahabad, Agra, Kanpur, Luknau und andere mehr in die Hände der Rebellen gefallen. Man begnügte sich vorläufig damit, diese Städte in Festungen zu verwandeln und, waren bei der ersten Metzelei Engländer entkommen, auf diese in der Umgegend Treibjagden abzuhalten. Offenen Widerstand fanden die Indier vorläufig nirgends.
In Delhi zum Beispiel hatten die Meuterer außer einem Staatsschatz von zwei Millionen Pfund Sterling in Gold, das sind also 40 Millionen Mark, noch unermeßliche Kriegsvorräte vorgefunden, darunter 150 neue Kanonen, und mit diesen wurde das ummauerte Delhi in eine stattliche Festung verwandelt.
Kommandeur dieser Artillerie war ein geschulter, französischer Artillerist, welcher in unserem Roman vorläufig noch den Namen Francoeur führt. Unter ihm standen andere ehemalige französische Offiziere.
Auch Francoeur wohnte im Gouvernements-Palast und hatte sich die besten Zimmer ausgesucht, in denen er sich recht behaglich fühlte. Eben befand er sich, bekleidet mit einer phantastisch herausgeputzten Generalsuniform, in seinem luxuriösen Arbeitszimmer und stritt sich mit einigen Radschas herum, welche sich beleidigt fühlten, daß ihnen die französischen Offiziere die neu aufgeführten Festungswerke nicht zeigen wollten, als ihm eine Dame gemeldet wurde.
Schnell komplimentierte er die Gekränkten hinaus und empfing die eintretende Phöbe, die gekleidet war wie eine Pariser Modedame.
»Gott sei Dank, endlich eine Unterbrechung in diesen ekligen Geschäften!« rief Francoeur erleichtert, bewillkommte seine Geliebte, oder vielmehr seine ehemalige Maitresse, und bot ihr einen Stuhl an. »Nun, was führt meine schöne Phöbe zu mir, dem vielgeplagten Mann?«
»Du siehst nicht eben aus, als ob du dich überanstrengtest,« lächelte sie, streifte die bis an die Ellbogen reichenden Glacehandschuhe ab und bediente sich sofort aus der neben ihr stehenden Zigarettenbüchse. »Seit wir uns nicht gesehen haben, bist du sichtlich dicker geworden.«
»Das heiße indische Klima bekommt mir gut.«
»Und die Küche des Gouvernements-Palastes wohl nicht minder?«
»Besonders der Keller ist ganz vorzüglich bestellt,« lachte Francoeur; »aber, weiß Gott, wenn ich nicht den Schlüssel zu diesem hätte und die Radschas Freunde von englischem Porter und Ale und französischen Weinen wären, ich würde mein Quartier wechseln. Es geht zu unruhig hier her; ein jeder will den Herrn spielen und befehlen.«
»Also du erstreckst deinen Haß nicht auch auf die englischen Getränke, wie die Indier?«
»Durchaus nicht, ich verstehe auch die guten Seiten meiner Feinde zu achten.«
»Und die französischen Rotweine?«
»Diese zu hassen habe ich noch weniger Ursache.«
»Wahrscheinlich eine geheime Sympathie mit Frankreich ...«
»Still,« warnte Francoeur, »keine solchen Reden!«
»Bah, wir sind unter uns! Vor mir brauchst du deine Gedanken nicht zu verbergen, du hast oft genug mit mir unverhohlen darüber gesprochen.«
»Aber trotzdem bitte ich dich, zu schweigen. Wie gefällt es dir im Hause der Duchesse?«
Phöbe zuckte die Schultern und blies Rauchwölkchen vor sich hin, sie dann mit dem Fächer verscheuchend.
»Das Weib ist launisch,« entgegnete sie, »heute so, morgen so.«
»Wie spricht sie über die Sachlage?«
»Gar nicht, sie denkt nur an ihre Privatinteressen.«
»Lächerlich, diese Rachegedanken! Es wird nicht mehr lange dauern, und sie wird jetzt, da man sie nicht braucht, beiseite gestellt.«
»Das ist ihr gleich; sie ist ja bald so weit, wie sie will. Jetzt geht sie Nana Sahib um den Bart; sie will eine Gefangene ausgeliefert haben. Du weißt, wen.«
»Lady Carter? So so,« sagte Francoeur nachdenkend.
»Ja, um sie zu demütigen. Sie veranstaltet ein förmliches Fest dazu.«
»Und Nana Sahib will natürlich nicht.«
»Es scheint doch fast so, er möchte ihr wenigstens gern den Gefallen tun. Wenn mich der Schein nicht trügt, so hat Nana Sahib plötzlich wieder bemerkt, daß seine ehemalige Lieblingsfrau doch eigentlich immer noch recht hübsch ist.«
»Ah,« lachte Francoeur, »das nennt man Renaissance in der Liebe, und ich muß gestehen, daß auch ich ein Freund der Renaissance bin.«
Er hatte schon lange mit begehrlichen Blicken die schlanke und doch volle Figur seiner ehemaligen Maitresse gemustert und gefunden, daß sie sich während ihres Aufenthaltes in Indien nur zu ihrem Vorteil geändert hatte. Früher war ihre Farbe, wenn sie ungeschminkt, immer etwas grau gewesen, jetzt zeigte sie eine samtartige, gesunde Bräune.
Ferner erinnerte er sich, daß ihre Augen, als er sie zum letzten Male gesehen, einen matten, schwermütigen Ausdruck gehabt hatten, jetzt strahlten sie in jugendlichem Feuer.
Offenbar hatte der Aufenthalt in Indien sie verjüngt. Phöbe hatte seine Anspielung nur zu gut verstanden. Lächelnd fächelte sie ihm Kühlung zu.
»Francoeur, du bist aus den Jünglingsjahren heraus.«
»Nur den Jahren, nicht dem Herzen nach.«
»Als Kommandeur der Festung solltest du dich mit deinen Kanonen beschäftigen, nicht mit anderem.«
»Ich möchte gern eine kleine Vorübung unternehmen und probieren, ob ich die Gabe habe, eine Schanze zu erstürmen.«
»Scherz beiseite! Ich bitte dich, dich jetzt nicht mit Liebe zu beschäftigen.«
»Aber Phöbe, mit solch ernsten Dingen scherze ich niemals.«
Ärgerlich schnippste Phöbe die Asche ihrer Zigarette ab. Diese Wendung war ihr unangenehm, die unangenehmste, die das Gespräch ihr hätte bringen können.
»Ich ersuche dich, mich wenigstens jetzt mit Anträgen in Ruhe zu lassen,« sagte sie, »du weißt, ich bin nicht mehr völlig von dir abhängig. Bist du aber gefällig, so bin ich auch gern zu Gegendiensten bereit.«
»Hm, du führst eine sonderbare Sprache. Was ist dein Begehr?«
»Erst eine Frage: wie steht es mit den aus Delhi Entkommenen?«
»Das solltest du ebensogut wissen wie ich. Im Hause der Duchesse wird mehr darüber geredet als hier.«
»Ich habe in letzter Zeit wenig darüber zu hören bekommen, die Duchesse ist ganz mit ihrer Rache beschäftigt.«
»Nun, die Engländer und Sepoys sind total versprengt, und gelingt es ihnen einmal, sich zu sammeln, so sind die Unserigen sofort zur Stelle und jagen sie wieder auseinander. Jedes solches Scharmützel liefert zahlreiche Tote, besonders auf der gegnerischen Seite, und nicht lange wird es dauern, so lebt in den Dschungeln und Wäldern kein einziger der Geflüchteten mehr.«
»Und die Gurgghas?«
»Die halten treu zu den Engländern, doch täglich findet man die Leichen mehrerer von ihnen. Sie sind gegen die Kugeln nicht mehr gefeit, denn in den Sümpfen können sie die schweren Rüstungen nicht tragen. Sie haben dieselben für später versteckt; hoffentlich gelingt uns recht bald, dieses Versteck zu finden. Ihre Pferde haben sie in den Sümpfen auch schon längst eingebüßt.«
»Hat man schon Offiziere gefangen?«
»Nicht einen einzigen,« sagte Francoeur ärgerlich, »die Gurgghas und alle anderen bewachen dieselben wie die Kettenhunde, sie opfern ihr Leben täglich für sie. Auf ihre Gefangennahme stehen hohe Belohnungen. Wer Lord Canning lebendig einliefert, erhält von Bahadur sogar Radschaswürde.«
»Und die will sich der Diener Lord Westerlys wohl verdienen?«
»Ah, sieh mal an! Du bist doch nicht schlecht orientiert!«
»Ich habe nur gehört, daß sich der Diener Lord Westerlys erboten hat, den Gouverneur zu fangen, wenn man ihm dabei behilflich ist.«
»Es ist so. Allem Anschein nach haßt der Bursche Lord Canning glühend – so sagte auch Westerly – und ferner muß er auf einen oder einige der Getreuen Cannings, vielleicht auf Gurggahs, Einfluß haben, denn er ist seiner Sache sehr sicher. Er verspricht, den Generalgouverneur lebendig einzuliefern, wenn ihm ein Boot zur Verfügung steht, bemannt mit Bewaffneten, die den Gefangenen sofort nach Delhi bringen. Denn erfahren die übrigen Versprengten von der Festnahme des Gouverneurs, so kann ein verzweifelter Kampf entstehen.«
»Und das Boot wird ihm gestellt?«
»Natürlich! Der Diener Westerlys ist schon seit einigen Tagen hinaus in die Dschungeln.«
»Und sein Herr selbst folgt ihm mit dem Boot?«
»Du weißt ja ebensoviel wie ich!« »Nicht doch. Ich habe nur gehört, daß Westerly eine Mission bekommen hat, er soll auf dem Wasserwege in die Dschungeln fahren, und aus deinen Erklärungen kombiniere ich, daß er die Gefangennahme Lord Cannings unterstützen soll.«
»Das ist doch nicht so ganz, wie du denkst. Westerly hat versäumt, sich den Engländern anzuschließen, was ich ihm gar nicht verdenken kann; denn die Flucht damals aus Delhi war lebensgefährlich. Das Versäumte soll er jetzt nachholen; er soll sich zu den Engländern begeben, natürlich als unser Spion; denn er gehört uns mit Haut und Haar. Er begleitet das Boot nur als Passagier, steigt, wenn es sich in den Dschungeln befindet, irgendwo unbemerkt aus, markiert den Verfolgten, der aus Delhi geflohen ist und sich bisher versteckt gehalten hat. Auf diese Weise gelangt er unverdächtig zu den Engländern und kann uns über ihre Bewegungen und Pläne unterrichten.«
Nachdenklich wedelte sich Phöbe mit dem Fächer Kühlung zu.
»Hm, der Plan ist gut, aber gefährlich.«
»Bah, was fragen wir darnach? Westerly muß gehorchen, wir haben ihn in der Tasche.«
»Ist der Führer des Bootes schon gewählt?«
»Natürlich, ein zuverlässiger Indier, der außerdem die Wasserläufe der Dschamna durchaus kennt.«
»Schade, sonst hättest du mich vorschlagen können.«
»Du paßtest sehr gut dazu! Ein Weib!« lachte Francoeur.
»Warum nicht? Ist doch auch der Höchstkommandierende ein Weib, und zwar eins, das es mit jedem Manne aufnimmt.«
»Nun, mit unserer Pflegetochter kannst du dich wohl nicht vergleichen.«
»Allen Ernstes, ich hege den Wunsch, an dieser Expedition mit dem Boot teilzunehmen.«
Francoeur sah sie erstaunt an, dann brach er in lautes Lachen aus.
»Bricht bei dir schon wieder die Abenteuerlust durch? Ich dächte doch, diese Jahre müßtest du nun hinter dir haben.«
»Ich bitte dich, meinen Wunsch nicht lächerlich aufzufassen. Ich habe die Absicht, die Gegend kennen zu lernen, womöglich die Engländer selbst einmal zu beobachten, und bist du nicht geneigt, meinen Plan zu unterstützen, so wende ich mich an eine andere Seite.«
Francoeur ging einige male im Zimmer auf und ab und blieb dann vor Phöbe stehen.
»Es ist wirklich dein ernster Wunsch, diese Expedition auf dem Boot, die einen gefährlichen Verlauf nehmen kann, mitzumachen?«
»Ich bleibe fest dabei.«
»Aus welchem Grunde?«
»Den habe ich dir schon mitgeteilt.«
»Bah, mir kannst du nicht weismachen, daß dich nur die Abenteuerlust dazu treibt. Ich wette, du gehst als Spionin für Westerly mit.«
»Vielleicht.«
»Willst du mir keinen reinen Wein einschenken?«
»Ich darf nicht.«
»Hm, solltest auch du ein Freund der Renaissance in der Liebe sein? Solltest du mit Westerly früher – doch nein, das ist nicht möglich. Ah,« fuhr er plötzlich rasch fort, »ich durchschaue dich oder vielmehr deinen Auftrag. Du bist von der Duchesse geworben.«
»Vielleicht!«
»Daß Westerly Lady Carter liebt, weiß ich, und mir ist zu Ohren gekommen, daß er sie als Preis für seine Bemühungen verlangt. Sie ist ihm versprochen worden; das ist aber der Duchesse sehr unangenehm; denn sie will ihre Schwester für sich behalten, um ihre Rache an ihr zu kühlen, und nun hat sie jemanden geworben, der dafür sorgt, daß Westerly ...«
»Francoeur,« unterbrach Phöbe ihn heftig, aber leise, »ich bin keine Mörderin!«
»Es gibt noch andere Mittel als nur den Mord. Doch gut, wir Franzosen müssen durchaus zusammenhalten und jedem gefällig sein, der Feind der Engländer wie der Indier ist – und du sollst mitfahren können.« Francoeur glaubte mit seiner Vermutung das Richtige getroffen zu haben, weil Phöbe ihm nicht widersprach, hatte sich aber sehr geirrt.
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Mitten in den Dschungeln befand sich ein Platz, wo die langen Schilfstengel mit den scharfen Blättern und die Bambusstangen dicht über dem Boden abgeschnitten waren. Auf diese Weise war eine Lichtung entstanden, aber sie konnte auch mit einer Insel verglichen werden, denn ringsherum wurde sie von einem unpassierbaren Sumpfe eingeschlossen.
Den Weg zu dieser trockenen Stelle hatte sonst die Königstigerin nur betreten, wenn sie Junge werfen wollte, jetzt lagen auf dieser Insel zwölf junge Männer in sichtlich erschöpftem Zustande; wurden doch auch sie wie Raubtiere gejagt.
Alle waren von ganz außergewöhnlicher Körpergröße und sonst wohl auch von der entsprechenden Kraft; doch aus ihren Augen und eingefallenen Zügen sprachen die furchtbaren Strapazen, Hunger und Fieber. Keine Decke, kein Mantel schützte sie; sie durchstreiften die Wildnisse wie die Raubtiere, schliefen auf der nackten Erde und aßen das erbeutete Wild meist roh, um durch den Feuerschein keinen Verfolger anzulocken.
Bewaffnet waren sie mit Schwertern, Dolchen und Karabinern, welche sie mit ihren auseinandergefalteten Schärpen sorgsam umwickelt hatten; doch schon lange besaßen sie keine Patrone mehr, das Wild mußten sie in Schlingen fangen.
Es waren verfolgte Gurgghas. Träge lagen sie umher, stierten gedankenlos vor sich hin, oder unterhielten sich auch leise in flüsterndem Tone miteinander, wobei ihre Blicke manchmal scheu den zwölften Mann streiften, der etwas abseits von den übrigen lag.
Dieser war, wenn auch seine jetzige Hautfarbe den Indiern an Bräune nichts nachgab, offenbar ein Europäer, denn er hatte schlichtes, blondes Haar und die Gesichtsbildung der kaukasischen Rasse. An Größe gab er den Gurgghas etwas nach, aber seine breitschultrige Gestalt verriet eine bedeutende Kraft, ja, nicht einmal das Hungerleben in den Fiebersümpfen hatte sie zu beugen vermocht.
Lord Canning, der Oberstatthalter von Indien, dem in jeder Stadt ein Palast zur Verfügung stand, lag hier wie ein gehetztes Wild, an der Stelle, wo sonst die Tigerin ihre Jungen zur Welt brachte.
Bei der Flucht aus Fort Oliver war er von den übrigen Geretteten versprengt worden, nur diese elf Gurgghas hatte der Zufall ihm gelassen, und sie machten nun Tag für Tag, selbst die Hälfte der Nacht, die gewaltigsten Märsche, um sich mit den anderen Engländern und den getreuen Sepoys zu vereinigen. Canning wußte noch nicht, daß auch diese, in kleine Trupps versprengt, umherirrten.
Finster und immer finsterer wurden die Gesichter seiner elf Leute, die schon längst ihre schweren Panzer fortgeworfen hatten, weil sie sonst, nachdem die Pferde schon versunken waren, in dem weichen Boden stecken geblieben wären. Was Lord Cannings eiserne Natur ertragen konnte, das konnte die ihrige nicht aushalten.
Schließlich gab er nach; er bestimmte den morgigen Tag als Rasttag; aber wo war ein Platz, auf welchem man sich ruhig hinlegen konnte, ohne von den Bluthunden sofort wieder aufgestöbert und gejagt zu werden? Da trafen sie am Abend auf einen Indier, anscheinend ein Jäger. Sie wollten ihn zuerst niedermachen, denn jeder Unbekannte mußte als ein Feind angesehen werden, aber der Jäger gab Zeichen des Friedens, und es fand eine Verständigung statt.
Er sagte, seine Hütte, in der er Felle aufbewahre, läge nicht weit von hier, doch dahin könne er sie nicht führen, denn täglich kämen Indier und untersuchten sie nach Engländern.
Er selbst mische sich nicht in den Streit, er wäre auf keiner Seite an dem Aufstand beteiligt, sondern er wünsche nur, dieser sei erst vorüber, damit er wieder sorglos seinem Jagdgewerbe nachgehen könne.
Wenn er, Lord Canning, ihm seine glänzende Kette als Halsschmuck gäbe, wäre er gern erbötig, den Verfolgten ein sicheres Versteck zu zeigen.
Derartige Jäger sind in Indien nichts Seltenes. Die Indier haben eine eigenartige Lebensanschauung, wie man an den zahlreichen Fakiren merkt, und daß sich Eingeborene ganz in die Wälder zurückziehen und nur von der Jagd leben, unbekümmert um die andere Welt, findet man häufig.
Lord Canning hätte der Ehrlichkeit des Burschen gern vollkommen getraut, wenn dieser nicht so scheue Augen besessen hätte, die unstet umherwanderten. Doch was sollte er tun? Seine Leute bedurften unbedingt der Ruhe. Er gab dem Jäger die goldene Uhrkette, nachdem er davon ein Medaillon abgelöst hatte, und der Mann brachte die Müden in einen Schlupfwinkel.
Der Jäger sorgte sofort für Wildbret, und hier durfte auch Feuer angemacht werden. Die Feuerstelle in der Mitte des Platzes, sowie umher liegende Knochen einer Antilope bewiesen, daß man bereits eine Mahlzeit hinter sich hatte. Doch diese war schon am Abend zuvor abgehalten worden, und der Jäger war wieder unterwegs, um für neue Nahrung zu sorgen.
Lord Canning bedauerte, daß die Patronen der Jagdflinte nicht in die Karabiner seiner Leute paßten, denn so waren sie in einem Kampfe nur auf ihre blanken Waffen angewiesen.
Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als die Schilfstengel knackten. Aller Köpfe wendeten sich einer Richtung zu, wo ein geheimer Weg durch den Sumpf führte; der Indier trat heraus, mit einem ledernen Sack schwer bepackt.
Er keuchte, es war heiß und der Sack schwer, aber er setzte ihn nicht gleich ab, sondern trug ihn bis in die Mitte der im Kreise lagernden Gurgghas.
»Woher bekamst du mit einem Male diesen Sack?« fragte Canning, der aufgestanden und hinzugetreten war, erstaunt.
»Ich war in meiner Hütte, Sahib, und habe ihn mir geholt.«
»Deshalb bliebst du auch so lange aus. Wir haben dich sehnsüchtig erwartet.«
»Das Wild ist auch nicht mehr leicht zu schießen, Sahib, es wird durch den Lärm scheu.
Weit mußte ich gehen, ehe ich eine Antilope zum Schuß bekam, und der Schleichweg führte mich in meine Hütte.«
Der Mann sah Lord Canning eigentümlich an, machte eine Handbewegung und entfernte sich abseits. Lord Canning, glaubend, er habe ihm eine wichtige Mitteilung zu machen, folgte ihm; aber nicht genug damit, der Jäger zog ihn auch am Arm und richtete es so ein, daß Cannings Gesicht den Gurgghas abgewendet war.
»Nun, was hast du?«
»St, nicht so laut!« warnte der Jäger, die Gurgghas dabei von der Seite beobachtend. »Sie dürfen es nicht hören.«
»Was hast du mir mitzuteilen?«
»Ich habe etwas gesehen.«
»Uns feindliche Indier?«
»Einen Faschni.«
Lord Canning konnte über die Wichtigkeit dieser Mitteilung kaum ein Lächeln unterdrücken, er hatte etwas ganz anderes erwartet.
Wie die Agnis die Feuergeister, so sind die Faschnis die Wassergeister, denn, wie schon erwähnt, bevölkern die abergläubischen Indier alles mit Geistern, mit Kobolden, Nixen und so weiter. Die in den Dschungeln häufigen Irrlichter halten sie für Agnis, und die zusammengeballten Nebel, welche oft über sumpfigen Gewässern schweben, beten sie als Faschnis an. Daß phantastische Köpfe oft auch richtige Gestalten dabei sehen wollen, ist natürlich.
Das wußte auch Canning und, weit davon entfernt, den Mann über seinen Aberglauben aufzuklären, empfahl er ihm, darüber zu schweigen, denn leicht konnte es sein, daß, wenn ein Gurggha die Anwesenheit eines Faschnis in der Nähe erfuhr, auf und davon lief, und daß die anderen ihm folgten.
Während sich Lord Canning mit dem Jäger besprach, bemerkte er nicht, was hinter ihm vorging. Die Gurgghas blinzelten dem nach ihnen sehenden Jäger zu, nahmen aus dem Sack eine obenaufliegende, kleine Antilope, griffen tiefer hinein und brachten eine Menge teils blauer, teils weißer Pakete zum Vorschein, die sie schnell unter sich verteilten. Canning hätte sofort gewußt, was sie enthielten, denn sie entstammten den englischen Munitionskammern Delhis; die blauen enthielten Patronen für die Karabiner, die weißen für die Revolver der Gurgghas.
Als sich der Jäger endlich zufrieden gab, und Canning sich umdrehte, waren seine Leute schon ruhig mit Häuten und Zerlegen der Antilope und mit Vorrichtungen zum Braten derselben beschäftigt.
Er ahnte nicht, als er sich zum gemeinsamen Essen setzte, daß er seine Mahlzeit mit lauter Verrätern teilte, die seine Gefangennahme beabsichtigten.
Die anderen aßen noch, als sich der Jäger schon wieder entfernte, um, wie er sagte, für die Sicherheit seiner Schützlinge zu sorgen. Die Gurgghas lagerten sich im Kreis, der Ruhe zu pflegen, und Lord Canning streckte sich abseits nieder.
Lange betrachtete er das geöffnete, kleine Medaillon in seiner Hand, ein gleiches, wie Franziska besaß, trübe ruhte sein Auge auf den lieblichen Zügen seiner Braut, und trübe waren seine Gedanken.
Was war aus denen wohl geworden, welche auf eine so rätselhafte Weise aus dem Keller des Fort Oliver verschwunden waren? Gewiß hatten die Indier einen unterirdischen Weg gekannt, ihn benutzt und die Frauen entführt. Dann war der Tod ihr sicheres Los, und, ach, unter ihnen war auch jene, welche Canning liebte! Gern hätte er sein Leben darangesetzt, um in die Stadt zu kommen und Nachforschungen nach Franziska anzustellen; aber sein Leben gehörte nicht ihm allein, es gehörte auch England.
Alle Engländer warteten jetzt auf den Generalgouverneur, damit er Maßregeln ergriffe, und er lag hier in den Dschungeln, nur eine Handvoll Getreuer um sich.
Wenn nun auch diese ihm die Treue kündigten? Sie machten schon so mürrische Gesichter. Natürlich, sie hätten nur zum Feind überzutreten brauchen, und das beste Leben wartete ihrer, hier dagegen führten sie ein Dasein wie die Raubtiere. Es brauchte nur jemand zu kommen und ihnen verlockende Angebote zu machen, so war zehn gegen eins zu wetten, daß sie zum Feind überliefen, natürlich, nachdem sie vorher das Haupt der Engländer, ihn, getötet hätten. Ja, wenn Dollamore bei Canning gewesen wäre! Für den verhungerten die Gurgghas mit Freuden.
Wenn nun jener Jäger doch ein Verräter war? Es war Lord Canning gleich im Anfang gewesen, da er den Jäger erblickte, als hätte er das Gesicht schon früher einmal gesehen, und noch manchmal passierte ihm dies, und jedes mal überschlich ihn dabei ein unangenehmes Gefühl.
Nun, er mußte sich eben auf die Treue der elf Gurgghas verlassen; Tag und Nacht für seine Sicherheit wachen konnte er nicht, der Schlaf forderte gebieterisch seine Rechte.
Noch einmal küßte der Generalgouverneur das Bildnis seiner Braut, dann verwahrte er es sorgsam an der Brust und war bald eingeschlafen.
Nicht so die Gurgghas; der Schlaf floh ihre Augen, denn der Jäger, ein schon ältlicher, erfahrener Mann, zauberte den Ermüdeten verlockende Bilder vor, die sie wach hielten.
»Einen Stich ihm beibringen, ja, das könnte ich wohl,« sagte einer, der Stärkste von allen; »aber ihn fangen und gebunden fortführen, nein, ich bring's nicht fertig.«
»Warum nicht?« fragte der Jäger.
»Ich – könnte ihm nicht ins Auge schauen.«
»So läßt du es eben bleiben!« lachte der Jäger leise. »Lebendig muß er nach Delhi gebracht werden, sonst dürft ihr auf Gnade nicht hoffen. Alle anderen Indier, selbst die Sepoys, welche den Engländern beigestanden haben, erhalten sofort Verzeihung, wenn sie wieder zu uns übertreten, nur die Gurgghas nicht, denn sie sind daran schuld, daß uns die verfluchten Faringis entgangen sind, sie haben ihnen den Weg zur Flucht gebahnt. Nur euch elf Mann wird die besondere Vergünstigung gewährt, doch diesen da müßt ihr fangen.«
»Aber Dollamore ...« bemerkte der Große noch einmal zögernd. »Bah, der ist schon längst von einer Kugel gefallen. Und wenn er noch lebte, was wäre dabei? Liebst du denn dieses Hungerleben in den Sümpfen so sehr, oder was hast du von den Engländern, deinen natürlichen Feinden, daß du sie nur ungern verläßt? In Delhi erwartet dich das schönste Leben; übermorgen werden alle gefangenen Weiber und Kinder niedergemetzelt, und dazu läßt Bahadur über tausend Ochsen und unzählige Schafe schlachten.«
»Wir wollen es tun,« sagten einige und standen entschlossen auf. Auch der letzte gab sein Zögern auf.
»Aber kein Schuß, kein Stich, kein Schlag!« warnte der Jäger und verteilte Stricke.
»Lebendig und unverletzt muß ich ihn haben. Bedenkt, was ich euch sagte, wer ich bin, werdet ihr erst in Delhi erfahren. Alles ist bereit, euch sofort dorthin zu bringen.«
Die Männer verteilten sich und schlichen auf den Schlafenden zu.
Plötzlich fühlte sich Lord Canning von vielen starken Armen umschlungen; schwere Körper lagen auf dem seinen, seine Hände wurden gepackt. Dennoch gelang es ihm noch einmal, sich halb empor zurichten; die linke Hand vermochte sich noch einmal loszureißen; er zog dem nächsten den Dolch aus dem Gürtel, und tödlich getroffen sanken zwei der Verräter nieder.
Aber all seine Kraft half nichts gegen die Übermacht; bald waren ihm die Hände auf dem Rücken gebunden.
»Verräter!« keuchte er. »Elende, erbärmliche Feiglinge!«
Er sah, wie befehlend jetzt plötzlich der fremde Indier auftrat, und er wußte, wer seine Leute gegen ihn aufgewiegelt hatte. Geduldig ergab er sich in sein Schicksal, er kannte das Los, das seiner harrte – Gefangenhaltung als Kriegsgeisel.
Der Jäger umschlang die Arme des starken Mannes nochmals mit doppelten Stricken, dann wurde Canning in die Mitte genommen und auf dem schmalen Wege durch den Sumpf geführt.
Nach einem Marsch von einer halben Stunde kam man an das schilfige Ufer eines Nebenflusses der Dschamna, der durch sein öfteres Übertreten diese Sumpfregion geschaffen hatte.
Es war eine vollkommene Wildnis. Die Bäume waren mit Schlingpflanzen überwuchert, gefallene Stämme lagen kreuz und quer im Wege und düngten den Boden wieder durch ihren Verfall, daß das Sumpfschilf üppig treiben konnte.
Der Jäger befahl Halt und ließ Canning an den schlanken Stamm einer Palme fesseln. Er selbst prüfte sorgfältig die Banden, denn er hatte vor der Kraft des Gefangenen Respekt bekommen.
»Ihr geht diesen Fluß entlang,« wandte er sich dann an seine neuen Genossen, »haltet euch immer längs desselben, und wenn ihr ein großes Boot seht, so gebt Zeichen, und ihr werdet von ihm aufgenommen. Sagt, daß ich mit dem Gefangenen hier bin, es wird herausfahren und uns abholen.«
»Warum kommst du nicht gleich selbst mit?« fragte einer mißtrauisch.
»Weil ich mit ihm erst allein sein will. Geht!«
Die Gurgghas gehorchten; sie entfernten sich, und der Jäger sah ihnen so lange nach, bis der letzte hinter den Schlingpflanzen verschwunden war.
Lord Canning ahnte, daß dieser Mann ihn unter vier Augen sprechen wollte.
»Was hast du mit mir vor?« fragte er.
Der Indier antwortete nicht. Langsam, bedächtig legte er sein Gewehr und seine Munitionstasche nieder, nestelte sein baumwollenes Hemd auf und zog es aus.
Da bemerkte Lord Canning plötzlich, daß des Mannes Rücken mit langen, tiefen Narben durchfurcht war, selbst über Schultern und Achseln zogen sie sich hin. Offenbar rührten sie von Peitschenhieben her, wie die indischen Verbrecher sie erhalten, ehe sie der Strafanstalt überwiesen werden. Als der Mann sich wieder aufrichtete, sah er schrecklich aus, sein ganzes Wesen hatte sich verändert. Seine Züge waren von einer wilden Leidenschaft entstellt, seine Augen glühten in unheimlichem Feuer.
Selbst Lord Cannings furchtloses Herz erbebte, als die halbnackte Gestalt, im Gürtel ein langes, blankes Messer, mit über der Brust verschränkten Armen vor ihn hintrat.
Lange betrachtete der Indier den Gefangenen; immer entsetzlicher wurde der Ausdruck seines Gesichtes.
»Erkennst du mich jetzt?« fragte er dann leise mit vor verhaltener Wut bebender Stimme.
Da plötzlich zerriß der Schleier vor Cannings geistigen Augen. Ja, jetzt erkannte er diesen Mann, und er wußte, daß er von ihm kein Mitleid zu erhoffen hatte.
»Mudrara – du!«
»Ja, ich bin Mudrara,« zischte der Indier, »und du, Hund, bist der, welcher mich zu dem gemacht hat, was ich bin, zu einem Mörder, einem Sträfling, der gepeitscht wurde, einem Menschen, der sein Vaterland nicht wieder betreten darf, weil er dort zu Tode gesteinigt wird.
Du, du bist an allem schuld.«
Lord Canning hatte seine Ruhe wiedergefunden.
»Ich kenne dich, Mudrara. Du warst in Kanpur einst mein Diener, ich züchtigte dich einmal, weil du mir Geld entwendet hattest ...«
»Es war mein Geld,« fuhr der Indier hastig auf.
»Du irrst, es war das meine, und ich war dir deinen Lohn nicht schuldig.«
»Es war mein Geld; ihr Engländer habt es aus dem Schweiße der Indier erpreßt und bezahltet damit eure Diener. Hatte ich, ein Indier, nicht das Recht, es zu nehmen?«
Lord Canning antwortete auf solche Beweisführungen nichts.
»Ich brauchte es, denn meine Tochter stand auf dem Sklavenmarkt, ich hatte sie gesehen und wollte sie kaufen, sie befreien, und dazu mußte ich Geld haben ...«
»Hättest du mir das gesagt, so hätte ich sie gekauft.«
»Hahaha,« lachte der Indier höhnisch, »nicht wahr, damit du sie besitzen konntest!«
»Mudrara, ich beschwöre dich ...«
»Nein, nein, ich kenne euch Engländer, ihr seid alle gleich. Du schlugst mich, als du mich fandest, wie ich das Geld nehmen wollte.«
»Du hobst das Messer gegen mich; ich kam dir nur zuvor, als ich dich zu Boden schlug.
Ich wollte wissen, warum du mir die große Summe entwenden wolltest, du aber schwiegst verstockt.«
»Weil du mir doch nicht geglaubt hättest, daß ich damit meine Tochter einlösen wollte. O, ich hatte schon manche Erfahrung gemacht. Du verziehst mir, wie du sagtest, aber du schicktest mich fort, und als ich auf den Sklavenmarkt kam, war das Kind eben unter dem Hammer.«
»Du hättest es der englischen Behörde anzeigen sollen. Der Markt wäre sofort aufgehoben worden und deine Tochter befreit gewesen.«
»Der englischen Behörde?« hohnlachte der Mann. »Engländer waren ja die Käufer; der Gouverneur von Kanpur selbst kaufte meine Tochter. Wo sollte ich da Recht suchen?«
»Und du warst es, der diesen Gouverneur ermordete.«
»Ich war's, und meine Tochter ermordete ich mit, als sie in seinen Armen lag. Und wer war es, der den flüchtigen Mörder einholte, ihn abermals zu Boden schlug und ihn der englischen Polizei auslieferte?«
Lord Canning erschrak.
»Es war deine Tochter?«
»Meine Tochter! Ich wollte nicht, daß sie zum Spielzeug der Faringis diente, die ich haßte.
Lieber tötete ich sie selbst.«
»Du hattest es nicht gesagt, ich wußte das nicht. Hätte ich gewußt, daß es deine Tochter war, bei Gott, ich hätte meine Pflicht vergessen und hätte dir beigestanden.« »Hahaha!« lachte der Indier höhnisch. »Gedenkst du, mich zu rühren? Sprich, wer war es, der mich gefangen nahm und der Polizei auslieferte?«
Canning wußte, daß das steinerne, haßerfüllte Herz dieses Mannes nicht umzustimmen war.
»Ich, und dir ist recht geschehen. Meine Pflicht war es damals sogar, deiner Exekution beizuwohnen, und ich gab dem Vollzieher die Weisung, deinen Rücken nicht zu schonen.
»Hund,« knirschte der Indier bei diesem offenen Geständnis und erhob die geballte Faust, »du allein bist an allem schuld, du gabst den Anfang zu meinem Unglück, und Schlag für Schlag, den ich empfangen habe, will ich dir vergelten, ehe ich dich den Radschas ausliefere.«
Er führte mit der Faust den ersten Schlag nach Cannings Kopfe, an die Schläfe.
Canning schrie auf; wie ein Verzweifelter riß er an den Stricken.
»Herr, gib mir nur einen Arm frei!« stöhnte er auf.
Der zweite Schlag sauste an seinen Kopf; mit schäumenden Lippen stand der Indier vor ihm, er wollte seine Wut an dem Wehrlosen auslassen.
Zum dritten Male holte er zum Schlage aus; da riß es hinter Cannings Rücken, der rechte Arm hatte sich losgesprengt, und von kräftiger Faust in die Seite getroffen, taumelte der Indier zu Boden.
Doch im Nu sprang er auf, riß das Messer aus dem Gürtel und stürzte, die Wichtigkeit Lord Cannings als Gefangenen vergessend, auf ihn zu, ihm den Todesstoß zu geben.
Der Generalgouverneur sah sich verloren, er erwartete seinen Tod mit kaltem Auge. Da blitzte es zwischen dem Schilf auf, der scharfe Schuß eines Revolvers krachte; der Indier brach zusammen, rollte im Todeskampf zwischen die Binsen des Uferrandes, und Dollamore stürzte hervor.
»Gerettet!« jubelte er. »Ich kam zur rechten Zeit. Es war meine letzte Kugel.«
Sein scharfes Messer sägte und schnitt an den Banden des Gefangenen.
»Ein starker Trupp der Unseren hat sich vereinigt,« sagte er während seiner Arbeit hastig, »jetzt können wir uns durchschlagen – nach Süden zu – General Nicholson ist schon mit Hilfe unterwegs – ein Boot kommt den Fluß herunter – wir greifen es an und nehmen es – wir werden Munition finden und uns nicht mehr jagen lassen.«
Lord Canning war frei. Er drückte wortlos Dollamores Hand. Aus dem Gebüsch brachen wohl hundert Mann, Engländer, Gurgghas und Sepoys. Canning wurde bewaffnet.
»Halt, noch einen Augenblick! Ich bin von verräterischen Gurgghas überwältigt worden, es sind neun Mann, auch sie erwarten das Boot, um sich dessen Mannschaft anzuschließen. Es sollte wahrscheinlich noch Gefangene nach Delhi bringen.«
»Der Teufel soll sie holen, wenn ich sie finde.« rief Dollamore heftig.
Dem Trupp voran stürmte er durch die Dschungeln; nach wenigen Minuten erblickten sie die neun Gurgghas, und diese sanken vor Schreck in die Knie, als ihr Führer plötzlich vor ihnen stand.
»Schurken,« donnerte Dollamore sie an, »Verräter, Hunde!«
Er hatte keine Zeit, jetzt ein Gericht abzuhalten, er sah nur ihre gefüllten Patronentaschen, die Munition wurde verteilt, und dann ging es weiter, vorsichtig, leise, jedes Geräusch vermeidend; denn man wollte das erwartete Boot überraschen.
Die neun Gurgghas schlossen sich dem Trupp an, sie hatten ja wieder ihren Führer vor sich.
Eine halbe Stunde währte der Schleichmarsch dann erblickten sie das Boot.
Es war ein großes, plumpes Fahrzeug mit einem Häuschen darauf und so hoch gebaut, daß es ein Zwischendeck enthalten mußte. Die Ruderer saßen auf dem schanzenlosen Verdeck und bewegten träge die schweren Riemen. Sonst standen noch etwa zwanzig wohl bewaffnete Indier umher. Das Fahrzeug war ganz flach, ohne Kiel gebaut, konnte also eine beträchtliche Last tragen und doch seichte Stellen befahren. Aber das unangenehmste war für die heimlichen Beobachter, daß es auf der anderen Seite des Flusses fuhr, und wohin man auch blickte, überall starrte das Wasser von beschuppten Krokodilsköpfen.
Arglos fuhren die Leute dahin.
Da erklang ein Kommando; am Uferrand krachte eine Salve, und fast alle an Deck Stehenden brachen unter Schmerzensschreien zusammen.
»Mir nach!« donnerte Dollamore und war mit einem Satz im Wasser, daß die Fluten hoch aufspritzten.
Die Gurgghas verließen ihren Führer nicht, sie folgten ihm, und erschreckt über diesen Aufruhr, suchten die sonst so furchtbaren Krokodile das Weite.
Es war das erstemal, daß die aus Delhi Geflohenen den Feinden nicht aus dem Wege gingen, sondern sie angriffen, und die Mannschaft des Bootes ließ sich auch nicht erst auf einen Kampf ein.
»Dollamore! Die Gurgghas!« schrien die Überlebenden; sie warfen die Waffen weg und sprangen vom Bordrand an das nahe Ufer, und plötzlich entleerte sich das Zwischendeck, wie auch das Häuschen seines Inhaltes, wohl vierzig Indier stürzten daraus hervor an das Ufer und verschwanden in rasender Flucht zwischen dem Schilf.
Es war Dollamore, als hätte er unter den Fliehenden auch ein Weib gesehen; dann hatte er das Boot erreicht; an dem Steuerruder kletterte er hinauf und warf Taue für die Nachfolgenden hinab.
Keine Menschenseele war mehr zu erblicken, ausgenommen die Toten und Verwundeten.
Man nahm ihnen die Waffen und warf sie selbst über Bord, den Krokodilen, die sich bald wieder einstellten, zum Fraß. Weder Dollamore noch Canning dachten an eine Verfolgung der Entkommenen. Sie waren im Besitz von Waffen und Munition, mit diesen konnten sie sich durchschlagen, bis sie auf Nicholson stießen, der schon nach Delhi unterwegs war.