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Die Pferde wieherten auf. Ein starker Ruck, und der Wagen stand.
Man sah den Fahrer vom Bock herunterspringen und am Geschirr des Handpferdes herumhantieren; dabei hielt er die Laterne des Wagens in der Hand.
Er fluchte leise. Da sprach eine dunkle Männerstimme durch die Nacht: »Ist etwas passiert? Kann ich Euch helfen?«
Wieder ein unterdrückter Fluch; dann hörte man deutlich: »Der Strang ist gerissen!« Was er dann noch sagte, verlor sich in einem unverständlichen Brummen.
Der Mann, der gefragt hatte, sprang jetzt vom Wagen und trat zu dem Fahrer. Ohne noch etwas zu sagen, packte er mit an; und er tat das so sicher und fachkundig, daß sich John Niles die Hilfe gefallen ließ, ohne abzuwehren, was zuerst seine Absicht gewesen war.
Ruth Harries schauerte zusammen, ihre Augen sahen zu dem dunklen Himmel hinauf, hier und da tauchten schon einige vereinzelte Sterne auf. Nicht lange würde es dauern, und der Mond würde ihnen sein Licht auf dieser Fahrt spenden.
»Wären wir doch nur in Denver geblieben und nicht noch heute nach diesem lausigen Nest gereist. Wir hatten es dort doch so gut.«
Der einzige, der Percival Archey auf seine unwirschen Worte Antwort gab, war Desmond Grane. Er tat es mit leichtem, spöttischem Ton, wie er oft sprach.
»Die Dummheit ist gemacht, und ein Umkehren hat nun auch keinen Zweck mehr.«
»Aber die Damen erkälten sich. – Ruth, ich sah Dich eben zusammenschauern. Ist Dir kalt?«
Ruth gab ihm keine Antwort, sie wandte sich an die neben ihr sitzende Corinne.
»Friert Dich, Corinne?«
»Ach nein!« Das kam aber so kläglich heraus, daß Ruth unwillkürlich lächeln mußte.
Jetzt sprach Eveline, die neben Corinne saß. Die drei jungen Damen saßen zusammen auf dem Vorderplatz des Wagens; ihnen gegenüber hatten sich ihre drei Begleiter niedergelassen, von denen der eine jetzt dem Führer half:
»Ich finde die Nachtfahrt schauderhaft! Ich kann nur Percy zustimmen. Mußte das sein, Ruth?«
Ruth nickte heftig mit dem Kopf; in der Dunkelheit konnte dies aber niemand sehen.
»Es mußte sein!« sagte sie ruhig. Dann sprach sie weiter, und man hörte ihrer Stimme die Erregung an. »Glaubt Ihr, ich ließe mir das gefallen? Ich komme hierher, lasse mich wirklich in diese Wildnis verfrachten, schicke ein Telegramm, und niemand holt uns ab! Das muß ja eine feine Wirtschaft auf der Ranch sein!«
»Die Wirtschaft zu säubern, hättest Du ja schließlich auch morgen noch Zeit genug gehabt, Ruth! Dann hätte uns auch der Rechtsanwalt Dr. Brittan gleich begleitet und Dich als Herrin auf Deiner neuen Besitzung eingeführt.« Percys Stimme hörte man die Empörung über diese nächtliche Expedition deutlich an.
Ehe noch Ruth Percy antworten konnte, fragte Desmond: »Kanntest Du eigentlich Deinen Onkel Jolivet, Ruth?«
»Nein! Als ich Kind war, besuchte er uns einmal, aber ich erinnere mich seiner nicht mehr. Er war ein Vetter meiner verstorbenen Mutter, und ich glaube, er hat sie sehr verehrt.«
»Na, so einen Erbonkel lob ich mir, Ruth?« meinte Eveline.
Ruth antwortete nicht – dafür aber Corinne: »Das hatte Ruth gerade nötig! Ich glaube, unser Prinzeßchen weiß sowieso nicht, wohin sie mit all ihrem Geld soll.«
Nun war es Desmond, der aufseufzte: »Ja, wo Geld ist, kommt Geld zu!«
Dieser Stoßseufzer trug ihm ein Lachen von Corinne ein. Desmond, der Sohn eines schwerreichen New Yorker Kaufmanns, hatte es nötig, darüber zu seufzen.
Jetzt beugte er sich vor: »Ruth, war es eigentlich nötig, Lew Forest mitzunehmen?« fragte er leise.
»Ja,« entgegnete Ruth »sein Onkel Anthony Carper wünschte es.«
»Ach, der will sich wohl einen Kuppelpelz verdienen?«
Wieder war es Percy, der hochfuhr.
»Percy, Du bist heute gerade nicht sehr geistreich.«
»Ach, Ruth, diese Reise zermürbt auch. Erst die lange Eisenbahnfahrt von New York bis hierher und nun noch diese blödsinnige, stundenlange Fahrt in die Nacht hinein.« Die Überzeugung, daß ihnen hier allen übel mitgespielt würde, trieb ihn weiter. »Und dann, ich kann diesen trockenen, stumpfsinnigen Forest nicht leiden. Aus dem Kerl ist ja kein Wort herauszubekommen! Wer kennt ihn eigentlich von uns? Wir wissen nur, daß Anthony Charper ihn uns eines Tages als seinen Erben vorgestellt hat, weiter nichts! Seit diesem Tage verkehrt er bei uns allen, aber niemand von uns ist warm mit ihm geworden. Daß sein Onkel scharf darauf ist, Deine Millionen, Ruth, mit den seinen zu vereinigen, kann ich mir lebhaft vorstellen.«
»Aber Du, Ruth, die verwöhnteste Frau New Yorks, und dieser langweilige, stoffelige Kerl? Lachhaft?«
Keiner antwortete Percy. – Mit einem Mal sagte Corinne verträumt: »Aber hübsch ist er doch!«
Das kam so drollig heraus, daß plötzlich eine Lachsalve erklang.
»Ach, Kinder,« rief Ruth, »laßt uns das Ungeschick, das uns betroffen hat, doch mit ein wenig Humor auffassen. – Denkt daran, was unsere New Yorker Freunde sagen würden, wenn sie uns mit so langen Gesichtern hier nachts in dieser unbekannten Gegend sehen würden. Alle, die Euch beneideten, mich hierher begleiten zu können, hätten jetzt die reinste Schadenfreude. Wollt Ihr das?«
»Nein, Ruth! Wir wollen treu zu Dir stehen in Deinem Ungemach!« versprach Desmond mit feierlicher Stimme.
Alles lachte, und die Stimmung der jungen Leute hob sich sichtlich.
Da tauchte neben dem Wagen ein Kopf auf.
»Alles in Ordnung!« meldete Lew Forest und schwang sich in den Wagen.
»Kommen Sie, Sie Unglücksrabe!« sagte Desmond und rückte zur Seite.
Der Wagen setzte sich wieder in Bewegung.
Plötzlich hob Corinne Blount, Ruth Harries beste Freundin, mit ihrer zarten Stimme zu singen an. Ihr war ein Abendlied eingefallen, daß sie wohl seit ihrer Kindheit nicht mehr gesungen hatte. Mit einem Mal fielen die anderen mit ein, und das Lied schwang sich zu den Sternen auf.
Vergnügt knallte Niles mit der Peitsche. Er wußte, wen er im Wagen fuhr: die Erbin von Jolivetfarm! Donnerwetter, würde Jed Augen machen! Erwarteten doch alle als Erben einen Mann. Er schmunzelte vor sich hin. Fein und vornehm, eine Lady war die Erbin. Die würde sich verdammt umsehen hier – und auch die Gents, die sie begleiteten. Die paßten wohl in New Yorker Salons aber nicht hierher, dachte er.
Nur der junge Mann, der eben geholfen, hatte etwas in den Augen, was ihm gleich aufgefallen war. Irgendetwas mutete ihm bekannt an.
John Niles sah noch Dr. Britton vor sich, als er die Fremden unter Bücklingen zu seinem Wagen begleitete. Wenn Dr. Britton jemanden so aufmerksam behandelte, so mußte derjenige schon eine angesehene Persönlichkeit sein; sonst hatte er einen mächtig steifen Nacken.
Leise pfiff Niles die Melodie des gesungenen Liedes mit; dabei hielten seine scharfen Augen vorsorglich Umschau. Verdammt noch einmal, er hatte die Brillanten funkeln sehen, als seine Fahrgäste im Wagen Platz nahmen. Das wäre etwas für ein paar verwegene Desperados, die Stadthühnchen fein säuberlich zu rupfen; und er John Niles, hätte dann die Verantwortung!
Froh würde er erst sein, wenn er seine Gäste unversehrt auf der Jolivetfarm abgeliefert hatte.
Später legte sich wieder Schweigen auf die kleine Gesellschaft; jeder war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.
Verstimmt grübelte Percy Archey über die ganze Angelegenheit nach. Im Grunde paßte ihm alles nicht. Er hatte ganz andere Pläne gehabt und war sicher, daß er jetzt schon am Ziel gewesen wäre, wenn nicht diese blödsinnige Erbschaft dazwischen gekommen wäre.
Aber seit Ruth vor Wochen davon vernommen, war mit ihr über nichts anderes mehr ein vernünftiges Wort zu sprechen. Percy träumte. Sonst wäre er heute gewiß schon der Verlobte Ruths gewesen. Ja, vielleicht gerade heute wäre das große Fest ihrer Verlobung gefeiert worden. In Gedanken ging Percy alle Gäste durch, die zu diesem Feste eingeladen worden wären. Dabei sah er nur die Geldaristokraten New Yorks. Daß ihm Lew Forest bei Ruth auch nur einen Augenblick hätte gefährlich werden können, kam ihm gar nicht in den Sinn, meinte er doch Ruth am besten zu kennen; keiner konnte so gut auf alle ihre Neigungen und Wünsche eingehen wie er.
Percy war sich klar, daß Ruth keine leicht zu nehmende Frau war. Herrisch und verwöhnt war sie, und das war auch kein Wunder, konnte sie sich doch jeden ihrer Wünsche erfüllen. Schwer war es, mit Ruth auszukommen, wenn sie in nachdenklicher und oft schwermütiger Stimmung war. Sentimental nannte Percy es, er fand keinen anderen Ausdruck dafür. Diese Schwerfälligkeit in manchen Dingen des Lebens mußte ein Erbteil ihrer deutschen Großmutter sein. So ›schwerfällig‹ war Ruth auch, wenn man auf das Thema Liebe kam. Sie dachte darüber anders als ihre meisten Freundinnen und suchte sich ihre intimen Freundinnen auch danach aus.
In allem konnte sie leichtsinnig und nach ihren Launen handeln, nur vor einem machte sie halt: der Liebe.
Ein Rest von Idealen hatte sie sich aus ihrem verwöhnten und fast nichts Neues mehr bietenden Leben gerettet. Eigentlich wartete Ruth wie alle jungen Mädchen auf das eine große Erlebnis. Aber sie zählte jetzt schon 25 Jahre, und hatte seufzend resigniert. Die große Liebe gab es wohl für sie nicht mehr; um so geneigter war sie Percys Vorschlägen einer Heirat zwischen ihnen geworden.
Nun war ihm diese Erbschaft der Ranch und der Ausflug dahin, dazwischen gekommen! Percy seufzte auf.
Desmond Grane beobachtete still seine Freunde im Wagen. Er meinte Percys Gedanken von seinem Gesicht abzulesen. Ein kleines, spöttisches Lächeln grub sich um seinen Mund.
Er empfand diese Reise als sehr angenehm. Riß sie einem doch wohltuend aus der sich immer gleichbleibenden und langweiligen Atmosphäre in New York. Auch fühlte er sich wohl, weil er nur Menschen um sich hatte, die gleich ihm gewohnt waren, einen hohen Lebensstandard zu verlangen. Desmond liebte klare und gleichgestellte Verhältnisse. Nur Lew Forest war ihm noch unbekannt. Gewiß, dessen Onkel Anthony Charper garantierte wohl für ihn, aber Desmond wurde nicht recht schlau aus Lew Forest, und darum mißtraute er ihm.
Plötzlich fuhren sie alle zusammen. Lew Forest hatte gesprochen. Da sie ihn alle nicht verstanden hatten, fragte Ruth nach.
»Wir sind da!« wiederholte er.
Ein erstaunter Blick streifte ihn. Gerade wollte ihn Ruth fragen, woher er das wisse, als der Fahrer sich umdrehte und ebenfalls sagte: »Wir sind da.« Er zeigte mit seiner Peitsche nach vorn.
Sie sahen in der Ferne Lichter aufglänzen.
»Jolivet-Farm?« fragte Ruth begierig.
»Nein,« antwortete Niles »die liegt noch eine kurze Strecke dahinter. Das ist Wilhelmstone, der kleine Ort, bei dem die Farm liegt.«
Alle schauten gespannt auf die näherkommenden Lichter. Endlich fuhren die Pferde über holpriges Pflaster.
»Hier scheinen die Menschen mit den Hühnern zu Bett zu gehen!« stellte Desmond fest, als er die leeren Straßen sah, durch die sie fuhren. Auch sah man in den meisten Häusern kein Licht mehr brennen.
»Nein!« Wieder war es Niles, der antwortete. »Heute abend ist sogar etwas los in Wilhelmstone. Am Nachmittag waren die Vorrennen für Denver, und jetzt ist Ball in Winters Gaststube.«
»Ball?« Corinne war es, die neugierig fragte.
»Ja!« nickte Niles ihr zu.
»Fein,« jubelte sie, »da müssen wir hin! Was meinst Du, Ruth?«
»Unsinn!« unterbrach Percy. »Was versprichst Du Dir von so einem Ball hier in diesem Nest, Corinne?«
»Aufwärmung!« fiel Desmond fröstelnd ein.
Corinne kniff Ruth zärtlich in den Arm: »hättest Du Lust, Ruth?«
»Die Damen sind doch nicht in Balltoilette!« spöttelte Percy.
»Möchtest Du auch dorthin gehen, Eveline?« fragte Ruth, ohne auf Percys spöttischen Ton einzugehen, der sie ärgerte.
»Ach, es wäre vielleicht einmal etwas anderes!« entgegnet gelangweilt tuend Eveline. Sie freute sich im Grunde schon auf die erstaunten Blicke der Leute hier, wenn sie in den Ballsaal kämen, da sie sicher für hiesige Verhältnisse unendlich elegant sein würden.
»Aber Kinder, seid Ihr von der Bahnfahrt und dieser nächtlichen Fahrt denn nicht viel zu müde?« versuchte Percy sie umzustimmen. »Außerdem, Ruth, hattest Du es erst so eilig, nach der Ranch zu kommen, daß wir sofort aufbrechen mußten; und nun willst Du hier einen Ball besuchen.«
»Ja, gerade das will ich! Vielleicht hatte ich nur deshalb so große Eile!« kam es trotzig zurück.
Percy seufzte, es war mitunter wirklich nicht leicht, mit Ruth auszukommen.
Mit einem Male bekam Percy Unterstützung und ausgerechnet von Lew Forest.
»Miß Harries, ich würde es auch für besser halten, wenn wir gleich auf die Farm führen.«
»Warum, Mr. Forest?«
»Ich glaube nicht, daß wir auf dieses Fest passen, Miß Harries. Ein Fest hier im Westen ist doch etwas anderes als in New York oder seiner Umgebung.«
»Forest, fürchten sie um ihre weiße Wäsche?« fragte Desmond Grane ironisch.
»Kaum, Mr. Grane!« Die Antwort klang so scharf, daß unwillkürlich alle aufhorchten.
»Ich danke Ihnen für Ihren Rat, Mr. Forest!« antwortete ihm nun Ruth. »Aber da ich in der nächsten Zeit doch mit diesen Leuten zu tun haben werde, freut es mich, einmal eine solche Veranstaltung anzusehen. – Wir werden doch zum Ball gehen!« schloß sie. »Halloh, Fahrer, halten Sie vor dem Gasthaus!« befahl sie.
»Corinne,« wandte sie sich darauf an ihre Freundin »nun kann ich Dir doch gleich in der Wildnis, in die Du mir gefolgt bist, etwas bieten.«
»Ich bin auch mächtig gespannt darauf, Ruth,« freute sich Corinne.
Lew Forest hielt den Kopf abgewandt; niemand konnte sein Gesicht sehen, darin ein nachdenklicher aber auch besorgter Zug stand.
Von weitem schon sahen sie das hellerleuchtete Lokal. Viele Pferde standen davor, aber niemand war zu sehen; dafür drang ihnen laute Musik entgegen.
Eveline kam in Stimmung, sie summte den Schlager mit und nickte Ruth strahlend zu.
Mit einem Ruck hielt John Niles seine Pferde an.
»Soll es nun wirklich da hinein gehen?« fragte er, und seine Peitsche deutete in das Gasthaus.
Ein erstaunter Blick Ruths streifte ihn. Sie war bisher nicht gewohnt, von ihren Untergebenen oder in ihren Dienst stehenden Leuten gefragt zu werden.
John Niles sah nicht den erstaunten Blick. Er war schon von seinem Bock gesprungen und trat an den Wagenschlag. Ein Blick überzeugte ihn, daß das Gepäck noch ordnungsgemäß hinten aufgeschnallt war. Alles hatte er ja nicht mitnehmen können, wenn seine vier Pferde auch allerhand zogen. Das große Gepäck sollte morgen nachgebracht werden.
Der erste, der sich nun vom Wagen schwang, war Lew Forest; er half den Damen; ihnen folgten Desmond und Percy. Percy reckte sich, daß seine Knochen knackten; er fühlte sich wie zerschlagen und bewunderte die Damen, die keine Ermüdung zeigten.
Corinne stand im unsicheren Licht des Wagens, hielt ihre Tasche in der Hand und zückte Puder und Lippenstift. Sie war stark beschäftigt mit ihrem Make-up. Ihrem Beispiel folgte sofort Eveline und dann, wenn auch zögernd, Ruth. Die Herren warteten geduldig.
Schließlich klappte Ruth energisch ihr Täschchen zu.
»Fertig!« mit diesem Wort drehte sie sich um und nahm Percy Archeys Arm, den er ihr zuvorkommend reichte. Desmond folgte seinem Beispiel mit Corinne, und als letzter folgte Lew mit Eveline.
Lews Schritt war zögernd und unsicher; fast hatte Eveline das Gefühl, als müsse sie ihn stützen. Erstaunt sah sie in sein Gesicht und erschrak.
Lew war blaß bis in die Lippen, er schritt wie ein Nachtwandler dahin. Seine Augen waren weit geöffnet; sein Atem ging schwer und Eveline meinte, an seinem Arm ein Beben zu verspüren, das durch seinen ganzen Körper ging.
Sie drückte seinen Arm an sich und wollte irgendetwas zu ihm sagen. Ein Freundschaftsgefühl für ihn stieg in ihr auf, aber es fielen ihr so schnell nicht die richtigen Worte ein, und da standen sie auch schon in der Gaststube.
Qualm und Rauch schlugen ihnen entgegen. Links seitwärts in dem Raum stand eine Theke, die von Männern umlagert war, welche bei ihrem Eintritt verstummten und zu ihnen hinsahen.
Ruth musterte alles mit interessierten Blicken. Sie sah wohl die erstaunten Augen auf sich und ihre Gäste gerichtet, aber das machte ihr nichts aus. Genau so fremd und seltsam wie sie denen erschienen, muteten sie die bunten Gestalten an.
Sie hatte noch nicht alles erfaßt, als Percy sie schon in den angrenzenden Saal führte, hier wurde getanzt.
Als die neuen Gäste erschienen, hörte gerade die Musik auf. Auch hier wurde ihr Erscheinen mit erstaunten und teilweise spöttischen Blicken, die hauptsächlich die Herren streiften, aufgenommen.
Percy Archey, dem es unter den Blicken nicht sehr behaglich wurde, steuerte entschlossen auf einen freien Tisch zu, an dem sie sich niederließen.
Es war verhältnismäßig still im Saal geworden. Ruths Freunde hatten das Gefühl, daß sie im Kreuzfeuer von Blicken säßen, trotzdem sie nicht bemerken konnten, daß nun, wo sie Platz genommen hatten, nur ein einziger Blick sie traf und musterte.
Ruth lachte leise auf, aufmerksam sah sie sich im Saal um.
»Also Kinder, nun haben wir unseren Willen. Paßt auf, es kann noch ganz gemütlich werden. Interessant finde ich es jetzt schon hier. Schaut Euch nur einmal die bunte Kleidung der Männer an!«
»Corinne, sieh Dir einmal den dunklen, hübschen Kavalier dort drüben an; an dem blinkt und blitzt alles, er trägt sogar einen gestickten Gürtel.«
»Ist das wohl ein Mexikaner, Percy?« fragte sie wißbegierig. Ruth machte der herausfordernde Blick, mit dem sie der Mexikaner ansah, Spaß und lachend erwiderte sie ihn.
»Mag sein, Ruth! Aber vielleicht schaust Du nicht so sehr dahin«, kam unwillig Percys Erwiderung.
Ein staunender, abweisender Blick traf Percy. Was fiel ihm denn ein; wollte er sie etwa schulmeistern? Ehe sie noch eine Antwort geben konnte, fragte eine höfliche Stimme neben ihr:
»Was wünschen die Herrschaften zu trinken?«
Tom Winter stand vor seinen neuen Gästen; sein Blick heftete sich scharf auf Lew, der seinem Blick auswich.
Percy bestellte; alles einigte sich auf Whisky. Jetzt trat John Niles heran und setzte sich ohne viele Umstände mit an ihren Tisch. Ruth zog die Augenbrauen hoch, sagte aber nichts. Corinne stieß sie leise an und lachte.
Ein neuer Tanz begann. Der Whisky kam, und sie tranken sich zu.
Gerade wollt Eveline den Wunsch aussprechen, hier zu tanzen, als man lautes Stimmengewirr vernahm. Zugleich fiel ein Schuß. Corinne verstummte, ihre Hand tastete nach Desmonds Arm und klammerte sich an ihm fest.
Ruth erging es merkwürdig. Sie war zart und empfindlich mit ihren Nerven und wollte gerade erschreckt aufschreien, als ihr Blick auf die Menschen im Saal fiel.
Alle schienen ihr in ihrer Haltung verändert; sie saßen wie erstarrt, und auf ihren Gesichtern meinte sie deutlich die Worte: Achtung – Gefahr! zu lesen.
In dieser Sekunde ging ein Gefühl durch sie, wie sie es noch nie in ihrem Leben gekannt hatte. Alles in ihr straffte sich, ein Schauer ließ ihren Körper erbeben. Ihre Augen starrten weitaufgerissen auf eine geschlossene Tür, aus der sich das Stimmengewirr näherte. Noch ein Schuß erklang. Die Tür wurde aufgerissen, und über ihre Schwelle stolperten drei Männer. Zwei von ihnen schrien etwas in das hinten gelegene Zimmer, was Ruth aber nicht verstand.
Plötzlich stand im Rahmen der Tür eine Gestalt, die auf Ruth so wirkte, daß sie erstarrte: ein großer Mann, der in jeder Hand einen Revolver hielt. Seine Stirn umgab leuchtend rotes Haar, das völlig zerzaust war. Er lachte laut in den Saal hinein, dabei zeigte er ein Raubtiergebiß.
Die Erscheinung wirkte unerhört. Der Mann kam Ruth wie ein Titan vor, der sie alle mit seiner ungeheuren Kraft in Bann hielt.
Nun sprach er. Bei seiner harten Stimme flog Ruth zusammen.
»Ihr Gauner – Ihr Lumpen – wollt mich, Chick Langwool, ausnehmen! Dazu müßt Ihr früher aufstehen! Los – sonst mache ich Euch Beine!«
Einer der aus dem Zimmer geworfenen Männer wollte noch etwas erwidern, er kam aber nicht mehr dazu; ein Lachen und drei Schüsse, die zwischen die Beine der jetzt endgültig Fliehenden fuhren, hinderte ihn daran.
Mit noch vor Staunen weitaufgerissenen Augen sah Ruth, wie der rothaarige Mann seine Revolver nun blitzschnell in seinem Gürtel verschwinden ließ. Dann ging er mit schweren Schritten und klirrenden Sporen auf den nächsten Tisch zu und ließ sich daran nieder. Scheu rückten die dort Sitzenden zusammen.
Einige Männer, die sich außer ihm und den Flüchtenden in dem Zimmer aufgehalten hatten, kamen nun auch heraus.
»Winter!« scharf durchdrang Chick Langwools Stimme die immer noch herrschende Ruhe.
Wie der Blitz stand plötzlich Tom Winter neben ihm.
»Whisky!« schrie ihn Chick an.
Mit einem Achselzucken ging Tom Winter hinaus, um den Auftrag auszuführen.
Eine Stimme flüsterte Ruth zu: »Der ist ja völlig betrunken!« Es war Eveline, die es sagte.
Ruths Augen hingen noch an dem Mann; sie schüttelte den Kopf.
»Nein,« flüsterte sie zurück »betrunken ist der nicht!«
Evelines Antwort hörte sie nicht mehr. Es war ihr, als ob sie alle, die mit ihr am Tisch saßen, vergessen hätte. Sie hatte nur noch Augen und Ohren für diesen rothaarigen Mann, der jetzt das Glas Whisky von Winter entgegennahm und herausfordernd im Saal umhersah.
Sein Blick blieb plötzlich auf der kleinen, neu dazu gekommenen Gesellschaft haften.
Erstaunt zog er die Augenbrauen hoch, erhob sich und ging mit nachlässigen Schritten auf ihren Tisch zu.
Als sie ihn auf sich zuschreiten sah, meinte Ruth, ihr Herz stocken zu fühlen.
Ihr Blick suchte ihre Freunde, deren Augen aber alle gebannt an dem Näherkommenden hingen. Percy Archeys Gesicht kam ihr in diesem von Petroleumlampen stammenden, gedämpften Licht blaß und leblos vor. Desmond hatte seinen spöttischen Zug um den Mund verloren, und Lew Forest sah in eine entfernte Ecke, seine rechte Hand lag zur Faust geballt auf dem Tisch. Corinne hatte sich vor Angst ganz in sich zusammengekauert; nur Eveline war unverändert und sah dem Fremden gelassen entgegen. Jetzt fuhr sogar ihre kleine Zunge blitzschnell, über ihre Lippen, eine Bewegung, die sie immer machte, wenn sie angeregt war, oder an einer Situation Gefallen fand.
Der Rothaarige pflanzte sich breitbeinig vor ihnen auf. Als er herausfordernd sein Glas erhob, herrschte lautlose Stille im Saal. Ruth durchfuhr der Gedanke, daß es wohl doch etwas anderes heißen mochte, einen Tanz im Westen zu besuchen, als sich in New York in einem unbekannten Ballsaal zu befinden. Plötzlich fiel ihr ein, was sie je gehört und gelesen hatte vom wilden Westen und den Männern dort. Aber die Einsicht kam zu spät; und nun erzitterte Ruth doch.
»Ladys und Gentlemen, ich trinke auf Euer Wohl! Wie haben Sie sich denn hierher verlaufen?«
Keiner antwortete ihm; jeder wartete, daß der andere sprechen würde.
Mit einem Male sahen alle, daß sich seine Augen verkleinerten; er schien zu stutzen. Sie hatte das Gefühl, als ob er sprechen wollte, doch er setzte das Glas nur ruhig auf den Tisch, machte plötzlich eine elegante Verbeugung, wie sie ihm niemand zugetraut hätte, und fragte: »Miß, wollen Sie mit mir tanzen?«
Damit wandte er sich ausgerechnet an die zarte Corinne Blount, die wie ein verschüchtertes Vögelchen auf ihrem Stuhl hockte.
Nur ein abwehrendes Kopfschütteln war die Antwort.
Man sah, wie ihm die Adern an der Stirn anschwollen.
Plötzlich – Ruth wußte selbst nicht, wie sie dazu kam oder woher sie den Mut nahm – redete sie den Mann an: »Meine Freundin mag nicht tanzen. Aber vielleicht nehmen Sie mit mir vorlieb?« sagte sie liebenswürdig.
Sie hörte neben sich ein schweres Aufatmen, das fast wie ein Keuchen klang. Sie wußte, es kam aus Percys Munde.
Ehe noch der Mann antworten konnte, hörte sie Percy sagen: »Ruth, Du wirst doch nicht mit diesem betrunkenen Fremden tanzen wollen!«
»Betrunken?« gedehnt kam es aus des Fremden Munde. »He, Kleiner, kommen Sie einmal einen Augenblick aus Ihrer Runde heraus, dann wollen wir beide einmal einen Tanz zusammen wagen, der Ihnen zeigen soll, ob ich betrunken bin oder nicht.«
Im Augenblick war Ruth starr. War Percy toll? Ehe noch einer einen Gedanken fassen konnte, antwortete sie schnell: »Dieser Herr hier,« sie wies mit einer Kopfbewegung nach dem neben ihr sitzenden Percy »hat mir gar nichts zu sagen. Wollen wir tanzen oder nicht?«
Ruth stand jetzt vor dem rothaarigen Manne und sah ihn mit einem koketten Lächeln an, das bisher noch auf keinen seinen Zauber verfehlt hatte. Sie war siegesbewußt und hob schon ihre Arme, um sich, zum Tanz bereit, in die seinen zu legen, als sie sanft, aber energisch bei Seite geschoben wurde.
»He, kommt heraus!« schrie der Rotfuchs Percy an, der noch zögerte. Da kam es wie ein Peitschenschlag aus Chick Langwools Munde: »Feigling!« stieß er aus.
Percy schnellte empor; Ruth stand hilflos mit zuckenden Lippen da, jetzt wußte sie sich keinen Rat mehr.
In diesem Augenblick flatterte etwas Weißes durch den gespannt aufhorchenden Saal.
Wie ein Wirbelwind stand plötzlich ein junges Mädchen bei der kleinen Gruppe, das den Riesen freundschaftlich auf die Schultern klopfte.
»Guten Tag, alter Chick, wieder im Lande?« rief sie aus.
Chick fuhr herum und schaute betroffen auf das Persönchen, das noch auf den Zehenspitzen vor ihm stand, weil sie nur so ihm kameradschaftlich auf die Schultern hatte klopfen können.
Einen Augenblick musterte er sie erstaunt, dann rief er: »Ich wette, das ist Helen!«
»Ihr habt Eure Wette gewonnen, Chick! Wie ist es nun, trinken wir einen Willkommensschluck miteinander?«
Einen Augenblick schien es, als ob Chick freudig bejahen wollte, da fiel sein Blick wieder auf Percy, der noch vor ihm stand.
»Nachher, Helen!« wehrte er ab. »Jetzt habe ich hier etwas zu erledigen.«
Da kam es leise von Helens Lippen: »Chick, Majorie freut sich so auf Euch. – Sie wartet auf Euch.«
Ruth, die mit Staunen dieser Szene gefolgt war, sah, wie der Mann zusammenzuckte und sich abwesend über die Stirn strich.
»Majorie?« kam es leise über seine Lippen. Dann wandte er sich plötzlich schroff an Percy.
»Ich schenke Ihnen das Leben!« sagte er ironisch. Und Ihnen, my Lady,« damit wandte er sich an Ruth »danke ich für den Tanz. Sicher werden wir ihn noch einmal nachholen.« Bei diesen Worten tauchten seine grünen, blitzenden Augen tief in die ihren, so daß Ruth zum ersten Male in ihrem Leben vor einem Manne den Blick niederschlug.
Als sie wieder aufsah, hatte Chick in Begleitung des schwarzhaarigen Mädels den Tanzraum verlassen, und alles tanzte schon wieder, als ob nichts vorgefallen wäre.
»Uff!« es war das erste Wort, das gesprochen wurde, und zwar stieß es Desmond Grane aus.
»Percy, ich glaube, da bist Du noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen!« wandte er sich dann an Percy, der ihm nur mit einer wegwerfenden Handbewegung antwortete.
»Ich meinte, der Teufel ritte Dich, als Du Dich in die Angelegenheit mischtest,« fuhr Desmond unbeirrt fort. Desmond lehnte sich über den Tisch. »Hast Du denn noch nicht bemerkt, daß wir hier im Westen sind. Mit Schrecken ist es mir vorhin eingefallen, als ich den Riesen vor uns aufgebaut sah. Hier herrschen noch andere Gesetze! Mich erfaßte wirklich Angst um Dich.«
Merkwürdigerweise war es gerade Ruth, die widersprach, trotzdem es ihre eigenen Gedanken waren, die Desmond aussprach: »Ach was, trotzdem kann man sich nicht alles gefallen lassen!«
Sie vergaß ganz, daß Percy sich gegen ihren Willen eingemischt hatte.
Corinne und Eveline gaben auch ihre Ansichten kund; sie waren sich vor allem in einem Punkt einig, daß der Fremde ein aufregender und zu fürchtender Mann gewesen sei.
Nur Lew Forest und John Niles verhielten sich schweigend. Mit schlau blinzelnden Augen war Niles der Szene gefolgt. Daß sich Lew schweigend verhielt, fiel nicht weiter auf, da alle gewohnt waren, daß er fast nur sprach, wenn er angeredet wurde.
»Percy, zahle jetzt! Wir wollen gehen, ich habe genug von hier,« sagte Ruth gereizt. Sie fühlte sich nicht mehr wohl und ärgerte sich auf einmal ganz unvernünftigerweise, daß sie überhaupt hier saßen und nicht schon längst auf der Ranch waren.
Ihrem Wunsche gehorchend wollte Desmond aufstehen und den Wirt holen. Da fühlte er eine kleine, ängstliche Hand nach der seinen greifen.
»Bleiben Sie hier, Desmond?« sagte eine leise, bittende Stimme. »Ich fürchte mich, lassen Sie uns alle zusammen bleiben.«
Erstaunt sah er Corinne an; sie war sonst so selbständig; jetzt sah sie ihn aber mit ängstlichen Augen an. Ein weiches, warmes Gefühl stieg für die bei ihm schutzsuchende Frau in ihm aus. Er reckte sich in den Schultern und drückte ihr zärtlich die Hand.
»Fürchten Sie sich nicht, Corinne! Ich bin gleich wieder bei Ihnen.« Und stolz wie ein Held verließ er den Saal, um die Zeche bei dem Wirt, der draußen in der Gaststube hinter der Theke stand, zu bezahlen. Unangefochten war er bald wieder bei Corinne, deren bewundernder Blick ihm gefolgt war.
Als er ihr nun in ihren Mantel half, war kein spöttischer Zug in Desmonds Gesicht zu sehen.
Wie beim Hereinkommen, so folgten ihnen auch beim Hinausgehen alle Blicke.
Befreit atmete Ruth auf, als sie alle wieder im Wagen saßen.
Draußen war der Mond völlig aufgegangen. In seinem Licht wurde die letzte Strecke der Fahrt zurückgelegt.
Ihre Hand, nach der Percy tastete, entzog ihm Ruth. So fuhren sie schweigend, jeder mit seinen eigenen Gedanken und Eindrücken beschäftigt, durch die fremde Landschaft. Jeder von ihnen hatte das Gefühl, daß sie dieses Land nicht kannten und daß, wenn sie es kennen lernen und erfassen wollten, ihnen wohl noch manches Abenteuer bevorstehen würde.
Im Mondlicht sahen sie Bäume und Gebäude auftauchen, in der Ferne hoben sich die Umrisse eines Gebirges von dem dunklen Himmel ab.
Ein scharfer Ruck nach rechts, und sie fuhren durch ein Tor auf einen Weg, der gut gepflastert war.
Ein großes, langgestrecktes Haus war zu erkennen.
Der Wagen hielt davor. Aufatmend sahen sie sich alle um. Ihr Reiseziel war endlich erreicht. Schon wollte Percy als erster aus dem Wagen springen, als sich aus dem Dunkel der Nacht eine Gestalt löste und auf sie zuschritt.
»Hallo, Niles, wen bringt Ihr denn da?« hörten sie eine ruhige Stimme fragen.
»Den neuen Herrn von der Jolivet-Farm, Jed,« antwortete Niles; dabei kicherte er leise vor sich hin.
Ein kleiner, erstaunter Ausruf antwortete, und näher trat eine Männergestalt auf sie zu, die sich an den eben vom Wagen herabgesprungenen Percy Archey wandte.
»Sie sind …?« kam es zögernd fragend von seinen Lippen.
»Nein!« entgegnete ihm schroff Percy und wandte sich wieder dem Wagen zu, um Ruth beim Aussteigen zu helfen.
Im Augenblick war er in einer furchtbaren Laune, und in der Stimmung, Böses tun zu können. Nur mit äußerster Gewalt beherrschte Percy sich.
Der an den Wagen herangetretene mochte nun wohl der Damen ansichtig geworden sein, denn er drehte sich hastig um und eilte auf ein Gebäude zu, das linker Hand von dem großen Hause lag.
Fröstelnd standen sie um den Wagen herum und sahen Niles zu, der mit Lew Forests Hilfe das Gepäck abschnallte.
Auf einmal tauchten Fackeln auf, Männer kamen näher und beleuchteten die Szene. Einer von ihnen, es mochte wohl derjenige sein, der schon vorhin am Wagen gestanden hatte, trat wieder auf sie zu.
»Wollen Sie mir bitte folgen!« redete er sie in höflichem Ton an. Er ging auf das Haus zu und öffnete es mit einem Schlüssel.
Kühle, muffige Luft schlug ihnen entgegen. Der Mann trat links in eine Stube, und gleich darauf erhellte eine große Lampe den Raum. Einfach aber wohnlich war er eingerichtet.
Alles aber erschien Ruth schwerfällig und alt. Auf dem Tisch stand die Lampe, deren Licht auf den Boden fiel.
In dem Lichtkreise blieb Ruth stehen mit einem plötzlichen Gefühl banger Unruhe.
Das Zimmer besaß zwei Fenster und hinter ihnen zeichneten sich in der aufkommenden Morgendämmerung die dunklen Umrisse der Bäume vor dem Hause. Ihr kam es vor, als ob die Möbel des Zimmers sie feindlich und abwehrend anstarrten. Die seelische Verfassung Ruths war jetzt durch die Anstrengung der Reise und die Aufregung des Abenteuers so, daß sie am liebsten in Weinen ausgebrochen wäre.
Da sie sich aber vernünftigerweise sagte, daß damit niemandem geholfen wäre und sie nur den Augenblick verschlimmern würde, nahm sie sich zusammen.
Jetzt sah sie den Mann an, der sie in diese Stube geführt hatte. Er war groß und hatte breite Schultern, wirkte aber leicht und schmal. Sein Blick ging forschend von einem zum anderen, um dann auf Ruth ruhen zu bleiben. Ein paar ruhige, graue Augen sehen sie an. Sie trat einen Schritt auf ihn zu.
»Ich bin Ruth Harries und die Erbin von Oliver Jolivet!« sagte sie, die letzten Worte betonend.
Eine knappe Verbeugung folgte.
»Jed Corner!« stellte er sich vor, um nach einer kleinen Pause fortzufahren; »Verwalter der Jolivet-Farm.«
Das also war der verantwortliche Mann hier, auf den sie einen Zorn hatte? Doch die Auseinandersetzung schob sie für morgen auf.
»Sorgen Sie für die Unterbringung für mich und meine Gäste!« kam es hochmütig von ihren Lippen. »Aber ein wenig schnell! Wir sind müde und abgespannt. Morgen dann alles Nähere.«
Stillschweigend ging der Mann hinaus.
Ruth wandte sich an ihre Freunde: »Wenn Ihr müde seid, nehmt doch bitte Platz!« sagte sie matt. »Hunger werdet Ihr wohl auch haben, doch ist es besser, daß wir ihn bis morgen früh bezwingen. Sonst bringen wir hier noch alles außer Rand und Band und kommen überhaupt nicht zur Ruhe.«
Sie erhielt keine Antwort, jeder war zu müde, und so wurde ihr Vorschlag stillschweigend angenommen.
In verhältnismäßig kurzer Zeit öffnete sich die Tür wieder, und Jed Corner trat ein. Sie hatten bis auf hin und her eilende Schritte nichts vernommen.
»Bitte mir zu folgen!« sagte seine kühle, ruhige Stimme. Im Augenblick fand sie Ruth wohltuend, so sachlich klang sie.
Sie folgten ihm, der sie eine breite Treppe hinaufführte. Er öffnete ein Zimmer, es war ein freundlich aussehendes Schlafzimmer, in das sie sahen.
»Miß Harries, bitte!« sagte Jed Corner.
Ruth trat über die Schwelle. Eine Nebentür stand offen, die in einen behaglichen, kleinen Wohnraum führte, anstoßend war noch eine Tür geöffnet. Als sie näher trat, gewahrte sie ein Zimmer mit zwei Betten an den Wänden.
Alle Zimmer waren erleuchtet, und die Betten aufgeschlagen und überzogen.
»Für die beiden anderen Damen«, erklärte der Verwalter. Ruth nickte, es war nichts daran auszusetzen.
»Corinne, Eveline, hier Eure Pracht!« rief sie. »Macht schnell, daß Ihr ins Bett kommt!«
Jed Corner trat zu den Herren auf den Flur, der sich hier zu einer kleinen Halle erweiterte, zurück. Er führte sie einen schmalen Korridor entlang und öffnete zwei Türen.
»Zwei von Ihnen müssen zusammenschlafen« sagte er. Wie selbstverständlich gingen Percy und Desmond in das Doppelzimmer.
Lew Forest blieb auf der Schwelle seines erleuchteten Zimmers stehen, er drehte sich um; schon fiel die Tür des Zimmers von Percy und Desmond ins Schloß.
»Danke!« sagte er leise zu Jed Corner, der bei diesem ersten höflichen Wort, das er von keinem anderen vernommen hatte, erstaunt aufsah und Lew in das erleuchtete Gesicht sah.
»Lew Forest?« fuhr es ihm plötzlich fragend heraus.
Dieser nickte. Er reichte Jed die Hand hin.
»Guten Tag, Jed Corner!« sagte er. Dann trat er ins Zimmer und schloß leise die Tür hinter sich.
Sekundenlang blieb Jed Corner stehen und starrte auf die geschlossene Tür, als könne er durch sie hindurchsehen. Dann drehte er sich um und ging vom ersten Stockwerk hinunter, das schon still und verlassen dalag.
Er ging jetzt leise aus dem Haus und schloß es hinter sich zu. Dann wandte er sich links zu dem einstöckigen Gebäude, dessen einer Raum hell erleuchtet war. Er trat in eine erhellte Stube. Die Einrichtung war einfach aber doch sehr wohnlich; zwei große Tische mit Stühlen befanden sich mitten im Zimmer, an den Wänden standen Regale mit Büchern. Ein einziges Bild hing an der einen Wand; es war eine Zeichnung, die den alten Jolivet darstellte. Ein Cowboy hatte sie seiner Zeit in seinen Mußestunden angefertigt; und sie war wirklich gut getroffen, das mußte man sagen. Man sah die vielen Falten, die das Leben wie Kerben in das Gesicht Jolivets eingeschnitten hatte. Ruhige, kluge Augen blickten einen an, die im Leben eine solche Macht über jeden gehabt hatten.
Überall hatte große Trauer geherrscht, als der alte Jolivet starb, denn nicht nur seine Boys hingen an dem Alten, sondern die ganze Gegend verehrte ihn. Wie alt er eigentlich war, hatte niemand gewußt; schon die Ältesten erinnerten sich seiner. Erst nach seinem Tode stellte man an Hand der Papiere fest, daß er achtundneunzig Jahre alt geworden war. Mancher war doch überrascht, als er das Alter erfuhr, denn angesehen hatte es ihm niemand. Noch bis zuletzt war er geistig und körperlich rüstig. Ein Segen war er für die Gegend gewesen. Außer, daß er durch Bewässerung weite Strecken des Landes fruchtbar gemacht hatte, gab es kaum einen, der an seine Tür geklopft, und dem er nicht geholfen hätte.
Eine besondere Passion hatte der Alte. Er suchte sich stets als Cowboys Leute aus, die entweder bis dahin ein abenteuerliches Leben geführt hatten, oder er zog junge Kerle an sich heran, die allein im Leben standen, und deren Väter Berufsschützen gewesen, sodaß ihnen ihr Weg beinahe vorgeschrieben war.
Es war merkwürdig; Jolivet gelang es, die größten Rowdies zufrieden zu machen, und so mancher war von ihm gegangen, hatte sich seßhaft gemacht und eine Familie gegründet. Es waren im Laufe seines langen Lebens unendlich viele gewesen, denen er so geholfen und zu einem stetigen Leben zurückgeführt hatte.
Hätte Oliver Jolivet zu seinen Lebzeiten einmal zu seiner Verteidigung aufgerufen, wären wohl von weit und breit Männer herbeigeströmt, die gern und willig ihr Leben für ihn hingegeben hätten. – Man munkelte, daß Jolivet in seiner Jugend ein Draufgänger gewesen sei, und daß ihn ein schweres Erlebnis zu dem ruhigen Mann, als den sie ihn alle kannten, gemacht hatte. Man sah ihn nie mit Revolvern, trotzdem das Gerücht ging, daß der Alte vortrefflich schieße. Jeden Sonntag veranstaltete er mit seinen Jungen ein Preisschießen, und es waren immer schwerere Aufgaben, die er ihnen stellte.
Keiner hatte sie je alle lösen können – bis auf Jed. Dann leuchteten des Alten Augen vor Vergnügen, und mit Stolz sah er auf Jed Corner. Ob er deshalb oder aus einem anderen Grunde Jolivets Liebling geworden war, war nicht festzustellen. Jedenfalls hatte er eine besondere Stellung bei ihm eingenommen, sodaß alle in dem Glauben gelebt hatten, Jed Corner werde Oliver Jolivets Erbe werden.
Das Testament, das bei Rechtsanwalt Dr. Britton in der Hauptstadt hinterlegt worden war, hatte allen Überraschungen gebracht. In einem kurzen Schreiben an Jed Corner hatte Dr. Britton nur mitgeteilt, daß der Erbe aus New York zu erwarten sei. Weiter hatte man darüber bisher nichts vernommen, vier Monate waren darüber ins Land gegangen. Und nun war heute nacht, ihnen allen unerwartet, der Erbe angekommen.
Alles in der Stube umstand jetzt in einem Kreis John Niles, der beschrieb und berichtete und aufmerksame Zuhörer besaß.
Jed Corner blieb an der geschlossenen Tür stehen und hörte zu. Niles schilderte gerade, wie die ihm anvertraute Gesellschaft den Ballsaal in Wilhelmstone betreten hatte. Jed machte eine Bewegung, als wolle er John Niles unterbrechen, verharrte dann aber ruhig, bis Niles den Mann beschreiben wollte, der auf der Schwelle des Hinterzimmers gestanden hatte. Da trat Jed heran.
»Niles,« redete er ihn an, »ist Chick Langwool hier?«
Niles sah auf. »Ja Jed!« antwortete er. Er kicherte. »Der Teufelskerl hat gleich eine Eroberung gemacht und zwar bei Eurer neuen Herrin. Jungen, ich kann Euch sagen, sie hat ihn mit ihren Augen fast verschlungen und wollte durchaus mit ihm tanzen, um einen der mitgekommenen Gents vor Chicks Prügel zu bewahren. Die kleine Kröte Helen Meßter entführte ihn ihr aber. Ich muß Euch sagen, Jungen, alle Achtung, wie die mit dem halbbetrunkenen und streitlustigen Chick fertig wurde!«
Die Cowboys wollten noch Fragen stellen, als sie eine scharfe Stimme unterbrach.
»Es wäre jetzt besser, wenn Ihr Euch zur Ruhe begeben wolltet, Niles, als hier Geschichten zu erzählen! –
»Und Ihr, Jungen, hört zu: Butt Allies übernimmt erst einmal drüben die Küche. Wir besprechen nachher noch, was angeschafft werden muß. Smith, Ihr werdet nach Wilhelmstone reiten und alles, was gebraucht wird, einkaufen. Und Ihr beiden«, er wies auf zwei andere Boys, »folgt mir jetzt ins Haus. Dort werden wir zunächst aufräumen; aber seid leise dabei. Ihr übernehmt von nun ab vorerst die Bedienung drüben.«
Kein Murren wurde laut; alle gingen schweigend auseinander. Sie wußten; sprach Jed Corner in diesem Ton und stand die steile Falte zwischen seinen Brauen, war mit ihm nicht gut Kirschen essen. Aufmucken gab es bei ihm nicht.
Auch Niles stand gehorsam auf; er ging in einen der Nebenräume des Hauses, wo die Schlafstellen der Cowboys verteilt waren, und warf sich auf eine derselben, um schnell noch eine Stunde zu schlafen. Die Uhr zeigte jetzt auf drei. Bald würde es ganz hell sein …