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2. In der Höhle des Löwen

Erschrocken flatterten die Vögel aus ihrem leichten Schlafe von den Ästen auf, kleine Säugetiere huschten und brachen durch das Unterholz, und mit furchtsamem Geheul zogen sich die vierfüßigen Räuber zurück, wenn sich ihnen die vielen Fackeln näherten, die von durch den Urwald marschierenden Kulis geschwungen wurden.

Sie begleiteten einen Trupp Europäer, der noch zu so später Nachtzeit auf schmalem, unebenem Wege durch den tropischen Wald zog – eine mühsame Wanderung.

Dem Zuge voran schritten zwei Männer, einer groß, der andere klein, mit schweren Büchsen bewaffnet und in einer Kleidung, wie sie von Trappern in den Wildnissen Amerikas getragen wird. Diese beiden Männer waren von keinem Fackelträger begleitet. Sie brauchten kein Licht, um den Weg zu erkennen, denn es waren keine anderen als Dick und Charly, deren Augen die Finsternis durchdringen konnten, und die mit dem Instinkt eines Spürhundes jede Anwesenheit eines unheildrohenden Wesens, sei es Tier oder Mensch, zu wittern vermochten.

In einer Entfernung von etwa zwanzig Schritten folgte, von Fackelträgern umgeben, der eigentliche Trupp, bestehend aus der Gesellschaft, die sich in England zusammengefunden hatte, um den Felsentempel der Göttin Kali aufzusuchen.

Die weiblichen Mitglieder der Expedition saßen auf Maultieren, welche in Indien in stattlicher Größe gezogen werden, alle übrigen waren zu Fuß. Eine Anzahl nachfolgender Maultiere trug das Gepäck.

Es existierten damals in Indien zwar schon viel Eisenbahnen, alle größeren Städte waren durch Schienenwege miteinander verbunden, aber Indien ist groß – oft mußte man tagelang zu Fuß oder zu Pferd reisen, war das Ziel einmal ein anderes als eine große Stadt.

Schon seit Wochen zog die Gesellschaft kreuz und quer durch Indien mit Kiong Jang als Führer, doch immer schüttelte der Chinese den Kopf – er hatte noch kein Erinnerungszeichen an den Weg seiner Flucht gefunden.

Oft fanden wichtige Unterredungen zwischen Reihenfels, Hira Singh und Kiong Jang statt, aber zu einem Resultate kam man nicht.

Wie ein steuerloses Schiff trieb die Gesellschaft in dem ungeheuren Lande umher.

Jetzt befand sie sich auf dem Wege nach Delhi, der Hauptstadt von Audh, der Residenz des Großmoguls und überhaupt der bedeutendsten Stadt des Landes.

Die Nacht hatte sie überrascht. Da nach Aussage der hier bekannten Indier, die als Fackelträger engagiert waren, eine in englischem Besitze befindliche Plantage nicht mehr weit entfernt war, hatte Reihenfels beschlossen, diese aufzusuchen, anstatt wieder am Abend ein Lager aufschlagen zu lassen, was schon oft geschehen war.

Alles dazu Nötige führte er auf den Maultieren mit sich.

Reihenfels galt als Haupt der Karawane; willenlos gehorchte man seinem Befehl, mit Ausnahme Augusts, mit dem sich Reihenfels eine Last auferlegt hatte. Dieser Bursche fügte sich nicht ohne weiteres den Anforderungen, die sein Herr an die Mitreisenden stellte, bei Aufbürdung jeder neuen Reisebeschwerde war seines Räsonierens kein Ende.

Die beiden vorausschreitenden Pelzjäger wechselten kein Wort; stumm gingen sie nebeneinander her, ganz in ihre Aufgabe vertieft, eine etwaige Gefahr aufzuspüren.

Nicht so still war es bei dem .nachfolgenden Trupp. Die halbnackten Kulis schwangen fortwährend die lodernden Fackeln kreisförmig durch die Luft und stießen dabei gellende Schreie aus, so daß ein endloses Geheul durch den Wald tönte. Sie taten dies, damit die Raubtiere dadurch erschreckt werden sollten, so daß sie flohen und nicht etwa Lust bekamen, sich einen Menschen aus dem Zuge als Beute zu holen.

Auf diese Weise wird in Indien, wenigstens während der Nacht, jeder Wald passiert; jeder reisende Europäer muß solche Spektakelmacher engagieren.

An ein stilles Träumen war daher nicht zu denken, und um die annehmende Müdigkeit zu verscheuchen, unterhielt man sich. Das Gespräch mußte fast schreiend geführt werden, denn vor dem Heulen der Indier verstand man kaum sein eigenes Wort.

Reihenfels hatte eben der erschöpften Lady Carter versichert, daß sie nicht mehr weit von ihrem Ziele entfernt seien. In ein bis zwei Stunden könnten sie die Plantage erreicht haben, wo sie sicher als Landsleute freundliche Aufnahme finden würden.

»Ein bis zwei Stunden,« murrte neben Reibenfels August, »und das nennen Sie nicht mehr weit. Ich danke für Obst und anderes Gemüse, solch einen Weg soll der Teufel holen; an den Wurzeln stößt mau sich die Schienbeine kaputt, und die Dornen zerfetzen die Haut. Meine Füße brennen wie Pfeffer, ich kann, weiß Gott, nicht mehr gehen.«

Reihenfels, welcher sonst bei grundlosen Klagen recht ungeduldig werden konnte, sprang mit seinem Diener, ganz gegen die Gewohnheit, immer recht liebenswürdig um.

»Mein lieber August,« sagte er freundlich, »wir haben kein besseres Los als du. Wir alle sind müde, aber niemand als du allein klagt.«

»Ja, die anderen sind das Rennen gewöhnt, wie zum Beispiel mein Bruder und der andere Kerl da vorn, ich aber nicht. Und die nackten Kulis, na, das sind eben Wilde, keine Menschen.«

»Und Hira Singh und Kiong Jang?«

»Bäh, die bestehen nur aus Haut und Knochen, die haben gar kein Gewicht.«

»Und ich? Glaubst du, mir schmerzen die Füße nicht von dem langen Gehen?«

»Ja, warum haben Sie sich denn in solch ein dummes Unternehmen eingelassen?«

Reihenfels verlor die Geduld noch nicht.

»Wenn es möglich ist, so erwerbe ich auf der Plantage einige Reittiere, und dann werden wir ein bequemes Reisen haben.«

»Jawohl, und reichen sie nicht, dann werde ich wohl wieder derjenige sein, der nebenhertroddeln kann.«

»Du machst mir doch nicht etwa Vorwürfe, weil ich die Maultiere den Damen überlassen habe? Das sähe wohl schön aus, wenn du rittest und Lady Carter ginge zu Fuß nebenher! Es tut mir leid, daß ich, als wir die Station verließen, nur so viel Maulesel auftreiben konnte, wie zum Forschaffen des Gepäcks eben notwendig sind. Die armen Tiere sind sowieso schon überlastet.«

»Dann macht es auch nichts, wenn so ein Vieh einen Zentner mehr trägt.«

Reihenfels unterdrückte noch einmal seinen Unwillen über den faulen Diener.

»Solange nicht jemand zum Gehen total unfähig ist,« sagte er ernst, »besteigt niemand ein Maultier, denn dann müßte diesem die Ladung abgenommen und mit ihr die Indier belastet werden. Das habe ich von vornherein gesagt und dabei bleibt es. Füge dich also ins Unvermeidliche!«

Er verließ den mürrischen, brummenden August.

»Kerl, brülle mir nicht so ins Ohr,« schrie dieser jetzt einen Kuli an, der eben wie ein Teufel aufheulte, »oder ich haue dir eine runter, daß du den Himmel für einen Dudelsack anstehst!«

Er holte wirklich zum Schlage aus, und der Schreiende machte sich eiligst aus der Nähe des aufgebrachten Menschen.

In diesem Augenblicke blieben die beiden Vorläufer stehen und erwarteten den Trupp.

Man befand sich am Rande des Waldes, vor ihnen tauchten Dschungeln auf, welche sich rechts endlos ausbreiteten, links sich zwischen Hügeln verliefen. Schon jetzt merkte man, daß der Boden weich wurde, und im Sternenlichte konnte man erkennen, daß eine sumpfige Strecke zu überwinden war, wie man schon so manche mit vielen Schwierigkeiten passiert hatte.

»Sumpf,« sagte Dick einfach zu Reihenfels.

»Es scheint so, doch er erstreckt sich nur nach rechts hin. Ist dies nicht die Gegend, wo wir in dieser Richtung abschwenken müssen?« wandte er sich an einen Fackelträger.

»Ja, Sahib.«

»Wie weit ist es von hier noch nach der Plantage?«

»Wenn die Maultiere nicht zu tief versinken, noch zwei bis drei Stunden, Sahib.«

»Zwei bis drei Stunden!« schrie August mit verzweifelter Stimme. »Der Weg wird ja immer länger statt kürzer, ihr verdammten Lügner!«

»Ruhe!« gebot Reihenfels, und fragte dann, sich wieder an den Indier wendend: »Wohin führt der Weg links? Er scheint trocken und viel begangen zu sein.«

»Nach einem Jagdschlosse, Sahib.«

»Wie, nach einem Gebäude? Warum hast du das nicht gleich gesagt? Wir suchen ja nur eine Unterkunft. Oder ist es nicht bewohnt?«

»Doch, Sahib.«

»Wem gehört es?«

»Dem Großmogul von Indien, Bahadur,« kam es wie zögernd von den Lippen des Indiers.

»Es ist nicht leer?«

»Jetzt gerade nicht. Bahadur selbst befindet sich darin und viele, viele vornehme Radschas. Sie wollen in dieser Gegend jagen.«

Reihenfels entging nicht, daß der Kuli mit einer gewissen Scheu sprach. Schnell rief er einen Fackelträger heran, der bis jetzt entfernt gestanden und das Gespräch nicht gehört hatte.

»Wem gehört das Jagdschloß, welches dort links liegt?« fragte er diesen.

»Nana Sahib, dem Radscha von Berar, Sahib,« war die unverzögerte Antwort.

»Wie, ich denke, es gehört dem Großmogul?« wandte sich Reihenfels an den ersten Indier.

»So ist es auch.«

»Nein, es gehört Nana Sahib,« sagte der zweite. »Bahadur hat es vor einiger Zeit dem Sohne seines Bruders geschenkt.«

»Befindet sich Nana Sahib auch jetzt dort?«

»Ich glaube so! Alle Radschas sind hier zusammengekommen, um Tiger zu jagen.«

»Ah, nun kann ich mir erklären, warum wir Nana Sahib nicht in Akola trafen. Warum aber wollte dort niemand wissen, wo derselbe sei? Nun, das kann uns gleichgültig sein. Wie weit ist das Jagdschloß von hier entfernt?«

»Biegst du dort um den Hügel, so kannst du es schon liegen sehen.«

»Also nicht weit,« sagte Reihenfels nachdenkend.

»Nein, ganz nahe. Aber du gedenkst doch nicht, das Jagdschloß aufzusuchen? Der Großmogul ist zwar gastfreundlich, doch ...«

»Nu, allemal werden wir diesen großmoglichen Herrn besuchen!« rief August in heller Freude, daß er nicht mehr zwei bis drei Stunden, sondern nur noch eine kurze Strecke, und zwar einen trockenen, keinen sumpfigen Weg zu marschieren hatte. »Denn wenn er uns nicht so empfängt, wie es sich für unsereins geziemt, dann soll ihn doch gleich ...«

»Wir wollen die Herren in ihrer Zusammenkunft nicht stören,« entschied Reihenfels, ohne auf seinen Diener zu achten, »wir gehen rechts. Weiter!«

Alle nahmen den Weg, der bald durch einen Sumpf führte, ohne Zögern auf, nur August ließ ein lautes Murren hören.

Ehe man den Sumpf erreichte, fand noch eine Unterbrechung statt, durch Augusts Schlauheit hervorgerufen.

Man hatte noch eine kleine Strecke von äußerst dichtem Unterholz zu durchschreiten, nur mühsam arbeitete man sich vorwärts. Der Boden war schon sumpfig, jeder Schritt erzeugte eine kleine Wasserpfütze. Plötzlich brach August mit einem lauten Weheruf zusammen und blieb liegen. Reihenfels sprang sofort zu ihm hin.

»Ich habe mir den Fuß gebrochen!« jammerte August. »Diese verdammten Wurzeln!«

Reihenfels glaubte ihm nicht recht. Er ließ mit Fackeln den angeblich gebrochenen Fuß, der sich aber in ganz richtiger Lage befand, beleuchten und untersuchte ihn.

»Höre, August, ich glaube, du flunkerst uns etwas vor! Wo schmerzt es dich denn?«

August stöhnte unter der tastenden Hand entsetzlich, doch Reihenfels wußte schon, daß ein Bruch des Fußgelenkes nicht vorlag.

»O – au – mein Schienbein!« jammerte August.

»Nun ist es wieder das Schienbein.«

»Ich bin total unfähig, zu gehen.«

»Versuche einmal aufzustehen.«

»Ich kann nicht – eine innere Verletzung.«

Da plötzlich sprang August mit einem Satze auf beide Füße, aber auch alle anderen bemächtigte sich ein lähmender Schrecken.

Ein donnerndes Gebrüll zerriß die Luft, ein furchtbares Geheul, welches immer wuchs, dann aufhörte und wieder einsetzte, gefolgt von einem schrecklichen Pfauchen. Es klang ganz in der Nähe.

»Der Fürst der Dschungeln!« flüsterte ein Indier mit bebenden Lippen.

»Er hat sich auf sein Opfer gestürzt,« ein zweiter.

Atemlos lauschten alle den entsetzlichen Tönen. welche fortdauerten. Alle, welche in Indien bekannt waren, ebenso, auch Dick und Charly, wußten, daß hier ein Tiger sich nicht nur auf eine Beute geworfen hatte, sondern daß ein Kampf stattfand.

Mit wem konnte das gewaltige Raubtier, welches keinen Rivalen hat, einen solchen wohl ausfechten? Das Geheul tönte zwar ganz nahe, aber die Stimme des Königstigers ist mächtig, der Kampf konnte sehr wohl einige hundert Meter weit entfernt stattfinden.

Da gellte ein anderer Schrei durch die Nacht, aus einer menschlichen Kehle stammend, und gleich darauf erscholl ein Laut wie das Todesröcheln des Tigers.

Ohne sich verabredet zu haben, eilten schon Dick und Charly in großen Sprüngen der Richtung zu, wo der ungleiche Kampf zwischen einem Menschen und einem Königstiger stattfinden mußte. Reihenfels folgte ihnen ebenso schnell, die Büchse schußbereit in der Hand.

Sie hatten ein äußerst dichtes Gebüsch zu durchdringen, dann standen sie auf einer sumpfigen Lichtung. Doch bald bekam der Bach, welcher sich in der weichen Erde verbreitete, wieder feste Ufer, und da, wo er eine Art Bassin bildete, sahen die drei Anstürmenden im Sternenlicht zwei Körper am Boden liegen.

Furchtlos schritt Dick als erster darauf zu, die Büchse schußfertig im Arm. Er machte keinen Gebrauch von ihr. Der gewaltige Königstiger, welcher dort neben einem Menschen lag, rührte sich nicht.

Es bot sich ihnen ein entsetzliches Bild dar.

Der Körper des Mannes, welcher wahrscheinlich von dem Tiger hier am Rande der Dschungeln überfallen worden, war arg verstümmelt, die Brust zerfleischt, der linke Arm ganz vom. Rumpf gerissen. Da der Verletzte jedoch auf dem Armstumpf lag, so war die Blutung nur eine mäßige.

Der Mann, ein Indier, anscheinend von sehr kräftigem Körperbau, hatte sich nicht wehrlos dem Tiger ergeben. Die Faust umklammerte fest den Griff eines Yatagans, und dieser stak bis zur Hälfte im Körper des Tigers, die Spitze hatte das Herz erreicht. Es war nicht der einzige Stich gewesen, der Tiger hatte noch andere aufzuweisen.

Doch ehe sein Tod eingetreten war, hatte er noch seine Wut an dem Überfallenen auslassen können. Reihenfels setzte eine Pfeife an die Lippen und rief die Fackelträger heran. Auch alle anderen kamen auf diesen Kampfplatz.

»Der Mann ist wie ein Held gestorben,« sagte Dick und beugte sich zu dem anscheinend Toten herab; »es kommt mir fast vor, als hätte er den Tiger überfallen. Wo sind denn seine anderen Waffen? Alle Wetter,« schrie er dann plötzlich, »der lebt ja noch!«

Er hatte die Hand auf die blutige Herzgegend des Verwundeten gelegt und noch schwaches Leben verspürt.

Während die übrigen in scheuem Schweigen die Unglücksstätte umstanden, die Kulis mit Furcht und Zittern, entlasteten die drei zuerst angekommenen Männer schnell ein Maultier, welches die bei einer solchen Reise unentbehrlichen medizinischen Hilfsmittel trug, nahmen Verbandstoffe zur Hand und beschäftigten sich um den Unglücklichen.

Nach Verwendung von sehr viel Watte und Bandagen gelang es ihnen endlich auch, das Fließen des Blutes aufzuhalten, selbst der Armstumpf konnte fest genug verbunden werden.

Der Indier lebte noch, war aber natürlich dem Tode nahe, und wohl schwerlich konnte man ihn am Leben erhalten. Der Blutverlust war schon zu stark gewesen, ringsum war der Boden mit Blut bedeckt, welches selbst das Wasserbassin rötete.

Die beiden Pelzjäger begannen nach ihrer alten Gewohnheit nochmals den Kampfplatz zu untersuchen, um festzustellen, was hier vorgegangen sei. Auch der von den Zähnen des Tigers abgerissene Arm mußte noch gefunden werden.

»Hallo, was ist denn das?« rief August, der auf etwas getreten war, bückte sich und hob einen langen Gegenstand auf. Schnell warf er ihn mit Abscheu wieder von sich, er hatte in Blut gegriffen.

Charly kannte diesen Ekel nicht, er hob den länglichen Gegenstand auf und brachte ihn ins Fackellicht – es war ein muskulöser, nackter Arm, die Hand, um welche Fetzen eines Tuches hingen, vollständig zermalmt.

Auch Reihenfels nahm das Glied in die Hand und betrachtete es prüfend.

Da brachte Dick schon wieder einen anderen Fund, eine kleine, gelbe Tigerkatze, ebenso wie der große Tiger durch einen Stich ins Herz getötet. Da die Tigerin eben erst geworfen haben mußte, so war kein Zweifel daran, daß dieses Junge das ihrige war.

Der Indier hatte also erst das Junge und dann auch noch die Mutter getötet. Aber wie in aller Welt konnte ein Mann eine solche Jagd nur mit einem Dolch, wenn er auch schwertartig groß war, unternehmen? Andere Waffen wurden nicht gefunden. Durch das tote Junge war bewiesen, daß der Indier nicht überfallen worden war, sondern daß er die Tigerin erst zur Wut gereizt halte.

Schon wollte Reihenfels den Arm zu dem Halbtoten legen, mit dem sich der Chinese und Hira Singh beschäftigten, als er einen Laut der Überraschung ausstieß und den Arm noch einmal einer Fackel näherte.

Seine Hand fuhr über den Oberarm und wischte das Blut fort.

»Hira Singh, was ist das?« rief er dann in namenlosem Erstaunen. Der Gerufene trat zu ihm.

»Sanskrit,« sagte dieser, »wahrhaftig, dieselben Zeichen wie damals!«

»Sirbhanga Brahma,« flüsterte Reihenfels wie geistesabwesend.

Emily, die etwas abseits auf ihrem Maultier hielt und die Szene mit heimlichem Grausen beobachtete, sprengte heran.

»Sirbhanga Brahma?« rief sie. »Dasselbe, was Eugen eintätowiert hat? Nicht möglich! Oder es ist doch nicht etwa ...«

Ihre Augen wanderten mit einem entsetzten Ausdruck von Reihenfels nach dem verwundeten Indier.

»Nein, es ist nicht Eugen,« sagte Reihenfels. »Das ist ein großer, starker Indier, Eugen ist mittelgroß und schmächtig. Aber was soll das bedeuten? Nehmen die sich uns entgegenstellenden Rätsel denn gar kein Ende?« Er beugte sich über den Verwundeten, konnte aber die Gesichtszüge nicht unterscheiden, denn ein Tatzenhieb hatte sie entstellt. Er untersuchte die zerfetzten Kleider oberflächlich und den Yatagan, welcher der starren Faust entwunden worden war, konnte aber keinen näheren Anhaltspunkt finden, wer dieser Mann sei.

»Kennt jemand einen Indier, der den Namen Sirbhanga Brahma führt?« wandte er sich an die umstehenden Kulis, die vor dem Leblosen plötzlich eine heilige Scheu empfanden.

Alle verbeugten sich schweigend, blieben aber die Antwort schuldig.

»Er steht zu jenem Jüngling, welcher denselben Namen trägt, in einem Verhältnis,« flüsterte der Fakir Reihenfels zu.

»Du schließt das allein aus dem Namen?«

»Es ist dieselbe Tätowierung, es sind die Zeichen der Brahmanen. Ist es nicht wunderbar, daß der Jüngling auch den Arm mit der Tätowierung verloren hätte, wenn wir nicht gekommen wären? Brahmas Ratschlüsse sind unergründlich. Dies ist ein Fingerzeig von ihm.«

Der leblose Körper war noch sorgfältig gewaschen und verbunden worden.

»Der hat das Leben einer Katze,« meinte Charly. »Ich kalkuliere, er wird nicht gleich sterben.«

»Aber der Tod wird nicht zu vermeiden sein,« entgegnete Reihenfels, ihn nochmals untersuchend. »Doch hier können wir denselben nicht abwarten, wir müssen den Verwundeten mit fortnehmen.«

»Drei Stunden hält er es nicht mehr aus, er stirbt unterwegs.«

»Unser Ziel soll jetzt auch ein näheres sein, wir gehen nach dem Jagdschloß.«

»Zu Bahadur?« riefen einige Kulis.

»Ja, er wird sich wohl nicht weigern, einen todwunden Menschen aufzunehmen, noch dazu einen Indier. Und ich werde mich nicht irren, wenn ich annehme, daß dieser Mann selbst zu der Jagdgesellschaft Bahadurs gehört.«

»Nur ein Radscha wagt es, einen Königstiger zum Kampf zu reizen,« fügte ein Kuli bewundernd hinzu.

Vorsichtig wurde der Verunglückte auf das leergewordene Maultier geladen und befestigt.

Zwei Kulis mußten zu beiden Seiten gehen, andere die abgenommenen Packen tragen.

Unterdes hatten Dick und Charly mit zauberhafter Schnelligkeit dem Tiger das Fell abgezogen und dieses auf ein Tier gelegt, ebenso das des Jungen.

Dann schlug man den Weg ein, der nach dem Jagdschloß führte. Diesmal beschlossen Dick und Charly den Zug und hielten sich neben dem Tier auf, welches das auf dem Rücken ausgebreitete Fell trug. Der Maulesel zitterte wie Espenlaub, er fürchtete sich noch vor dem Fell des Raubtieres.

Die beiden Pelzjäger besprachen sich leise, worauf Charly sich zu Reihenfels begab, der den Zug mit anführte.

»Dick will Euch etwas sagen,« flüsterte er ihm zu.

Reihenfels blieb stehen und erwartete den Treiber des letzten Maultieres.

»Nun, was gibt's, Dick?«

»Etwas höchst Sonderbares.«

»Doch nicht schon wieder ein neues Rätsel?«

»Allerdings. Ich habe in meinem Leben schon so manches Raubtier geschossen, Panther, Jaguare, Wölfe, Luchse, wilde Katzen und so weiter, und manches Tier war dabei, dem ein Ohr, ein Auge, der Schwanz oder sonst etwas fehlte, aber daß sich die Tiger in Indien auch tätowieren, das habe ich noch nicht gewußt.«

Was sagst du da, sie tätowieren sich?« fragte Reihenfels und glaubte, der Pelzjäger erlaube sich mit ihm einen Scherz.

»Es ist so. Dieser Kerl hier hat wahrscheinlich Anfangsbuchstaben seines Namens im Fell gehabt, nicht gerade tätowiert, aber eingebrannt. Da seht selbst! Na, was sagt Ihr nun?« Dick deutete auf eine Stelle des gelben, wunderbar gestreiften Felles, und Reihenfels glaubte seinen Augen nicht trauen zu dürfen.

Im gelben Untergrunde waren da klar und deutlich zwei schwarze Zeichen zu sehen, wahrscheinlich mit einem Eisen eingebrannt.

»Es sind zwei indische Buchstaben,« sagte Reihenfels ganz verwirrt.

»Wirklich?« rief Dick erstaunt. »Ich machte vorhin nur Spaß. Aber lesen kann ich sie nicht.«

»Diese beiden Zeichen bedeuten ein N und ein S.«

»Laufen denn die sogenannten Königstiger in Indien alle gestempelt herum?«

Reihenfels blieb lange die Antwort auf diese nur spaßhaft gestellte Frage schuldig, starr waren seine Augen auf die beiden schwarzen Buchstaben geheftet.

»N und S,« murmelte er. »Was soll dies nun wieder bedeuten? Dick, du bist scharfsinnig, kannst du nicht einen Schluß ziehen? Was mag hier vorgefallen sein?«

»Nun, wie denkt Ihr wohl darüber?« fragte Dick seinerseits »Meine Meinung ist folgende: Der Indier hat die Tigerkatze, die sich bei Abwesenheit der Mutter heimlich aus dem Lager entfernt hat, an der Quelle gefunden und sie aus Übermut getötet. Ihr Schreien rief die Mutter herbei, der Indier sah sie kommen und konnte sich zu einem verzweifelten Kampfe noch vorbereiten.«

»So ungefähr ist auch meine Ansicht,« nickte Dick. »Nur habe ich beim untersuchen des Platzes noch mehr gefunden. Ich habe es bis jetzt für mich behalten; was brauchen es die anderen zu erfahren?«

»Sehr richtig, und was hast du gefunden?«

»Vor allen Dingen waren zwei Männer hier anwesend, der eine hat die Richtung eingeschlagen, die wir jetzt gehen, Also dem Jagdschloß zu, und da er große Sprünge gemacht hat, so muß er geflohen sein, wahrscheinlich, als die Tigerin den Mann überfiel.«

»Das mag sein. Sonst noch etwas?«

Dick zog einige Schnuren und ein Tuch aus der Tasche.

»Dies habe ich auch gefunden, und ich wette, daß damit die Tigerkatze gebunden gewesen war. Hier am Hinterfuß hängt nämlich noch ein Stück Schnure, die von diesem abgeschnitten worden ist. Aber nun sagt mal im Ernst, wie kommt es, daß die Tigerin einen Stempel trägt? Bei uns in Amerika stempelt man wohl Rinder und Pferde, aber doch keine Bestien.«

»Ich weiß nur zwei Erklärungen,« entgegnete Reihenfels sinnend. »Die Tigerin ist entweder früher einmal in Gefangenschaft gewesen und wieder geflohen, oder sie war bis vorhin eine Gefangene und Gezähmte.«

»Gibt es denn solche?«

»Indische Fürsten halten sich oft weibliche Tiger, welche so zahm wie Hunde werden, wenigstens gegen ihre Herren. Nur wenn sie Junge haben, ist mit ihnen nicht zu spaßen. War diese Tigerin säugend?«

»Sie muß erst vor kurzem geworfen haben, das Junge gehörte jedenfalls ihr.«

Das Gespräch brach ab, denn jetzt tauchte vor den Reisenden ein mächtiges, imposantes Gebäude mit erleuchteten Fenstern auf – das Jagdschloß.

Es war wie eine Burg gebaut, selbst der sich ringsherumziehende Graben mit Zugbrücke fehlte nicht, aber als Festung konnte das Gebäude trotzdem nicht dienen. Schon darum nicht, weil es mitten zwischen Hügeln lag. Reihenfels ließ nicht erst halten, kurz entschlossen führte er die Seinen über die niedergelassene Zugbrücke und erreichte unaufgehalten das starke, eiserne Tor.

Im Schloß ging es lebhaft zu. Fast alle Fenster waren erleuchtet, man hörte lautes Sprechen und sah Schatten hin und her huschen. Doch niemand schien die fremden Gäste zu bemerken, nur einige Hofhunde heulten jetzt lauter als vorhin.

Der Schwerverwundete lebte noch, einmal glaubte man sogar, er würde die Besinnung wiederbekommen. Aber sein Tod war unvermeidlich. Als Reihenfels weder Klingelzug noch Klopfer fand, pochte er mit dem Revolverkolben laut gegen die Tür. Gespannt warteten alle der Antwort, die sie in dem Schlosse, in dem Bahadur, der erste Fürst Indiens, sich befand, bekommen würden. Die Kulis machten sogar ängstliche Gesichter und schienen gar keine Lust zu haben, eine Nacht zwischen fürstlichen Personen zu verbringen.

Allein niemand kam. Nur die Hunde heulten wütend auf.

»Pochen Sie stärker! Nehmen Sie den Büchsenkolben zu Hilfe, wenn die Leute taub sind!« riet Mister Woodfield.

Reihenfels zögerte noch, zu so später Nachtzeit in einem fremden, indischen Schlosse solchen Lärm zu verursachen, da aber ließ schon Charly seinen Büchsenkolben gegen die Tür schmettern, daß die Funken aus dem Eisenbeschlag sprühten.

Die Schatten blieben an den Fenstern plötzlich stehen und spähten hinaus, dann kamen Schritte über den Hof, das Gebell der Hunde verstummte, in der Tür wurde eine Klappe zurückgeschlagen, und nachdem ein glühendes Auge die Gesellschaft gemustert hatte, fragte eine Stimme auf indisch: »Was ist euer Begehr? Dies Schloß gehört einem Indier, kein Faringi hat Zutritt. Entfernt euch!«

»Wir haben einen Indier gefunden, der von einem Tiger überfallen und schrecklich zugerichtet worden ist!« entgegnete Reihenfels schnell. »Er stirbt, wenn er nicht gebettet und gut behandelt wird!«

»So laß ihn sterben, wie wir einst alle sterben werden!« war die gelassene Antwort.

»Wüßtest du, wer er ist, du würdest anders sprechen!«

»Wer sollte es sein, der sich so spät in der Nacht noch da herumtreibt, wo der Tiger streift? Entfernt euch oder ich hetze die Hunde auf euch!«

»Das würdest du wohl bleiben lassen!« entgegnete Reihenfels trocken. »Der Verwundete gehört zu den Gästen Bahadurs.«

Der Mann schwieg eine Minute; jedenfalls war er betroffen über diese Antwort. Dann sagte er in spöttischem Tone: »Glaubst du, dir durch diese Lüge den Eingang zu erzwingen? Hat dir der Mann, welcher von dem Tiger überfallen worden ist, vielleicht gesagt, wie er heißt, und woher er kommt?«

»Ja«

»So laß ihn doch selbst sprechen!«

»Er ist bewußtlos geworden. Geh jetzt zum Besitzer dieses Schlosses und melde ihm, was ich dir gesagt habe, oder ich werde Mittel finden, mit ihm zu sprechen und mich über dein Betragen zu beschweren.«

Dies wirkte. Der Indier verschwand von dem Türloch, mußte aber wahrscheinlich erst eine lange Konferenz mit anderen Dienern haben, denn er kam nicht wieder.

Da stöhnte der Verletzte tief auf und machte mit dem gesunden Arm eine Bewegung. Es mochte wohl sein letztes Erwachen sein.

Reihenfels befahl, ihn von dem Tiere abzuheben und auf ein ausgebreitetes Segeltuch an die Erde zu legen. Dann beugte er sich über ihn und redete ihn an, fragte ihn, wer er sei, erhielt aber keine Antwort.

»Er stirbt!« sagte Reihenfels. »Ich hätte ihn so gern noch einmal zum Sprechen gebracht.«

Jetzt riß bei Dick die Geduld. Er klopfte mit der schweren Büchse so energisch gegen die eiserne Tür, daß sie in den Angeln erbebte, und rief dabei die im Schlusse des letzten Kapitels erwähnten Worte.

Das half. Nach einer halben Minute schon öffnete sich die Tür, und vor Reihenfels standen drei Männer, von denen zwei vollständig verhüllt waren, indes der dritte, ein kleiner Mann mit schwarzem Vollbarte, ein altes, runzliges Gesicht zeigte. Seine Augen fixierten im Nu jeden einzelnen des Trupps und blieben dann auf dem am Boden Liegenden haften, von dem sie sich auch nicht wieder trennten. Im Hintergrunde zeigte sich noch eine Anzahl dunkler Gestalten, wahrscheinlich Diener, zu einer etwaigen Hilfe bereit.

Mit kurzen Worten erzählte Reihenfels das Vorgefallene. Schweigend hörten die Indier zu.

»Woher weißt du, daß dieser Mann zu den Jagdgästen dieses Schlosses gehört, wie du dem Torhüter vorhin gesagt hast?« fragte dann der Kleine.

»Ich habe es nur geraten, weil ich hoffte, daß sich mir dann die Tür schneller öffnen würde.«

»So hast du falsch geraten. Dieser Mann gehört nicht ins Schloß. Doch er ist ein Indier, er soll nicht auf der nackten Erde sterben.«

Der Kleine klatschte in die Hände. Einige Kulis kamen von hinten vor und näherten sich dem Verwundeten.

In demselben Augenblick machte dieser gewaltige Anstrengungen, um sich aufzurichten.

»Nicht – hierher!« stieß er abgebrochen hervor. »Nana Sahib – ist – ein Schurke – er hat seine –«

Er kam nicht weiter. Mit einem Satz war der kleine Mann bei ihm und schlug das Segeltuch über ihn, so daß seine Worte erstickten.

»Fort!« befahl er den Dienern. Diese hoben den Körper, vielleicht schon einen Leichnam, auf und trugen ihn in den Schloßhof.

Es war erst, als wollte Reihenfels sie daran hindern, aber gleich beherrschte er sich wieder. Dann trat der Kleine auf ihn zu und sagte mit gewinnender Freundlichkeit, als ob nichts geschehen wäre: »Ich sehe, ihr kommt von einer langen Reise und seid müde, ist doch schon lange die Sonne in die Nacht hinabgestiegen. Die weiße Dame dort wankt im Sattel. Ich heiße euch im Namen meines Herrn willkommen, die Räume dieses Schlosses, über welches er mich zum Verwalter gesetzt hat, stehen euch offen.«

Er ging voran, und Reihenfels folgte, nachdem er seinen Begleitern, ganz besonders dem Chinesen und Hira Sing, zugenickt hatte, ohne Zögern in den Schloßhof. Die abwehrende Miene des Fakirs schien er nicht bemerken zu wollen.

Die Männer halfen den Damen aus den Sätteln; erschöpft lehnten sie sich an die nächste Stütze. Es war die höchste Zeit gewesen, daß sie die Maultiere verließen.

»Erlaubt, daß ich erst meinem Herrn Mitteilung mache und Vorkehrungen für euer bequemes Nachtlager treffe,« wandte sich der Kleine wieder an Reihenfels.

»Wie heißt der Besitzer dieses Schlosses, dessen Tore sich so gastfreundlich jedem öffnen, auch wenn er Indien nicht seine Heimat nennt?« fragte dieser.

»Es ist ein mächtiger Maharadscha, dem viele Radschas gehorchen, und er liebt die Gastfreundschaft, wie wir alle sie lieben,« war die ausweichende Antwort.

Der Kleine ging mit seinen Gefährten ins Schloß, die Gesellschaft war allein.

Schnell traten Kiong Jang und Hira Singh gleichzeitig zu Reihenfels.

»Was tust du, Herr?« flüsterte ersterer. »Weißt du nicht, in wessen Hause du über Nacht bleiben willst? Oder glaubst du, man weiß nicht, wer wir sind, und was wir wollen?«

»Wir sind in der Höhle des Löwen!« entgegnete Reihenfels so leise, daß kein anderer als diese beiden ihn verstehen konnten.«

»Und wir werden sie lebendig nicht wieder verlassen!« fügte Hira Singh hinzu.

»Man soll uns kein Haar krümmen, versichere ich euch; dafür laßt mich sorgen! Die Damen konnten kaum noch weiter. Sie fielen fast von den Tieren herab, und außerdem bin ich begierig, zu erfahren, was man hier noch von mir fordern wird. Es ist ihnen höchst unbequem, daß ich den sterbenden Mann gefunden und auch seinen letzten Ausruf gehört habe. Hier ist ein Verbrechen verübt worden, und ich kann mir den Zusammenhang einigermaßen erklären.

Sorgt nur dafür, daß die übrigen nicht erfahren, in welcher Gefahr sie sich befinden. Das dürfte ihnen die Nachtruhe stören.« Reihenfels sprach mit Mister Woodfield, Dick und Charly so lange, bis der Kleine wieder heraustrat.

»Nochmals willkommen im Namen meines Herrn, des mächtigen und gnädigen Großmoguls von Indien!« sagte er. »Die Gemächer sind für euch bereitet; morgen früh wird sich mein Herr nach dem Ergehen seiner Gäste erkundigen.«

»Wir nehmen seine Gastfreundschaft dankbar an,« erwiderte Reihenfels. »Doch es ist nötig, daß wir vorher einen Boten abschicken!«

»Einen Boten? Wohin?«

»Nach der Plantage von Mister Shaw, den du wohl kennst, denn seine Besitzung liegt nur drei Stunden von hier entfernt!«

»Nicht einmal so weit. Wozu aber das?«

»Wir meldeten ihm, daß wir heute abend bei ihm eintreffen würden, doch der Weg war zu weit und zu beschwerlich, wir verspäteten uns. Auch könnten wir den Verwundeten nicht dorthin bringen, er wäre unterwegs gestorben und nicht bei seinen Landsleuten. So kamen wir hierher.«

»Wohl, so wird sich Mister Shaw, mein Nachbar, freuen, euch morgen zu sehen, wenn ihr es nicht vorgeht, Bahadurs Gastfreundschaft länger zu genießen.«

»Aber Mister Shaw würde sich ängstigen, wenn er nicht wenigstens die Nachricht erhält, daß wir hier gut aufgehoben sind. Er ist ein Freund jener Lady dort und sorgt sich um sie.«

»Gut, so werde ich einen schnellfüßigen Boten zu ihm senden. Des Pferdes Huf wird durch die sumpfige Erde zu sehr gehindert. Schreibe einen Brief an deinen Freund, ein treuer Diener wird ihn besorgen.«

»Ich werde keinen deiner Diener zu so später Nacht noch belästigen. Hier, mein Gefährte wird das Schreiben überbringen.«

Er gab Dick, der neben ihm stand, ein Stück Papier. Dieser warf sofort die Büchse über die Schulter und wandte sich zum Gehen.

Schnell trat ihm der Kleine in den Weg.

»Das lasse ich nicht zu! Du bist müde, und meine Diener sind ausgeruht!«

Reihenfels übersetzte Dick diese Worte in Englisch.

»Oho, da irrt Ihr Euch, wenn Ihr glaubt, ich könnte müde werden!« lachte der Jäger. »Laßt mich nur gehen!«

»Ihr seid hier unbekannt!«

»Ich werde mich zurechtfinden!«

»Durch die Wildnis?«

»Durch die Wildnis! Good bye!«

Dick schlüpfte an dem Kleinen vorbei, der ihn auch nicht mehr hinderte, und war im Nu zum Schloßhof hinaus.

Reihenfels entging es nicht, wie unangenehm es dem Kleinen war, daß Dick die Botschaft übernahm. Er wußte überhaupt ganz genau, was in jenem vorging.

Die Gäste wurden ins Schloß geführt, wo sie sich trennen mußten. Emily, Miß Woodfield und Hedwig bekamen Zimmer in einem Seitenflügel angewiesen.

»Fürchten Sie sich nicht!« flüsterte Reihenfels ersterer beim Gutenachtgruß unbemerkt zu.

»Wir sind hier sicher! Schlafen Sie wohl!«

Dann aber bestand er energisch darauf, daß die übrigen nicht getrennt würden, auch nicht Hira Singh und Kiong Jang, ebenso, daß sein Gepäck ohne Ausnahme mit nach ihren Zimmern gebracht würde. Der Kleine, der die Rolle eines Schloßvogtes spielte, willigte ohne Bedenken in alles ein.

Niemand außer Reihenfels, Kiong Jang und Hira Singh wußte, in welch gefährlicher Lage sie sich befanden, höchstens der abwesende Dick ahnte dies noch, und ihm war auch bekannt, daß das Leben aller davon abhinge, daß er sich durch List oder Gewalt während seines nächtlichen Weges nicht überrumpeln ließe. Fiel er in die Hände der Häscher, die jetzt eben in großer Anzahl bis an die Zähne bewaffnet und von Hunden begleitet, deren Mäuler mit Tüchern umwickelt waren, das Schloß verließen, so war das Leben aller verwirkt.

Reihenfels erteilte ruhig einige Instruktionen, wie man sich bei einem etwaigen nächtlichen Besuche der Schloßbewohner – man war ja in einem fremden Lande, unterwegs ihrer gewandten Dieberei bekannten Indiern – verhalten sollte, dann suchte jeder den dicken Teppich mit Polster auf, der hier die Stelle des Bettes vertrat.


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