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Siwa ist eine der höchsten Gottheiten der Indier.
Der Tag war angebrochen, an dem sein Fest gefeiert werden sollte.
Nicht wie sonst durchzogen beim Scheine des Morgenrots nur die Milchträger und die Frucht- und Gemüsehändler der Umgegend die Straßen Delhis, um sich auf dem Marktplatze zum Feilbieten ihrer Waren aufzustellen; heute flutete schon in der ersten Frühstunde eine unzählbare Volksmenge durch die Riesenstadt.
Alles war festlich geschmückt. Jeder, ob Mann, ob Frau oder Kind, hatte wenigstens ein Körbchen mit Blumen am Arm, und wer noch keins hatte, der beeilte sich, seinen Korb von den Wagen zu füllen, die mit Blumen aus der Umgegend in die Stadt gekommen waren.
Heute war ja das Auferstehungsfest der Erde, heute verjüngte sie sich durch ihre eigene, immer wiederkehrende Kraft; der Tag war der Gottheit Siwa geheiligt, alle Ehre galt ihr allein, die schönsten Gaben der Erde, die Blumen, mußten ihr gespendet werden.
Siwa ist nach Brahma und Wischnu der vornehmste Gott der Indier. Er ist der Gott des Feuers, und da dieser im Innern der Erde wie auch in der Sonne die schaffende Kraft ist, ohne welche nichts Lebendiges denkbar ist, so gilt er als der Erhalter der Erde. Aber das Feuer hat auch eine verderbliche Wirkung; entfesselt, kann es alles vernichten, und so besitzt Siwa nach der tiefsinnigen Religion der Indier eine Gattin, welche dem verderbenden Feuer gebietet.
Sie heißt Kali, die Zerstörerin, oder Bharvati, die Tochter des Berges, weil ihr Kultus besonders von den Bewohnern des nördlichen, gebirgigen Teiles Indiens gepflegt wird, oder auch Durga, die Unnahbare. Siwa bedeutet der Glückliche, aber man weiß eigentlich nicht, warum er diesen Namen führt, denn er lebt mit seiner Gattin in unglücklicher Ehe. Er erzeugt, sie vernichtet, und außerdem besitzt Siwa noch die Eigenschaft, daß er kein Weib nötig hat, denn er ist ein Mannweib, das aus sich selbst ohne fremde Hilfe erzeugt.
Nur in seiner Liebe, mit der er die Erde und alles Lebende umfaßt, ist er glücklich; Kali dagegen haßt sein Werk und sucht es zu zerstören.
Als sich Brahma einst in glücklicher Stimmung befand, schuf sein Wort Tilotamma, das schönste Weib der Erde. Bei einer Versammlung. der Götter ging diese um sie herum, Siwa schaute ihr voll Verwunderung nach, mußte also immer den Kopf wenden, und da er dadurch unaufmerksam war, gab ihm Brahma flugs vier Gesichter, so daß er den Kopf nicht mehr zu wenden brauchte.
Deshalb wird Siwa mit vier Gesichtern dargestellt, und zwar mit weißen, während die Kali nur zwei besitzt, entweder schwarz oder rot dargestellt. Ferner besitzt Siwa drei Arme, in jedem Gesicht drei Augen, und sein Symbol ist der Dreizack.
Die fanatischen Indier sterben nicht nur zur Ehre ihrer Götter, um sich dadurch die wahre Seligkeit zu erwerben, sondern sie geben sich auch freiwillig den Tod, damit die Götter sie als ein Opfer annehmen und die übrige Menschheit segnen.
Dieses Opfern für die bösen Dämonen findet man bei allen Religionssekten und Völkern, auch bei den Christen.
Siwa ist der Gott des Feuers; er muß manchmal auch seine verderbende Kraft offenbaren; damit er aber seine Gattin mit dem vernichtenden Feuer möglichst streng im Zaume hält, geben sich die Indier, wenn sie vom Fanatismus befallen werden, selbst den Tod. Sie stoßen sich vor seinem Bilde den Dolch ins Herz, oder lassen sich von den Rädern seines Wagens zermalmen.
So war vorauszusehen, daß sich auch heute in den Straßen Delhis noch manches blutige Schauspiel abspielen würde. Mancher dieser jetzt lachenden und scherzenden braunen Männer war nach wenigen Stunden vielleicht zu Brei zermalmt, ja, selbst die vornehmen, mit Juwelen geschmückten Weiber, welche auf den Dächern der Häuser das Schauspiel erwarteten, stürzten sich von oben herab, und die massiv steinernen Räder des Götterwagens zermalmen die Knochen und die Diamanten zu Staub.
So kam es, daß an diesem Tage im Jahre eine gewisse schwermütige Stimmung herrschte.
Hier und da lehnte eine Gestalt an der Häusermauer, brütete vor sich hin oder murmelte unter Verzückungen Gebete.
Auch hagere, oft zu Gerippen ausgetrocknete Fakire, in Lumpen gekleidet, mit Gebrechen behaftet, drängten sich durch die Menge, flüsterten mit diesem und jenem, ermahnten wahrscheinlich zum Gebet oder zum freiwilligen Opfertod.
Folgen wir einmal solch einer unheimlichen Gestalt und beobachten sie.
Der Mann hat als Kleid nur einen Sack an; in den knöchernen Fingern schüttelt er einen großen Beutel mit kleinen Glasperlen. Blickt man hinein, so sieht man nur weiße, höchst selten einmal eine schwarze. Der Sack mag Hunderttausende solcher Perlen enthalten.
»Wen betest du heute an?« flüstert er einem fröhlich blickenden Manne zu.
»Wen anders dürfte ich heute verehren, als Siwa?« antwortet der Gefragte laut.
»Wohl dir, er wird dir gnädig sein, wenn du für ihn stirbst,« entgegnet der Fakir und wendet ihm den Rücken.
»Wen betest du heute an?« fragt er einen anderen, einen unter der Last des Alters gebückten Mann.
»Kalis Tochter,« ist die ebenso leise Antwort.
»Hast du schon gewählt?«
Der Greis verneint. Der Fakir ruft: »So wähle jetzt.«
Der Greis zieht eine weiße Kugel.
Dann tritt der Fakir auf einen Jüngling zu.
Der Alte hält diesem den offenen Beutel vor. Der Jüngling zögert, hineinzugreifen, als enthielte der Beutel sein Todeslos, und so war es ja auch.
»Wieviel?« fragt der Jüngling gedrückt.
»Auf fünftausend weiße eine schwarze.«
Jetzt greift er schnell hinein und nimmt eine Perle – es ist eine schwarze.
Der Jüngling entfärbt sich, seine hohe Gestalt sinkt zusammen.
»Ich will nicht sterben,« murmelt er.
»Du mußt!« herrscht der Fakir ihn mit gedämpfter Stimme an.
»Ja, auf dem Schlachtfelde, doch nicht unter den Rädern. Ich will kämpfen.«
»Du mußt dich opfern, oder sei verflucht in alle Ewigkeit! Die Weiber sollen dir ins Gesicht speien und die Mädchen Indiens dich, den elenden Feigling, den Hunden zum Fraß vorwerfen.«
Jener Greis mit der weißen Perle ist dem Fakir gefolgt und hat, wenn er auch keins der geflüsterten Worte verstanden, so doch aus dem Schrecken des Jünglings gesehen, daß dieser eine schwarze Perle gezogen hat und nun über sein Los unglücklich ist. Er stellt sich zwischen beide.
»Kalis Tochter braucht junge, starke Männer,« sagt er; »sieh, mein Nacken ist vor Alter gekrümmt, meine welken Arme sind schwach, und meine Knie zittern. Laß uns tauschen, heiliger Mann.«
Der Fakir willigt sofort ein, der Jüngling empfängt vom Alten die weiße, dieser von ihm die schwarze Perle, und er geht erhobenen Hauptes davon.
»Was teilst du da aus?« fragt den Fakir ein indischer Polizist mit strenger Amtsmiene.
»Ich teile Perlen aus, wie du siehst.«
Er zeigt ihm den Inhalt des Beutels.
»Du teilst Todeslose aus, das ist nicht erlaubt.«
»Deine Zunge spricht Lügen, es findet eine Volkszählung statt. Wo siehst du andere als weiße Perlen?«
Der Polizist wühlt in dem Beutel, kann aber wirklich keine andersfarbige Perle sehen, Er muß sich zufriedengeben.
Der Fakir entfernt sich schnell; sofort aber schließt sich ein anderer Mann dem Polizisten an, beobachtet ihn unausgesetzt und gibt geheime Fingerzeichen nach rechts und links.
Auf einem niedrigen Balkon sitzt eine ganze indische Familie, reich gekleidet, die Frauen und Mädchen mit kostbarem Schmuck überreichlich behängt. Der Vater beschäftigt auf den Feldern Tausende von ihm willenlos ergebenen Kulis, und wie ein Sklaventreiber sieht er aus – ein starres, hartes Gesicht mit buschigen Augenbrauen und finsterem Blick. Wie lieblich und reizend ist dagegen seine jüngste Tochter, ein Mädchen von vierzehn Jahren! Zu ihrem festlichen Kleide paßt das Gesicht, es strahlt vor Erwartung der kommenden Dinge; der Glanz ihrer schwarzen Augen verdunkelt den Diamantschmuck, der den biegsamen, bräunlichen Hals umschließt.
»Wen betet Ihr heute an?« klingt es leise von unten herauf.
Das Familienoberhaupt neigt sich über die Brüstung.
»Kalis Tochter!« tönt es ebenso leise zurück. »Gib mir den Beutel!«
Er läßt sein Weib, seine starken Söhne und schönen Töchter selbst die Perlen ziehen. Die jüngste erhält eine schwarze.
»Vater!« kommt es klagend über ihre Lippen. sie will die Perle wieder hineinwerfen, die bittenden Blicke der Mutter und Geschwister unterstützen ihren Wunsch, doch schon hat der Vater der Beutel zurückgegeben.
»Geh zu den Mädchen und lasse dich mit dem Besten schmücken, was du hast, sagt er hart. Tränen entstürzen den Augen der eben noch so fröhlichen Tochter, aber sie gehorcht, sie läßt sich wie eine Braut kleiden, um dann unter den Rädern des Götterwagens zermalmt zu werden. So fand in Delhi, welches heute über drei Millionen von überallher zusammengeströmten Menschen faßte, ein geheimes Treiben statt, das man nicht nur den Augen der Polizei, sondern auch derer zu verbergen wußte, welche nicht das Stichwort geben konnten, und dieses hieß: ›Kalis Tochter bete ich an.‹ Aber nur wenige waren es, welche es nicht wußten, und das waren meistenteils Frauen und Kinder.
Trotz allem herrschte neben der fröhlichen Stimmung gar nicht zugleich jene gedrückte derjenigen, welche ihren Opfertod beschlossen hatten, das unheimliche Murmeln von zahllosen Gebeten fehlte ganz, alles war Jauchzen und Jubeln.
Das fiel auch Lord Canning auf, der auf dem Dach eines Seitengebäudes des Gouvernements-Palastes stand, umgeben von einigen höheren Offizieren und Beamten, und einem aus Europa zum ersten Male hier anwesenden Gast den Grund und die Eigentümlichkeiten von Siwas Fest erklärte.
»Ich habe schon so mancher derartigen Feier beigewohnt,« sagte er, »aber solche Vorbereitungen noch nie bemerkt. Ich glaube, meilenweit um Delhi steht keine einzige Blume mehr. Und auch die Stimmung ist heute eine ganz auffällige, die Todesahnung herrscht gar nicht vor. Es muß etwas ganz Besonderes vorliegen.«
»Vielleicht so eine Art von tausend- oder hundertjähriger Wiederholungsfeier?« fragte der Gast.
»Daß ich nicht wüßte! Ich bin in der indischen Mythologie bewandert wie ein Brahmane, aber mir ist dergleichen nicht bekannt. Ja,« fügte er leiser hinzu, »wenn diese Indier wüßten, was heute für ein Tag ist, sie würden wohl nicht so fröhlich sein.«
»Was meinen Sie?«
»Heute vor hundert Jahren war die Schlacht bei Plassy, die Engländer siegten und hatten damit in Indien festen Fuß gefaßt.«
»Und das sollten die Eingeborenen nicht wissen?«
»Die Erfahrenen wohl, doch sie denken in der Feststimmung nicht daran. In der Tat, ein großartiges Fest, schon diese Vorbereitungen allein! Wie das duftet, diese Blumenpracht, dieses Funkeln der Diamanten, aber, aber – auch diese tragischen Szenen!«
»Wenn sich dann die einzelnen unter die Räder werfen?«
»Einzelne? Um Gottes willen, Tausende, ganze Reihen gleichzeitig, ganze Familien springen von den Balkons herab, und über sie alle hinweg gehen unbarmherzig die steinernen Räder. Die Gräben an den Seiten der Straßen sind mit Blut gefüllt, es dampft zum Himmel, und ein Geruch herrscht wie in einer Fleischerei. Haben Sie starke Nerven?«
»Wenn es mir zu schlimm wird, entferne ich mich.«
»Es wäre schade, wenn Sie den Anblick nicht ertragen könnten. Hinter Siwas Wagen nämlich folgen die Maharadschas und Radschas Indiens, an der Spitze der Großmogul, und eine solche Pracht bekommen Sie in ihrem ganzen Leben nicht wieder zu sehen. Die Fürsten tragen Rüstungen, die aus Diamanten zusammengesetzt sind, Kopfreife, an denen sich Edelsteine so groß wie Hühner- und Enteneier befinden und selbst die Pferde sind ganz mit Juwelen bedeckt. Das Auge kann den Anblick gar nicht ertragen, wenn die Sonne darauf scheint. Ein solch kleiner Radscha trägt manchmal an seinem Körper mehr Schmuck, als alle europäischen Fürsten zusammen in ihren Schatzkammern haben.«
»Ich denke, auch der Wagen Kalis wird vorbeigefahren?«
»Der kommt erst hinter den Radschas, ihm schließen sich die Brahmanen und Fakire an, sie bilden den Schluß des Zuges. Die Kali wird nicht besonders geachtet, wenigstens heute nicht, denn es opfern sich ja so viele selbst ihrem Gatten, dem Siwa, und der ist der Herr im Hause, ihm gilt heute die Ehre.«
»Wer ist denn dort dieses phantastisch gekleidete Mädchen?« fragte der Gast. »Es ist eine reizende Erscheinung, dieses unschuldige Gesicht. Aber sie scheint keine festliche Stimmung zu haben, sie sieht so niedergeschlagen aus.« An einem Steinpfeiler lehnte die Bezeichnete und hörte einem Fakir zu, der eindringlich auf sie einsprach. Sie war phantastisch kostümiert, trug überhaupt keinen Rock, sondern nur weite, blauseidene Pantalons und ein schwarzes Mieder, unter dem das rote Hemd die Brust verhüllte, die Arme aber frei ließ. Das lange, schwarze Haar war mit vielen Goldmünzen behangen, ebenso der Busen, und um Hand- und Fußgelenke trug sie viele dünne Spangen aus edlem Metall.
»Es ist eine Bajadere,« sagte Lord Canning.
»Wie? Dies unschuldige, kindliche Gesicht soll einem solchen gesunkenen Geschöpf angehören?«
»O, nicht doch! Bajadere und Bajadere ist ein Unterschied wie Tag und Nacht. Die eigentlichen Bajaderen sind die Tempeltänzerinnen, sie sind selbst Priesterinnen, müssen die Töchter unbescholtener Familien, fehlerlos gebaut sein und das Gelübde der Keuschheit für Zeit ihres Lebens ablegen. Jetzt rekrutieren sie sich nur noch aus den vornehmsten Familien, viele sind Radschastöchter. Ihr einsames, asketisches Leben macht sie scheu und ernst wie Nonnen; nur beim Tanzen bricht ihre südliche Glut mit unbändiger Wildheit durch, aber diesen zu schauen ist unserem Auge nur in Ausnahmefällen gestattet. Die Markttänzerinnen, feile Dirnen, haben nur den Namen Bajadere akzeptiert, oder vielmehr, wir Europäer nennen sie so, mit jenen sind sie gar nicht zu verwechseln. Diese dort ist auf jeden Fall eine Tempeltänzerin, einmal ihrem Wesen nach, außerdem spricht ein heiliger Fakir mit ihr, und dann sehen Sie auch, wie sich das Volk ehrerbietig von ihr zurückhält. Solch eine Bajadere genießt große Hochachtung; kommt sie aber auch nur in den Verdacht, ihr Gelübde gebrochen zu haben, dann wartet ihrer ein entsetzliches Los. Doch die Menge drängt zur Seite, der Zug muß bald kommen.«
Es verging noch eine Stunde. Dann kam eine Bewegung in das Volk, es stieß sich und drängte sich an die Häuserwand, so daß die Straße frei wurde. »Er kommt!« ging es von Mund zu Mund. In der Ferne vernahm man schon Schreien und Jauchzen.
Jetzt bog um die Ecke ein Elefant, ihm zur Seite ein zweiter, dann noch ein Paar, das Volk begann zu schreien und zu jubeln, die Hände wurden geschwenkt, man griff in die gefüllten Blumenkörbe.
Von vier mächtigen Elefanten an Stahlketten gezogen, kam um die Ecke ein riesiger Wagen, auf steinernen Rädern von etwa vier Meter Breite ruhend. Auf ihm stand die Kolossalstatue Siwas mit seinen vier Gesichtern, zwölf Augen und drei Armen. Die Züge waren schön, aber Ohren, Nase und Mund zu groß. Die Figur war von Brahmanen umringt.
Die nachfolgenden Radschas, von denen Lord Canning gesprochen, konnte man noch nicht sehen.
Es ging heute überhaupt ganz anders zu als sonst bei diesem Feste.
Zwischen dem letzten Paare der Elefanten und den Wagenrädern war eine Entfernung von zehn Metern. Sonst warfen sich die Indier massenweise unter die Räder und ließen sich ohne Schmerzensschrei zermalmen, heute nicht. Wohl waren die Räder schon von Blut gerötet und zeigten daran klebende Fleischteile, aber das war nichts gegen sonst, wo die Räder eine breiige Spur zurückließen, aus der das Blut nach beiden Seiten der Straße abfloß.
Ab und zu wurde wohl ein Indier vom Fanatismus erfaßt und stürzte sich unter die Räder, wohl warf sich auch jemand vom Balkon eines Hauses herab, aber was waren diese Einzelnen gegen die sonstigen Massen? Und merkwürdig verhielt sich die Menge! Sie jauchzte zwar, als würde sie dazu gezwungen, sie winkte der Statue zu, doch sie übergoß sie nicht, wie sonst, mit einem Blumenregen. Nur wenige Hände voll Blüten fielen auf sie herab, die Körbe blieben noch bis zum Rande gefüllt.
»Merkwürdig, äußerst merkwürdig!« sagte Lord Canning zu seinem Gaste, nachdem er schon mit seinen Beamten verwunderte Worte gewechselt hatte. »Ich kann mir diese Teilnahmslosigkeit gar nicht erklären. Es scheint fast, als würde heute nicht das Fest Siwas sondern das eines anderen Gottes gefeiert, und doch ist es sein Tag. Man spart die Blumen und Menschenopfer offenbar für etwas anderes auf.«
»Vielleicht für die Kali?«
»Möglich! Auch sie fährt auf einem schweren Wagen; aber es wäre das erstemal, daß ihr am Tage Menschenopfer freiwillig in größerem Maße dargebracht würden. Nein, nein, es muß ein ganz besonderer Grund vorliegen.«
»Können Sie als Generalgouverneur ihn denn nicht erfahren?«
»Heute besitze ich fast gar keine Macht, heute ist der armseligste Fakir gegen mich ein König zu nennen. Überdies habe ich meine indischen Beamten, die mich benachrichtigen, wenn das Besondere beunruhigend für die Sicherheit sein sollte. Aber wo in aller Welt bleibt nur der prächtige Reiterzug der Radschas?«
Sie kamen nicht; dem Wagen Siwas schlossen sich vielmehr armgekleidete Brahmanen und dürftige Gestalten von Fakiren an. Überdies erfolgten, wie schon erwähnt, doch ab und zu freiwillige Menschenopfer, und mit Schaudern und Entsetzen sah der Gast, wie über die zuckenden Glieder die schweren Räder gingen.
Es waren meist alte Männer oder Weiber, die sich opferten, was Lord Canning wieder als sehr merkwürdig erklärte. Ganz wunderbar sei es, daß die Fakire sich so zurückhielten, die sich sonst scharenweise unter die Räder würfen.
Der Gast sah, wie sich von einem Balkon aus der Mitte ihrer Familie ein junges, schönes Mädchen herabwarf, bräutlich geschmückt, mit Juwelengeschmeide behangen. Er schloß die Augen, um das Mädchen nicht sterben zu sehen. Der Vater sah dem Tode seiner Tochter mit kalter, unbeweglicher Miene zu.
Da ereignete sich eine aufregende Szene.
Eine Bajadere hatte bis jetzt mit dem Fakir gesprochen. Derselbe deutete nach dem Wagen, und mit gesenktem Kopfe stellte sich das phantastisch geschmückte Mädchen mitten auf die Straße, den Wagen erwartend.
Links und rechts schritten die Elefanten an ihr vorüber, näher und näher rollten die von Blut tropfenden Räder heran. Das Mädchen hob den Kopf, ihre Züge drückten Verzweiflung aus.
Jetzt berührten die Räder ihr Gewand, im nächsten Augenblicke mußten sie über das Mädchen hinweggehen.
Da stieß die Bajadere einen gellenden Schrei aus, in dem Angst und Verzweiflung lagen, und flüchtete im letzten Augenblicke aus dem Bereiche der Räder.
Doch sofort hatte der Fakir sie gepackt und schleuderte sie wieder mit kräftigem Ruck vor die Räder. Sie kam zum Stürzen, sie war verloren. Ein furchtbarer Schrei durchzitterte die Luft.
»O weh, das arme Kind stirbt nicht freiwillig! Sie wird von ihrem Priesterorden geopfert!«
rief Lord Canning schmerzerfüllt und wollte sich abwenden, um ihren Tod nicht zu sehen.
Aber es kam anders.
Von dem hohen Balkon eines Hauses herab sauste eine dunkle Gestalt, ein Mann; er stand dicht vor den Rädern, ein Griff, ein Sprung, und er war außer dem Bereich des zermalmenden Wagens, die Bajadere in seinen Armen haltend. Der Mann, ein reichgekleideter Indier, war von riesigem, herkulischem Wuchse, das Mädchen auf seinen Armen nahm sich ihm gegenüber wie eine Puppe aus.
Keine Beifallsrufe lohnten diese kühne Rettungstat, ausgeführt mit der größten Kraft, Gewandtheit und Todesverachtung, ein Sturm der Entrüstung brach vielmehr gegen den Indier los, der es gewagt hatte, Siwa ein Opfer zu entreißen.
Mit wütendem Geschrei drang der Fakir auf ihn ein, ihm nach die nächsten Umstehenden.
»Zurück, wenn euch euer Leben lieb ist!« donnerte des Riesen mächtige Stimme.
Man achtete jedoch nicht auf seine Drohung, man wollte die Bajadere wiederhaben und sie sterben sehen. Da schleuderte er den Fakir gegen die auf ihn Eindrängenden; im Nu flogen ein halb Dutzend Menschen von seinem einen Arm durch die Luft, einer immer gegen den anderen; er brach sich Bahn und verschwand mit seiner schönen Bürde in dem Hause, von dessen Balkon er gesprungen war.
Allem Anschein nach wollte die Volksmenge dieses sofort stürmen, die Bajadere zurückholen und den Frevler an der Religion bestrafen, doch in diesem Augenblick ertönte in der Ferne ein unendliches, donnerndes Jubelgeschrei, und sofort hatte man alles andere vergessen. Aller Blicke richteten sich die Straße hinauf, von wo das Getöse erscholl und sich immer weiter und weiter fortpflanzte.
Lord Cannings Gast aber beschäftigte sich noch mit der eben gesehenen Szene, die ihn mächtig ergriffen hatte.
»Wer war dieser heldenmütige Mann? Kennen Sie ihn, Mylord?«
»Sogar sehr gut! Wenn die wackere Tat nur nicht schlimme Folgen für ihn hat,« entgegnete Canning besorgt. »Es war Leutnant Dollamore, einer der ersten Stützen der englischen Herrschaft in Indien, obgleich er sich dessen wohl selbst kaum bewußt ist. Es schadet dies auch gar nichts. Einmal ist sein Vater ein indischer Nabob, dessen ungeheurer Reichtum eine kolossale Macht bildet, und dann ist er selbst der Befehlshaber über die Gurgghas, das heißt nicht der Kapitän, sondern er ist nur Leutnant; doch käme es darauf an, so würden die Gurgghas nur seinem Befehle gehorchen, denn Dollamore ist der Abgott dieser tollkühnen Stahlreiter.«
»Aber wie kommt es, daß er, ein Indier, den religiösen Kultus verletzt? Ist er kein Buddhist?«
»Er ist zwar ein gläubiger Buddhist, doch den niedrigen Aberglauben, den Fanatismus verachtet er. Er kann sich durch sein heutiges Eingreifen viele schlimme Feinde erworben haben; die Macht der Fakire ist nicht zu unterschätzen. Sie wissen doch, wie behutsam auch wir die Indier in allem behandeln müssen, was ihre Religion betrifft. Sehen Sie nur den Fakir, wie er um das Haus hinkt, und welch wütende Blicke er hinauf sendet!«
Sie mußten das Gespräch abbrechen, denn der Jubel der Menge verstieg sich jetzt bis zum unglaublichsten Geheul. Die Ehre galt also heute nicht Siwa, sondern seiner Gattin, der Kali.
Aber warum nur? Eben bog der Zug um die Ecke: Seltsam! Was war den Indiern heute eingefallen? Lord Canning und alle anderen Engländer, die schon diesem Feste beigewohnt hatten und seinen Verlauf kannten, glaubten ihren Augen nicht mehr trauen zu dürfen.
Um die Ecke bog nicht der erwartete Wagen, sondern wurde eine große Bahre getragen, auf der eine mit Tüchern verhüllte Figur von Menschengröße stand. Die Bahre ruhte auf riesig langen Stangen, welche von fünfzig bis sechzig Männern getragen wurde, und sonderbar war es, daß ihre Last äußerst schwer zu sein schien. Selbst wenn die Figur aus Bronze und die Platte aus Eisen war, konnte beides für diese sechzig Männer doch nicht so schwer sein.
Der Bahre voran schritt ein alter Mann mit weißem Bart- und Kopfhaar, dürftig wie ein Bettler gekleidet, ohne Kopfbedeckung und Schuhe. Schon von weitem konnte man sehen, daß sich um seinen Körper ein Seil schlang, welches wie ein Zügel bis hinauf zu der Figur führte.
Es gab keinen Zweifel mehr, der unermeßliche Jubel, die Zurufe galten der verhüllten Figur; ein wahrer Blumenregen strömte ununterbrochen auf sie herab; aber nicht nur das, die auf den Balkonen und Dächern sitzenden Indierinnen rissen ihr Juwelengeschmeide von Hals und Brust, aus den Ohren und von den Gelenken und warfen es auf die Bahre. Jetzt konnte man auch schon erkennen, wodurch die Bahre so ungeheuer schwer ward, daß die Träger unter ihr keuchten. Um sie herum zog sich ein Drahtgitter und durch dasselbe bis hinauf zum Rand konnte man Unmassen von Diamanten und anderen Edelsteinen liegen sehen, teils lose, teils gefaßt, teils Griffe von Schwertern und Dolchen, ja, ganze Rüstungen, und immer mehr Geschmeide wurde hinzu geworfen, und immer höher häufte sich der Schatz, in dem schon der Wert von Milliarden steckte. »Wenn Indien selbständig einen Krieg führen wollte,« meinte der Gast, »eine unerschöpfliche Kriegskasse wäre vorhanden.«
Lord Canning betrachtete kopfschüttelnd den sich vorbeibewegenden Zug.
Hilf, Himmel,« rief er plötzlich in namenlosem Erstaunen, »der alte Mann da vorn in Lumpen ist ja niemand anders als Bahadur, der Großmogul, selbst! Er läßt sich wie ein Sklave an der Kette führen! Und diese Träger, es sind die Radschas Indiens, wie Bettler angezogen, der erste vorn an der linken Stange ist der stolze Nana Sahib. Meine Herren, wer kann das Rätsel lösen?«
Niemand vermochte es. Auf der Plattform des Daches befanden sich einige indische Beamte in englischen Diensten, auch sie waren vor Staunen sprachlos.
Der Großmogul, die Maharadschas und die Radschas, sonst maßlos stolz, zogen in der dürftigsten Kleidung und barfuß durch den Staub der Straße; sie trugen selbst das Standbild der Göttin, während sie sonst in prächtigen Rüstungen hoch zu Roß nachfolgten und die Huldigungen der Menge gnädig dankend empfingen.
Bahadur, der stolze Bahadur, ging wie ein Zugtier am Zügel voran. Dieser endete und verschwand da in den Gewändern der Figur, wo sich die Hände befinden mußten.
»Ich stellte mir die Figur viel größer vor,« meinte der Gast, »und ich glaubte auch, sie würde offen gezeigt.«
»Das wird sie sonst auch. Es ist ein Weib von riesigen Dimensionen und muß gefahren werden. Sonst achtet man sie auch am heutigen Tage wenig, heute aber gilt alle Ehre ihr.
Siwa ist ebenso wenig beachtet worden wie die Radschas.
»Es ist keine Bronzefigur,« rief ein Herr, »es muß ein Mensch sein! Ich habe sie sich bewegen sehen.«
»Die Kali sollte von einem Menschen dargestellt werden? Nicht möglich,« erklang es überall erstaunt, »die Bahre schwankte, Sie haben sich getäuscht!«
»Ich habe mich nicht getäuscht. Ich sah deutlich, wie sich da, wo sich die Hände befinden müssen, das Tuch bewegte. Es war, als griffen Hände nach dem entfallenden Zügel.«
»Das Ansehen der Kali würde entehrt, wenn man einen Menschen an ihrer Stelle zeigte,« meinte Lord Canning. »Aber wiederum, warum nimmt man eine kleinere Figur, als sonst, gerade heute zum Feste? Und warum wird sie nicht offen gezeigt?«
Er wendete sich wieder an seinen Gast.
»Ich erwarte die Radschas nach dem Mittagsmahl, welches sie im Palast des Großmoguls einnehmen, bei mir; denn es ist Sitte, daß sie heute, da sie ihre Götter verehren, durch mich auch der Königin von England ihre Ehrfurcht bezeugen. Konnten Sie die Radschas also jetzt nicht in ihrer ganzen Herrlichkeit bewundern, so werden Sie nachher Gelegenheit dazu haben, denn im Gouvernementspalast werden sie sicher nicht als Bettler erscheinen. Diese Herren prunken uns gegenüber gern mit ihrem Reichtum; es ist ja auch das einzige, was man ihnen gelassen hat.«
Die Bahre mit der Figur, auf welche es noch immer Blumen- und Juwelenschmuck herabregnete, war vorüber, gefolgt von einer Anzahl Brahmanen und Fakire. Die Herren wollten sich ins Innere des Hauses begeben, als eine andere Szene ihre Aufmerksamkeit fesselte.
Es schien, als solle die Rettung der Bajadere vor den Rädern des Götterwagens noch ein tragisches Nachspiel haben.
Eine große, dichtgedrängte Volksmenge hielt das Haus umlagert, in dem sich Dollamore mit dem Mädchen aufhielt, und forderte unter wütendem Geschrei und Drohungen die Herausgabe der Tänzerin.
Es blieb nicht allein bei Drohungen. Als sich das Haustor nicht öffnete, traf man alle Vorbereitungen zum Sturm. Das Tor war massiv eisern, aber dem herbei geschleppten, mächtigen Balken konnte es, wenn er wie ein Sturmwidder von hundert Händen geschwungen wurde, wohl nicht lange standhalten. Dann ergoß sich der aufgeregte Schwarm ins Innere, holte sich das Mädchen mit Gewalt heraus, und es stand zu erwarten, daß dabei das Blut der Bewohner des Hauses floß.
Das Gebäude war groß und nach europäischem Stile gebaut; an jedem Fenster befand sich ein Balkon, und die vier Flügel umschlossen einen geräumigen Hof mit Pferdeställen und Wagenremisen.
Es gehörte einem Engländer, dessen schon einmal Erwähnung getan wurde. Er war jener Mann, der Westerly als Geschenk den vergifteten Dolch geschickt, er hatte die Schwester Dollamores geheiratet, und dieser hatte jetzt seinen Schwager, Mister Morny, und alle Bewohner des Hauses in eine äußerst unangenehme Lage gebracht.
Der heißblütige Indier war nicht gewillt, die dem Tode geweihte Bajadere der Menge auszuliefern, denn sie wäre noch jetzt unter die Räder des Götterwagens geworfen worden.
Und auch alle übrigen, die ein gefühlvolles Herz in der Brust hatten, konnten sich nicht entschließen, ihm zum Nachgeben zuzureden, um so weniger, als das Mädchen selbst den schrecklichen Tod fürchtete.
Sie saß in eine Ecke gekauert und ließ die großen Augen angstvoll von einem zum andern wandern; besonders lange blieben sie dann an der herkulischen Figur Dollamores hängen.
Alles an ihr drückte Furcht aus.
»Nicht wahr, du wolltest nicht freiwillig sterben, du bist nur dazu gezwungen worden?«
fragte Dollamores Schwester, eine schöne, junonische Indierin, die Bajadere.
»Ich mußte sterben, ich hatte das Los gezogen!« entgegnete ihre klangvolle, jetzt so klagende Stimme, und dabei ruhten ihre glänzenden Augen mit unsagbar traurigem Ausdruck auf ihrem Retter.
»Sie wollen stürmen, sie bringen einen Sturmbock herbei!« rief Mister Morny am Fenster.
Im Hause entstand hastiges Laufen, Angstrufe erschollen. Die indischen Diener begehrten schon, hinausgelassen zu werden. Auch Mister Morny und seine Gattin konnten ihre Besorgnis nicht länger verbergen, sie blickten nach Dollamore.
Dieser war der einzige, der vollkommen sorglos blieb. Durch die Vorhänge musterte er die schreiende und tobende Menge.
»Ja, es muß etwas geschehen,« sagte er ruhig, »oder es würde durch meine Schuld hier Blut fließen! Ich will sie erst beruhigen.«
Ehe jemand ihn daran hindern konnte, hatte er die Glastür geöffnet und stand auf dem Balkon.
Heulen und wütende Rufe empfingen den Frevler.
»Die Bajadere, die Bajadere heraus,« heulte es durcheinander, »oder wir stürmen das Haus und zünden es an! Das vergossene Blut komme dann auf dein Haupt, Verfluchter, Verräter an deinem Volk! Die Bajadere heraus, sie ist dem Siwa geweiht!«
Unbeweglich stand Dollamore auf dem Balkon. Er versuchte vergebens, sich Gehör zu verschaffen. Seine Stimme verklang.
Er wandte sich etwas zurück, rief seinen Reitknecht, einen Gurggha, heran und sprach leise mit ihm. Über das bronzefarbene Gesicht des wilden Kriegers flog ein düsteres Lächeln, er nickte und ging in das Nebenzimmer, wo seine und seines Herrn Waffen und Panzerrüstungen lagen.
Einem der Indier unten, der den Anführer zu spielen schien, war es gelungen, das Volk etwas zur Ruhe zu bringen.
»Willst du uns die Bajadere ausliefern oder nicht?« rief er hinauf.
»Meine Brüder!« begann Dollamore. »Auch ich glaube an Brahma wie ihr, auch ich verehre Siwa und ...«
»Kein Wort mehr!« unterbrach der Sprecher ihn sofort. »Willst du uns die Bajadere herausgeben oder nicht? Antworte ja oder nein, alles andere ist unnütz!«
»Gut denn, ich werde sie euch selbst bringen! Versprecht ihr, dieses Haus dann zu schonen?« »Was haben wir denn da drinnen zu tun? Wir zählen zehnmal bis sechzig, ist die Bajadere dann nicht in unserer Mitte, so zerbricht dieser Balken das Tor!«
»Gut! In zehn Minuten soll die Bajadere unter euch sein!«
Ohne seinen Angehörigen erst zu sagen, was er vorhabe, ging er schnell in das Nebenzimmer und kam nach einer Minute wieder heraus, mit Brustpanzer, Arm- und Beinschienen angetan, auf dem Haupte den goldenen Helm mit dem geflügelten Ungeheuer, an der Seite das mächtige Schwert. Ebenso war schon sein Reitknecht gerüstet, doch dieser trug noch in seinen Armen einen mit Tüchern verhüllten Gegenstand, der Form und Größe nach ein Mensch.
»Entschuldige, Schwester,« wandte Dollamore sich lächelnd an diese; »ich habe einige deiner Kleider genommen, natürlich die ersten besten, die ich fand, und aus ihnen dieses Bündel geformt. Kann es nicht für diese vermummte Bajadere durchgehen?«
»Was hast du vor?« fragte die Schwester angstvoll.
»Mein Plan ist sehr einfach. Ich besteige mein Pferd und nehme das Bündel in den Arm.
Wenn die Indier die Vorbereitungen zum Sturm treffen, sprenge ich hinaus und schlage mich durch. Sie halten natürlich dieses Bündel für das Mädchen und werden mich verfolgen.
Inzwischen schlüpft mein Reitknecht mit der Bajadere zur Hintertür hinaus und bringt sie in Sicherheit. Ich selbst nehme sie nicht, weil die Indier schießen könnten. Mich schützt der Panzer vor den Kugeln ihrer elenden Pistolen.«
Der Plan war gut, aber kühn.
»Sie werden dich töten!« klagte die Schwester, die den Charakter des Bruders kannte und ihm deswegen gar nicht erst abredete.
»Ach was!« lachte Dollamore sorglos. »Es wird spielend gelingen! Wenn das Tor aufgeht, setze ich schon über die ersten Reihen hinweg! Wer nicht weicht, der muß fallen, und ehe sie sich umdrehen, habe ich schon freie Bahn. Ihr bleibt hier oben und seht vom geschlossenen Fenster aus zu, wie leicht mir das Stückchen gelingt.«
»Wohin läßt du die Bajadere bringen?« fragte Mister Morny.
»In die Kaserne der Gurgghas. Den möchte ich sehen, der sie von dort zu holen wagt!«
»Sollte sich nach dem Gelingen deines kecken Planes der Unwille der Menge nicht doch noch gegen unser Haus wenden?«
»Bald sind die Gurgghas unter meiner Führung hier und säubern die Straße!«
Die Menge unten war still geworden, man hörte nur das laute Zählen des Mannes. Er war erst bei der dritten Minute angelangt. Jetzt hörte auch das Zählen auf, ein Wortwechsel fand statt.
»Dollamore, ein Brief an dich! Öffne das Fenster!« erklang es unten.
Ohne sich in seiner Rüstung sehen zu lassen, tat er so, wie ihm geheißen, und geschickt wurde ein Brief durch das Fenster geworfen. Dollamore erbrach ihn und überflog die Zeilen.
»Sei heute Abend acht Uhr bei mir!« lauteten sie. »Unbedingt! Ich erwarte Dich sehnsüchtig! Was Du auch vorhast, gib es auf, Du sollst es nicht bereuen! Soeben erfahre ich von Deiner Tat und ihren Folgen. Liefere die Bajadere aus. Es droht Dir Gefahr, und ich will Dich nicht in einer solchen wissen! Nur heute nicht! Ich zittere, daß Du nicht kommen könntest. Liefere sie aus, ich flehe Dich an, um meiner Liebe willen, und dann vergiß nicht – ich bin eifersüchtig!«
Dollamore kannte die Handschrift des nicht unterzeichneten Schreibens – es war die der Duchesse, seiner Geliebten.
»Du hast keinen Grund, eifersüchtig zu sein,« murmelte er, den Brief in die Halsöffnung des Panzers schiebend. »Was ist mir diese Bajadere, dieses Kind! Ich hatte Atkins versprochen, heute Abend zu ihm zu kommen, aber ich kann nicht, die Liebe zu ihr ist mächtiger. Endlich vielleicht – komm, Mädchen,« wandte er sich laut an die Bajadere und nahm ihre Hand, »ich will dich, armes Kind, retten. Lebt wohl, ihr alle, auf Wiedersehen! Brahmas Hand sei über euch und mir. Er ist ein allgütiger Gott und kann nimmermehr wollen, daß die ihm untergebenen Götter Menschenopfer verlangen dürfen.« Unter Segenswünschen verließ er das Zimmer, die Bajadere an der Hand führend, und wartete in dem Flur, bis der Reitknecht ihm das riesige Schlachtroß gesattelt hatte.
Der Zähler draußen war erst bei der sechsten Minute, Dollamore schritt einstweilen in dem Flur auf und ab, ohne die Bajadere weiter zu beachten.
Ihre Augen verfolgten ängstlich den Wandernden, und plötzlich trat sie vor ihn hin.
»Herr, was willst du tun?« fragte sie mit bebender Stimme.
»Dich retten.«
»Es ist dein Tod.«
»Ich glaube nicht, ich schlage mich durch.«
»So fällst du später den Fakiren zum Opfer.«
»Und wenn ich es bestimmt wüßte, ich würde nicht zögern, dich zu retten, denn du willst nicht sterben. Wessen Bajadere bist du?«
»Ich tanze im Tempel Wischnus.«
»Wischnus? Wie kommt es denn, daß du für Siwa sterben solltest?«
»Der Priester wollte es, ich zog das Los.«
»Armes Kind,« sagte Dollamore mit tiefem Bedauern, »ich werde dich retten!«
»Du kannst es nicht. Ich falle doch den Fakiren wieder in die Hände, und dann sterbe ich unter Martern.«
Dollamore wurde aufmerksam.
»Und wenn ich dich jetzt ausliefere?«
»So werde ich vor die Räder geworfen, und fährt der Wagen nicht mehr, so verbrennt man mich auf dem Scheiterhaufen.«
»Warum?«
»Weil ich mich dem Siwa entzogen habe, und dieser ist der Feuergott.«
»So werde ich dafür sorgen, daß du vollkommen in Sicherheit kommst. Du bleibst einstweilen unter meinem Schutz; später sende ich dich, wenn du willst, in ein fernes Land.«
Das Mädchen kauerte sich wieder in die Ecke, Dollamore nahm seine Wanderung abermals auf. Draußen wurde an der siebenten Minute gezählt; die Menge wurde ungeduldig.
Da vertrat das Mädchen dem Helden abermals den Weg, in ihren Augen glänzten Tränen.
»Laß mich hinaus,« flüsterte sie.
»Aber warum denn?«
»Ich will sterben.«
»Wie, du verachtest dein Leben?« versuchte er zu lächeln. »Es ist doch so schön.«
»Das Leben ist so schön!« wiederholte sie träumerisch. »Doch ich habe es nie kennen gelernt!«
»So lerne es noch kennen.«
»Ich bin eine Bajadere, in den Tempel zum Tanzen verbannt. Herr, ich bitte dich, laß mich hinaus!«
»Auf keinen Fall! Ich bringe dich in Sicherheit.«
»Herr, du bist verloren!«
»Durchaus nicht, wir sehen uns bald wieder.«
»Du bist verloren!« sagte sie abermals.
»Du wirst zu hören bekommen, wie leicht ich mich durchschlug.«
»Du bist verloren, dein Tod ist unabwendbar!« wiederholte sie zum dritten Male, und in ihrer Stimme lag eine unsägliche Angst.
Dollamore sah ihr in das kindliche, unschuldige, schöne Antlitz; die Augen, in denen Tränen standen, blickten ihn so traurig an.
»Dein Tod ist gewiß,« flüsterte sie, »und ich –möchte dich so gern retten. Herr, wen betest du heute an?«
»Seltsame Frage!«
»Wen anders als Siwa, den Glücklichen? Und daß ihm Menschen sich selbst opfern, ist eine Unsitte.« »So bist du dem Tode geweiht, und ich kann dich nicht retten,« hauchte sie.
»Mädchen, was sprichst du da? Du mich retten?«
Die Bajadere sah sich scheu um.
»Doch, ja, ich kann dich retten,« flüsterte sie, sich immer scheu umschauend, »du darfst heute nicht Siwa anbeten, du mußt – nein, nein, es ist schon zu spät!«
Weinend warf sie sich ihm zu Füßen.
»Laß mich hinaus und sterben, ich kann deinen Tod nicht ansehen,« jammerte sie.
Er hob sie auf.
»Ich verstehe dich nicht, Kind. Du kannst mich nicht retten und brauchst es auch nicht, denn mein Leben ist nicht in Gefahr. Geh hinter diese Ecke, du darfst nicht gesehen werden, wenn das Tor geöffnet wird. Mein Diener bringt schon das Pferd.«
Die neunte Minute war zu Ende, als der Reitknecht das Roß vorführte. Dollamore setzte den Fuß in den Steigbügel. Da faßte das Mädchen noch einmal die Hand des edlen Mannes; ihre Tränen waren getrocknet; hochaufgerichtet stand sie neben ihm.
»Ich bin kein Hindumädchen,« sagte sie mit blitzenden Augen, »ich bin eine Parse und stamme aus Beludschistan.«
Dollamore zögerte noch einen Augenblick.
»Es geht die Sage, die Parsenmädchen von Beludschistan sterben, wenn sie lieben und ihre Liebe nicht erwidert wird. Ich weiß nicht, was du damit sagen willst, Mädchen; zieh dich zurück in deine Ecke. Gib mir das Bündel und entferne dich mit dem Diener. Ihr dürft auf keinen Fall gesehen werden, Sobald man mich verfolgt, wirfst du dich mit ihr aufs Pferd und jagst zur Hintertür hinaus. Wir treffen später wieder zusammen. Hat sich das Mädchen versteckt?«
Sie war nicht mehr zu sehen.
»So öffne das Tor!«
Mit einem Satze war Dollamore im Sattel, das Bündel, wie eine weibliche Gestalt geformt, vor sich im Arm. Der kühne Ritt konnte beginnen. Das feurige Roß stampfte die Steinfliesen.
»Auf!«
Der Reitknecht schob den Riegel zurück und öffnete den Torflügel; Dollamore setzte die Sporen ein.
Da flog eine bunte Gestalt an ihm vorüber, dem Tore zu. Es war die Bajadere.
»Ich sterbe, denn ich liebe dich!« erklang es durch die Halle, und verschwunden war das Mädchen in der laut aufheulenden, jubelnden Menge.
Dollamore stieß dem Rosse die Sporen in die Weichen, er wollte ihr nachsetzen, sie aus der Menge herausholen, doch schnell schloß der Diener das Tor.
»Du kannst sie nicht mehr retten, Herr, spare dein Blut!«
Jeder Blutstropfen war aus Dollamores Antlitz gewichen, stier blickte er das geschlossene Tor an. Dann sprang er mit einem dumpfen Ächzen aus dem Sattel.