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Wie Ruth diese letzte Nacht verbrachte, wußte sie selbst nicht. Sie hatte sich in einer maßlosen Aufregung befunden, fühlte sie sich doch mit verantwortlich, wenn Lew hier etwas passierte. Dem Arzt und ihren Freunden gelang es, sie etwas zu beruhigen.
Dann stieg in ihr allmählich der Zorn auf gegen den, der in ihren Augen schuldig war, und wie sie es bei sich nannte, dieses Verbrechen vollbracht hatte.
Sie glaubte nicht, daß den ernsten, ruhigen Lew irgendeine Schuld an diesem Zwischenfall träfe. Meinte sie doch denjenigen zu kennen, den die Schuld traf. Aber wie es zu diesem Zwischenfall kommen konnte, war ihr ein Rätsel. Merkwürdigerweise hatte sie gegen ihre Freunde ihren Verdacht nicht ausgesprochen.
Es war noch früh am folgenden Morgen, als ihr der Besuch des Sheriffs gemeldet wurde. Percy bot sich an, sie zu begleiten und bei der kommenden Unterredung dabei zu sein, was sie dankend annahm.
Es war Ruth, als wüchsen ihr die Verhältnisse über den Kopf. Sie fühlte sich matt und zerschlagen und war heute dankbar für jede ihr gezeigte Freundschaft und Teilnahme.
Im Bibliothekszimmer erwartete Sheriff Landert die neue Herrin der Jolivet-Farm. Bei ihrem Eintritt erhob er sich. Es war ein stämmiger, untersetzter Mann, der vor Ruth stand und sie mit klugen Augen freundlich ansah.
»Miß Harries, es tut mir leid, daß ich Ihre Bekanntschaft gleich als Amtsperson machen muß. Ich wäre in den nächsten Tagen sowieso gekommen, um mich Ihnen vorzustellen. Ihr Onkel, Oliver Jolivet, war mir ein hochverehrter Freund.«
»Ich danke Ihnen, Mr. Landert,« entgegnete ihm Ruth. Dann stellte sie ihren Freund Percy Archey vor.
Sie nahmen Platz.
»Miß Harries,« wandte sich Landert wieder Ruth zu, »ich war soeben bei Lew Forest. Forest ist mir schon von Kindheit an bekannt. Ich war erstaunt ihn wieder hier zu sehen, da er eines Tages so plötzlich verschwunden war.
Nun muß ich Ihnen offen gestehen, daß ich von ihm keine Auskunft über den gestrigen Vorfall erhielt. Aus den Jungen ist ja meistens bei solcher Gelegenheit nichts herauszubekommen, sie scheuen sich alle wie ungezähmte Mustangs vor dem Sheriff. Manchmal laß ich es ihnen durchgehen und sie laufen. Aber in diesem Falle bin ich fest entschlossen, der Angelegenheit auf den Grund zu gehen, da ich einen bestimmten Verdacht habe. Ich bin nicht gewillt, lose Zucht in meinem Distrikt einreißen zu lassen, und wir haben es hier mit einem zu tun, der in unserer Gegend wohl die Rolle des Mörders im Hühnerstall spielen kann.«
Erstaunt war Ruth den Worten des Sheriffs gefolgt; nun sah sie ihn fragend an.
»Miß Harries,« fuhr dieser fort, damit zeigte er auf zwei Handschellen, die ihm am Gürtel unter seiner Jacke hingen, »diese kleinen Dingerchen warten darauf, sich um zwei für sie bestimmte Handgelenke zu legen, und – ich muß und werde ihn bekommen,« setzte er ingrimmig hinzu. »Würden Sie mir bitte Ihre Beobachtungen und eventuellen Verdacht, oder was Ihnen am gestrigen Tag aufgefallen ist, mitteilen?«
Ruth begann zu erzählen.
Sheriff Landert unterbrach sie und fragte, wer alles an dem Ausritt teilgenommen hätte. Er horchte auf, als der Name Chick fiel, sagte aber nichts und nickte nur mit dem Kopf, als ob er einen Gedanken bei sich bestätigte.
Erst zögernd, dann immer fließender erzählte Ruth, bis sie zu dem Augenblicke kam, als sie Lew vom Fenster des Wohnzimmers, in dem sie sich gerade aufgehalten hatte, auf die Ranch hatte reiten sehen. In seiner Begleitung hatte sich Jed Corner, ihr Verwalter, befunden. Sie sah die erstaunte Bewegung des Sheriffs und fuhr schnell weiter fort zu sprechen: daß Lew plötzlich vom Pferde gesunken sei und die Leute ihn ins Haus hätten bringen müssen. Ruth schwieg. Sheriff Landert sah nachdenklich vor sich hin. Dann hob er den Kopf.
»Miß Harries, könnte ich Jed Corner sprechen?«
Unwillkürlich erblaßte Ruth, stand aber schweigend auf und rief aus dem Fenster, das sie öffnete, einen Boy, der draußen auf dem Ranchhof war, an: »Ist Jed Corner da?«
»Gewiß, Miß Harries!« kam bereitwillig die Antwort.
»Sagen Sie ihm, er möchte in die Bibliothek kommen.«
Dann schloß Ruth das Fenster wieder, und schweigend erwarteten sie Corners Ankunft.
Eine Tür fiel ins Schloß: es näherten sich leichte Schritte, die Klinke wurde heruntergedrückt und herein trat Jed Corner.
Bei dem Anblick der ihm schweigend Entgegensehenden ging ein spöttisches Lächeln über sein Gesicht, um dann gleich wieder ernst zu werden.
»Sie wünschten mich zu sprechen, Miß Harries?«
»Sheriff Landert hat mit Ihnen zu reden,« kam es merkwürdig schwer von Ruths Lippen.
Jed mochte wohl den müden, matten Ton vernommen haben, denn ein blitzschneller, erstaunter Blick traf sie. Dann wandte er sich an Sheriff Landert; in einem etwas spöttischen Ton sagte er: »Na, Sheriff, Regierungssorgen?«
»Ja, Corner, und hoffentlich bekomme ich von Euch eine vernünftige Auskunft.«
»Versuchen kann man es ja einmal, Sheriff!«
»Wo fandet Ihr gestern Lew Forest, Corner?«
»Es tut mir leid, Sheriff, aber das habe ich total vergessen.«
Sheriff Landert erhob sich.
»So kommen wir nicht weiter!« sagte er. »Aber lassen Sie nur, lassen Sie, Corner, ich weiß auch ohne Sie genau Bescheid und werde mir meinen Fuchs schon holen. – Feige war er noch niemals, und reize ich ihn, wird er mir auf den Kopf zusagen, was ich wissen will.«
Jetzt wandte sich Sheriff Landert zu Ruth, um sich von ihr zu verabschieden, als ihn eine leise Stimme erreichte.
»Halloh, Sheriff, ich weiß nicht, was Ihr eben andeuten wolltet. – Feige war ich noch niemals. Und wenn Ihr so erpicht darauf seid, den Schuldigen für Lew Forests Kratzer zu finden, dann bitte, er steht vor Euch.«
»Corner, Ihr?« Sheriff Landerts erstaunten Ausruf hörte man an, wie unerwartet ihm das kam. Jed Corner zuckte gleichgültig die Achseln.
Ruth war einen Schritt näher getreten, ihre Hände hielt sie vor Erregung gefaltet und sah Corner atemlos ins Gesicht. Ruhig und gelassen, ja sogar ein wenig spöttisch stand dieser da.
Schwer ließ sich Sheriff Landert in einen Stuhl fallen und sah Jed aufmerksam an.
»Und wie kam das, Jed Corner?«
»Wie so etwas kommt, Sheriff. Eine kleine Auseinandersetzung von früher her!« antwortete er leicht.
Nachdenklich stützte Sheriff Landert seinen Kopf in die Hand.
»Corner, ich verstehe Euch nicht ganz,« meinte er nachdenklich.
Er bekam keine Antwort. Sheriff Landert erhob sich und stellte sich vor Jed hin.
»Aber wie Ihr wollt, Corner. Ihr habt Glück gehabt, daß Forest nichts ernstes passiert ist. Euch,« er betonte das Wort nachdrücklich, »will ich mit einer Verwarnung laufen lassen. Aber erhob energisch seine Stimme, »sorgt dafür, daß das nicht wieder passiert!«
Ruth und Percy waren, ohne das geringste zu verstehen, der ganzen Szene gefolgt. Sheriff Landert verabschiedete sich von ihnen und verließ mit Jed Corner das Zimmer.
Minutenlang sahen sich Ruth und Percy erstaunt und betroffen an. Dann hob Ruth ihre Hände an ihre Schläfen.
»Percy,« rief sie verzweifelt, »ich finde mich nicht mehr zurecht! Mir ist, als sprächen die Menschen hier eine andere Sprache als wir.«
Percy nahm die Gelegenheit beim Schopf.
»Ruth, das ist auch alles nichts für Dich hier. Um sich hier wohl fühlen zu können, muß man wohl hier geboren sein. Ruth,« fuhr er eindringlich fort, »laß uns abreisen und den ganzen Ärger und die Unbequemlichkeiten von hier vergessen.
Ein erstaunter Blick traf ihn.
»Nein, Percy, das habe ich mit meinem Ausruf nicht gemeint. So schnell wirft Ruth Harries die Flinte nicht ins Korn. – Im Gegenteil, mich reizt das alles hier.« Sie machte eine weitausholende Handbewegung. »Ich möchte es mir erobern. Nur fürchte ich,« fügte sie leise hinzu, »daß es vielleicht über meine Kräfte geht.«
»Du machst Dich kaputt, Ruth.« Percy versuchte auf sie einzudringen. »Und wozu das?«
Ruth antwortete ihm nicht darauf.
»Hätte ich doch eine Unterstützung?« murmelte sie leise.
Kaum verstand Percy sie.
»Darf ich Dir helfen?« fragte er hastig, er sah hier eine Gelegenheit, Ruth, die sich ihm immer mehr entfremdete, wieder für sich zu gewinnen.
Ein freundlicher Blick dankte ihm.
»Wenn Du das wirklich wolltest, Percy!« nahm Ruth dankbar sein Anerbieten an. »Du hast doch ein Zeit Landwirtschaft studiert; willst Du Dich nicht der Ranch annehmen? Über kurz oder lang werde ich Jed Corner doch gehen lassen müssen; dann könntest Du mir eine Stütze sein, bis wir einen geeigneten Verwalter gefunden haben.«
»Gern, Ruth!« Percys Augen leuchteten auf. »Du,« sagte er mit einmal ganz Feuer und Flamme für ihren Plan, »mir ist schon so manches auf der Ranch aufgefallen; wenn man hier modernisieren wollte, würde man sicher viel rationeller arbeiten können. Zum Beispiel, man müßte Maschinen anschaffen, dadurch würden Leute gespart, außerdem müßte die alte Scheune abgerissen und eine neue, moderne, mit einem groß angelegten Getreidespeicher dafür hingebaut werden. Ebenfalls könnte man das viele Vieh noch sicher ganz anders ausnutzen. Sie wissen hier ja nicht einmal, wieviel sie im ganzen besitzen. Das nenne ich Schlamperei, Ruth!«
»Ja, Percy, nimm Du Dich nur der Ranch an. Ich gebe Dir restlos Vollmacht.« Ruth war äußerst zufrieden; würde sich Percy vielleicht nun doch wohler hier fühlen und auch ihr war geholfen.
Sie reichte ihm die Hand, die er küßte, bis sie sie ihm entzog.
»Komm, Percy,« sagte sie herzlich, »laß uns zu den anderen gehen, wenn Du hier etwas zu tun hast, wirst Du auch sicher nicht mehr so schlechter Laune sein wie in den letzten Tagen.« Ruth sprach aus, was sie dachte.
»Ruth, ich bitte Dich um Verzeihung, sollte ich mich haben gehen lassen. Über diese Untätigkeit hier; und dann – ich kann diesen Chick Langwool nicht leiden, er fällt mir auf die Nerven.«
»Percy,« sie lachte hell auf, »ich glaube, Du bist gar eifersüchtig?«
»Habe ich keinen Grund, Ruth?« Percy suchte Ruths Augen, sie verließ aber schon das Zimmer, und ihre ganze Antwort auf seine Frage war ein Achselzucken, das ihn nicht beruhigen konnte.
Es war um die Mittagszeit, als es schüchtern an Lew Forests Tür klopfte.
Auf sein leises »Herein« öffnete sie sich, und herein trat Chick Langwool.
Mit erstaunten Augen sah ihm Lew entgegen. Er machte eine Bewegung, als wolle er sich erheben, da stand Chick schon an seinem Lager und drückte ihn nieder; dabei war er so vorsichtig und behutsam, wie man es dem Draufgänger gar nicht zugetraut hätte.
»Bleibt liegen, Lew, damit Ihr bald wieder auf den Beinen seid!« sagte er leise. Dann ließ er sich auf einen Stuhl neben Lews Bett nieder, der sich ruhig wieder zurücklehnte, noch schwach von dem gehabten Blutverlust.
Verlegen drehte Chick seinen Hut in seinen Händen. Plötzlich räusperte er sich und sagte schnell: »Habt Ihr auch alles, Lew? Werdet Ihr gut gepflegt?«
Ein lächelnder Schein trat in Lews Augen bei Chicks unbeholfen klingender Besorgnis.
»Danke, Chick!« entgegnete er herzlich. »Ich habe alles und fühle mich so gut, daß ich glaube, ich werde bald wieder aufstehen können.«
Chick nickte; nach einer Pause begann er wieder, nur sah er Lew jetzt fest in die Augen.
»Heute morgen war ich am Silberbach, um etwa vorhandene Spuren von uns zu verwischen. Wir wollen es doch Sheriff Landert nicht allzu leicht machen!« setzte er grinsend hinzu, um sofort wieder ernst zu werden.
»Lew Forest, ich habe da eine merkwürdige Entdeckung gemacht.«
»Ich weiß nicht, was Ihr meint, Chick.«
»Nicht –? Ich habe mich gestern gleich gewundert, daß der Sohn des Revolverbills daneben traf.«
Lews Augen wichen Chick aus. Plötzlich unterbrach er Chick: »Habt Ihr eine Zigarette für mich?«
»Sollt Ihr haben!«
Chick zündete ihm eine an und steckte sie ihm zwischen die Lippen. Mit Behagen rauchte Lew; die Zigarette schmeckte wieder.
»Wollen wir den gestrigen Abend nicht vergessen, Chick?« schlug er vor.
»Gern! Aber vor dem muß noch etwas zwischen uns geklärt werden.« Aufseufzend ließ ihn nun Lew gewähren. Chick sprach mit erhobener Stimme weiter.
»Wie kam es Lew Forest, daß ich Eure Kugel in einem Baum fand, der fünf Schritte von mir abseits stand?«
Als er keine Antwort erhielt, fuhr er fort: »Das war kein fairer Kampf von Euch, Lew Forest?« grollte er. »Sagt, warum wolltet Ihr mich schonen, ich hätte es mit Euch nicht getan?«
Es dauerte eine Weile, bis Lew kaum hörbar erwiderte: »Ich wußte das, aber – ich schieße nicht auf Majorie Langwools Bruder.«
Chick erblaßte. Stumm sahen sie sich an. Was Chick in Lews Augen las, mochte ihn befriedigen, denn plötzlich atmete er erlöst auf, und als Lews Hand vorsichtig nach seiner tastete, fanden sich ihre Hände zu einem festen Druck.
»Ich reite heute wieder fort!« sagte Chick leicht nach einigen Augenblicken, in der Stille im Zimmer geherrscht hatte. Er zündete sich eine neue Zigarette an.
»Ihr wollt wieder fort?« Lew war erstaunt.
»Ja, mein Bester?«
»Weiß es Majorie?« kam zögernd die Frage von Lew.
Ein heftiges, verneinendes Kopfschütteln war die Antwort.
Lew lag still da; plötzlich sah er Chick an.
»Sicher wißt Ihr, was Ihr tut, Chick. Aber bringt es Majorie nicht großes Herzeleid?«
»Damit muß sie sich abfinden, Lew! Außerdem,« er blinzelte mit den Augen, als ob ihn die Sonne blende, »kommt vielleicht einer und wird sie zu trösten wissen.«
»Helen?« Verwunderter konnte wohl niemand fragen als Chick in diesem Augenblick.
»Ja, Helen, Chick?« wiederholte Lew.
»Lew!«
Lew fühlte sich plötzlich an seinen Armen gefaßt, und zwar so heftig, daß er vor Schmerz beinahe aufgeschrien hätte. Er unterdrückte es aber tapfer und sah fest in Chicks vor Aufregung blitzende Augen.
»Was wollt Ihr damit sagen. Ihr glaubt!?« stieß dieser aus, Lew fassungslos ansehend.
Als Lew nur ruhig bejahend mit dem Kopf nickte, ließ ihn Chick los und fragte gefaßt in seiner nachlässigen Art: »Wie kommt Ihr darauf?«
»Ich kenne Helen ja schon als Kind, Chick. Ich sah Ihre Blicke für Euch vor vier Jahren und gestern.«
Lange Zeit wurde zwischen ihnen nicht gesprochen, bis Chick mit einem Seufzer sagte: »Ist alles schön und gut, Lew. Aber ich muß fort!«
»Weshalb?«
»Weshalb? – Lew, in Wilhelmstone erzählt man sich offen, daß Jed Corner Lew Forest angeschossen habe. – Wißt Ihr, was das bedeutet?« Als ihn Lew nur betroffen ansah, sprach er weiter: »Das bedeutet, daß Jed Corner meine Tat dem Sheriff gegenüber auf sich genommen hat. – Es kommt mir jetzt vor, als ob ich niemandem mehr gerade in die Augen sehen könnte.«
Lew dachte über das eben Gehörte nach, bis er antwortete: »Chick, Ihr seid zu empfindlich. Wenn Jed Corner das für Euch tat,« sagte er sinnend, »dann hat er es bestimmt nicht getan, damit Ihr nun fortreitet und Euer abenteuerliches Leben wieder aufnehmt. – Gewiß hat er dabei an Majorie und Helen gedacht, habt Ihr Euch das überlegt, Chick?«
Chick stöhnte auf.
»Lew, das kann ich doch nicht von Jed Corner annehmen!«
»Doch, Chick, von Jed Corner könnt Ihr diesen Freundschaftsdienst annehmen; denn etwas anderes ist es nicht. Gebt mir Eure Hand, bleibt hier, und seid unser Freund. Freunde wie Euch können Jed Corner und – auch ich gebrauchen!« setzte er leise bittend hinzu, »wer weiß, Chick: das Leben spielt ja manchmal merkwürdig! Vielleicht kann Euch Jed noch einmal gebrauchen, und Ihr könnt ihm den Freundschaftsdienst mit Zinsen zurückzahlen. Das könnt Ihr aber nicht, wenn Ihr fort seid.«
»So habe ich es noch nicht angesehen, Lew,« überlegte Chick. »Ihr mögt recht haben. – Gut – ich bleibe!« sagte er entschlossen.
Nur kurze Zeit hielt sich Chick noch auf der Jolivet-Farm auf. Trotzdem Ruth ihn aufforderte, zu bleiben, zog es ihn doch fort. Chick war heute zerstreut und unaufmerksam, fand sie; ein wenig ärgerte sie sich darüber. –
Chicks Gedanken weilten bei dem, was ihm Lew angedeutet hatte. Mit einem Male begann er Helen mit anderen Augen anzusehen. Er hatte immer an sie als einen halben Jungen und guten Kameraden gedacht, an dem ihm vieles imponiert hatte; heute stellte er sich ihre dunklen Augen und ihr feingeschnittenes Gesicht vor. Chick wurde es warm ums Herz. Der Nachhauseweg wollte heute kein Ende nehmen. Er spornte sein Pferd an, und in einem mörderischen Tempo legte er den Rest des Weges zurück.
Vor dem Ranchhaus fand er zwei gesattelte Pferde vor. Als er von dem seinen sprang, um ins Haus zu eilen, kamen ihm schon Majorie und Helen entgegen.
»Ihr wollt fort?« rief er ihnen zu; nur mit Mühe unterdrückte er seine aufsteigende Enttäuschung.
»Du, Chick?!« Majorie war erstaunt, ihn zu sehen. »Wir wollten gerade zum Vieh reiten, und ich wollte Helen begleiten. Wir dachten nicht, daß Du sobald von der Jolivet-Ranch zurückkämest.«
Majorie sprach schnell und vorwurfsvoll. Ehe Chick ihr noch antworten konnte, kam ihm schon Helen zuvor.
»Chick, habt Ihr schon gegessen?«
»Nein!«
»Schnell, Majorie, sage in der Küche Bescheid, währenddessen decke ich für Chick den Tisch. Ihr müßt entschuldigen, aber wir dachten, Ihr würdet bei Euern neuen Freunden bleiben.«
Freundlich und ohne jeglichen Vorwurf sprach Helen.
Dankbar empfand es Chick, und als er sich an den Mittagstisch niederließ, wurden ihm die Speisen schon aufgetragen.
Die beiden Mädchen leisteten ihm Gesellschaft.
»Halte ich Euch nicht auf?« fragte er.
»Offengestanden, ja, Chick!« gab ihm Helen zur Antwort. »Wo Vater nicht hier ist, habe ich die Pflicht, nach allem zu sehen. Es ist doch mein Ehrgeiz, daß alles so geht, als ob Vater anwesend wäre. Aber wir werden uns nachher beeilen.«
»Helen, wäre es Euch recht, wenn ich Euch begleitete? Seht, ich habe doch schon einmal hier mitgeholfen, und vielleicht kann ich mich wieder einarbeiten und Euch dann eine Hilfe sein,« schlug er vor.
Ein freudiges Aufstrahlen ihrer dunklen Augen dankte ihm.
»Nett von Euch,« sagte sie ruhig, »ich nehme Eure Hilfe gern an.«
Den Nachmittag und Abend verbrachte Chick mit ihnen. Keinen Augenblick langweilte er sich, wie er es sicher gestern noch zu tun geglaubt hätte, wenn man von ihm verlangt hätte, mit den beiden Mädchen den ganzen Tag zusammen sein zu müssen.
Im Gegenteil, langsam bekam er wieder Interesse für die Ranch und die Arbeit, die darauf geleistet wurde. Die Cowboys begrüßten Chick freundlich und respektvoll, und als er am Abend die morgige Arbeit unter sie verteilte, die er vordem mit Helen durchgesprochen hatte, nahmen die Boys seine Anordnungen willig entgegen. Man merkte, sie arbeiteten doch lieber unter einem Boß als unter einer Frau.
Als sich Chick an diesem Abend von den Mädchen trennte, hielt er Helens Hand länger in der seinen, als nötig war.