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Achtundzwanzigstes Kapitel: In der Fremde

Lotte Matersen schrieb an Leonore Menkhausen: Liebste Nell!

Nun ist es wirklich Wahrheit geworden; ich bin in Hamburg und habe eine Stelle, bin das »Fräulein« bei Konsul Ohlstedt. Wenn du wüßtest, wie mir zumut ist! Da ich es aber selber eigentlich nicht weiß, werde ich es Dir auch schwerlich klarmachen können. Also wird es am besten sein, ich halte mich gar nicht erst lange mit Gefühlsäußerungen auf, sondern lasse alles sich »historisch entwickeln«, wie wir im Seminar zu sagen pflegten.

Also: Vorgestern nachmittag kam ich an. Nachdem ich unterwegs merkwürdig ruhig gewesen war, geriet ich doch in ziemliche Aufregung, als der Zug in den Riesenbahnhof einfuhr. Würde man mich auch abholen, wie versprochen war? Würde man mich hier überhaupt finden?

Ich ließ, wie verabredet, mein Taschentuch zum Fenster hinausflattern, und dies gar nicht so ungewöhnliche Zeichen fand gleich Beachtung, als ich in Lebensgröße hinter dem fliegenden Fähnchen auftauchte.

Ich entdeckte sofort zwei halbwüchsige Knaben, die sich auf etwas aufmerksam machten. Sie standen da wie kleine Herren, hatten den Diener hinter sich, und sofort trat der kleinere der Brüder auf mich zu.

»Harald Ohlstedt, jüngster Sohn vom schwedischen Konsul,« sagte das reizende Bürschchen, das ich etwa zwölfjährig schätzte. Jetzt kam auch der Ältere heran und nannte sich. »Fabelhaft gewandt,« dachte ich und fragte dann rasch, als ich das Wort Droschke hörte, das an den Diener gerichtet war: »Ist der Weg denn so sehr weit, daß wir fahren müssen? Ich würde sonst sehr gern gehen.«

»Es dauert eine halbe Stunde,« sagte der Ältere zurückhaltend, »wenn es Ihnen nicht zu weit ist?«

Aber der Kleine puffte ihn verstohlen und versicherte in sehr hörbarem Flüsterton: »Du, die ist ja jung – die kann es natürlich!« Als er merkte, daß ich es gehört hatte, fuhr er treuherzig fort: »Unsere alte Mademoiselle klagte immer gleich über ihre Füße; aber Sie – Sie können gewiß noch fein laufen!«

Dieses »noch« fand ich wieder köstlich und versicherte sofort, ich könnte laufen und springen und sogar noch spielen! Ob das sehr pädagogisch war, weiß ich nicht, aber ich konnte nicht anders. Der kleine Herr faßte denn auch sogleich zutraulich meine Hand, während Georges mit ernster Höflichkeit meinen Gepäckschein verlangte und den Diener anwies mit der Sicherheit eines Alten.

Dann brachen wir auf, im hellen kalten Sonnenschein des Februarnachmittags, ich zwischen den Brüdern, die nun beide mit gleicher Lebhaftigkeit auf mich einsprachen und mir ihr Hamburg vorstellten. Sie erklärten alles, was wir sahen, und noch vieles dazu, was für heute noch gar nicht in meinen Gesichtskreis kommen konnte, (es wirbelte schließlich nur so in meinem Kopfe von Straßen und Gebäuden – Binnenalster und Butenalster, Lombardsbrücke, Hafen Bastion mit dem Bismarck – Rathaus und Börse, Uhlenhorst und Blankenese –

Du denkst gewiß, Nell: »Wollten denn diese Jungen die Lotte gleich totmachen?« Nun, gesehen habe ich das natürlich nicht alles auf diesem ersten Gang, aber genannt und beschrieben wurde mir noch viel, viel mehr! Echte kleine Hamburger mit dem ganzen Stolz auf ihre schöne großartige Heimat! Denn den habt ihr doch alle, meine liebe Nell, nicht wahr?

Plötzlich hieß es dann: »Jetzt sind wir da!« und mir fiel alles wieder ein, was ich auf diesem vergnüglichen Gang fast vergessen hatte.

Das große schöne Haus, das wir nun betraten, brauche ich Dir ja nicht zu beschreiben, aber es wird Dich freuen, daß ich gleich im Treppenhaus etwas so Liebliches sah; nämlich wie die kleine Sigrid Ohlstedt da herumturnte, über das Geländer sah und ihre Locken schüttelte. »Sprichst du Deuts?« fragte sie dann gleich, sowie ich herankam, und als ich eifrig bejahte, fuhr sie etwas bedenklich fort: »Aber mit uns mußt du wohl Französis sprechen, denn wir dürfen das nicht verlernen, sagt Mama.« Rasch beugte ich mich herab und sagte: »Ja, Mignon!« Da lachte sie, als ob sie es gut verstehe, sah mich lieb an und antwortete: »Du bist hübs, gar keine alte Mademoiselle!«

Da ging eine Tür; der Diener kam und meldete: »Frau Konsul erwarten das Fräulein.« Wieder erschrak ich, denn ich hatte mich hier gewiß schon zulange aufgehalten.

Jetzt wurde es endlich Ernst mit der Geschichte!

Weißt Du, Nell, so gemütlich und mütterlich freundlich wie Deine Tante Fedders dachte ich mir ja Frau Ohlstedt nicht gerade, aber so »erhaben« doch auch nicht!

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Ich ließ, wie verabredet, mein Taschentuch flattern.

Sie sah im Sofa und deutete auf einen Stuhl ihr gegenüber. Als ich da glücklich sah, begann sie gleich: »Sie sind mir sehr empfohlen, Fräulein. Ich hoffe, Sie werden die Worte meiner Schwägerin Fedders rechtfertigen und mir eine Hilfe sein, bei den Kindern und überall im Hause. Ich schrieb Ihnen schon, worauf es mir besonders ankommt: Körperpflege und Kleidung der jüngsten Kinder mit peinlicher Genauigkeit überwachen, meiner ältesten fünfzehnjährigen Tochter geistige Anregung und gelegentlich Nachhilfe bei ihren Studien gewähren; bei den Knaben den Übermut zügeln und doch gelegentlich einen Scherz verstehen, damit ein heiterer Ton in meiner Kinderstube herrscht.«

Sie machte eine kleine Pause und ich schöpfte einmal tief Atem, weil diese lange Rede mich etwas benommen hatte. Frau Konsul hielt es vielleicht für einen Seufzer und fuhr in etwas anderem Ton fort: »Ich hatte bisher eine ältere, erfahrene Persönlichkeit, Schweizerin aus der Gegend von Genf, im übrigen äußerst brauchbar, nur fehlte das rechte Verständnis für die Kinder. Die täglichen Klagen von beiden Seiten hatten etwas Aufreibendes für mich. Wenn ich es heute mit einem so jungen Mädchen versuchen will, so weiß ich, daß Ihre Leistungen nicht sofort denen jener erfahrenen Mademoiselle gleich sein können, daß Sie erst allmählich in den Pflichtenkreis hineinwachsen werden, der sich mit Worten nur schwer ganz genau umgrenzen läßt. Ich hoffe aber – es ist Ihnen recht ernst damit. Bei uns in Hamburg hat man es sehr gern, wenn der Platz, den Sie jetzt einnehmen werden, auf viele Jahre von derselben Dame besetzt ist, die dann eine Vertrauensperson für das ganze Haus wird. Ich hatte bis jetzt nicht das Glück, eine solche an mein Haus zu fesseln; es wäre mir lieb, wenn es mir in Ihnen gelänge, Fräulein.«

Jetzt erst reichte sie mir die Hand, und ich fühlte mich aufgenommen in dies Haus. Gesprochen hatte ich noch kaum, nur zahllose kleine zustimmende Verbeugungen gemacht. Der Dame schien das indes zu genügen, denn – soviel hatte ich bald heraus – sie spricht am liebsten selbst, die Frau Konsul Ohlstedt. Sie tut es mit einer hellen, klingenden, etwas kalten Stimme, in wohlgesetzten Worten, gegen die man nichts einwenden könnte, selbst wenn man wollte.

Jetzt bat sie mich zu klingeln, und als der Diener eintrat, hieß es: »Bitten Sie Fräulein Gudrun her; sie wird im Musikzimmer sein.«

Er kam aber gleich zurück; das Fräulein sei nicht da, es würde wohl ausgegangen sein.

»Sehr gegen meine Absicht,« äußerte Frau Ohlstedt stirnrunzelnd, und dann zu mir gewendet: »Meine Tochter hat eine sehr selbständige Natur, die es öfter einzudämmen gilt; machen Sie sich da auf einige Schwierigkeiten gefaßt, Fräulein. Meine Jüngste haben Sie bereits vorhin im Treppenhaus gesehen –«

»Ja, die ist entzückend,« brach ich jetzt zum ersten Male mit raschem Antrieb aus, und die Dame lächelte nachsichtig.

»Immer dieselbe Geschichte – das Kind wird von jedermann verzogen,« sagte sie dann. »Ich bitte Sie, nicht allzu schwach zu sein gegen den Liebreiz dieses Kindes. Ich habe noch eine kleine Tochter, die eigentlich mehr Liebe und Fürsorge braucht; sie ist verwachsen.«

Weißt Du, Nell, dies letzte war das, was mir am allerbesten gefiel von der Dame. So traurig es ist mit der Kleinen – ich wußte es übrigens ja schon von dir – der Ton, die Art und Weise, wie die stolze Frau mich darauf hinwies, nahm mich für sie ein.

Sie machte jetzt eine kleine entlassende Handbewegung und schloß: »Man wird Ihnen Ihr Zimmer zeigen – Sie haben noch eine halbe Stunde bis zum Essen. Das Gong ruft um sechs Uhr.«

Weiter kam ich gestern nicht, meine liebe Neil, aber heute nehme ich die erste freie Viertelstunde wieder für Dich, denn ich weiß, Deine Gedanken werden mich hier überall begleiten. Du darfst auch alles wissen. Mutter mag ich nicht alles gar zu genau schreiben, denn sie würde sich doch über manches sorgen und denken: Damit wird das Kind ja nie fertig!« Und Hermann – ach nein, die zu Hause dürfen noch nicht zu genau in alles eingeweiht werden! Du aber weißt hier Bescheid, wunderst dich über nichts und traust mir zu, daß ich mir die größte Mühe geben werde, alles richtig zu verstehen und selbst das Meine zu tun.

Woher ich jetzt diese kleine Pause in meinem reichbesetzten Tage habe? Ja – die Herrschaften sind bei Tisch! Die Kleinen wurden soeben hineinbefohlen, weil Besuch da ist, der die Kinder sehen möchte – so bin ich allein in meinem Stübchen und plaudere mit dir, meine liebe, gute Nell. Ohne Bitterkeit – sei ruhig – es muß nur alles gelernt werden!

Gestern schloß ich hier damit, daß das Gong um sechs rufen würde. Ich folgte ihm also und ging ins Eßzimmer hinunter, nachdem ich sehr sorgfältig noch mein Nutzeres in Ordnung gebracht hatte. Jetzt führte mir Frau Ohlstedt ihre kleine achtjährige Dagmar zu, und das verwachsene Geschöpf mit dem blassen, unkindlichen Gesicht weckte gleich meine Teilnahme, obwohl es mich nicht gerade freundlich ansah. Ebensowenig wie die große schöne Schwester Gudrun! Die Knaben dagegen machten das Recht ihrer ersten Bekanntschaft mit mir geltend und benahmen sich nett und natürlich.

Bei Tisch sah ich nun auch den Hausherrn – ebenfalls ganz anders als Deine freundlichen Onkel, – wie ich ihn mir wohl unwillkürlich gedacht hatte. Ernst und nüchtern, wenn auch nicht ungütig, erschien mir Konsul Ohlstedt, und sehr viel älter als seine Frau, die ja eigentlich noch jugendlich hübsch aussieht. Er richtete mehrmals das Wort an mich, und ich brachte es ganz gut fertig, zu antworten. Wenn man nach Land und Leuten der Heimat gefragt wird, ist es ja auch nicht schwer! Mir ging das Herz auf, als ich zum ersten Male den Klang Grünweide wieder im Ohr hatte, nachdem ich mit dem Worte eine Frage beantwortet hatte. Frau Konsul hatte noch keine derartige Frage getan; ich zweifle, ob sie eigentlich wußte, woher ich gekommen bin. Dagegen fühlte ich mich keinen Augenblick von ihr unbeobachtet. Wie ich den Kindern die Mundtücher umband, ihnen Fleisch schnitt und so weiter, das überwachte sie alles mit prüfender Miene, wahrscheinlich auch meine eigene Art und Weise, zu essen, denn ich fühlte ein paarmal so ihren Blick auf mir, daß mir der Bissen im Halse stockte. Nun, Du weißt, Nell, daß sogar eure gestrenge Zeremonienmeisterin Fräulein von Selchow früher mal sagte: »Man kann das kleine Verwaltersmädchen ruhig mit am Tisch haben, sie hat Lebensart!« So machte ich mir denn in dieser Hinsicht keine Sorgen, aß sogar mit ziemlichem Hunger; nur tat es mir leid, daß meine Nachbarin, Fräulein Gudrun, so gar zurückhaltend blieb.

Die Mutter hatte uns ungefähr so aufeinander gewiesen: »Liebe Gudrun, Fräulein Matersen wird dir gewiß gut in all deinen Studiengängen folgen können, da sie selbst noch vor kurzem in der Klasse saß.« Hieran hätte sich ja nun so nett anknüpfen lassen, aber das junge Mädchen sah nur hochmütig über mich weg; so schwieg auch ich, recht ungeschickt. Endlich, nach einem auffordernden Blick des Vaters, entschloß sie sich zu der Frage: »Hatten Sie dort in der kleinen Stadt überhaupt ein Lyzeum mit Oberlyzeum?« Ich bejahte und wollte einiges Weitere darüber sagen, doch sah sie schon wieder so gleichgültig gelangweilt aus, daß ich rasch innehielt und mich zu der kleinen Sigrid wandte, die noch eine Feige zum Nachtisch erbetteln wollte. Ich gab sie ihr nicht, denn ich hatte gesehen, daß die Mutter eben dasselbe der kleinen Dagmar abschlug. Ein gnädiger Blick traf mich, daß ich dem kleinen süßen Schelm gleich tapfer widerstand. Als wir darauf von Tisch aufstanden, sagte Frau Ohlstedt: »Heute haben wir alle zusammen gespeist, damit wir uns ein wenig kennen lernten. Ich finde aber diese späten Tischstunden, die bei uns in Hamburg nun einmal unerläßlich sind, für jüngere Kinder nicht zuträglich und bitte Sie, von morgen an mit den Kleinen um zwei Uhr zu essen.«

Wieder verbeugte ich mich stumm. Was konnte ich dagegen haben, daß man Kindern nicht abends zwischen sechs und sieben Uhr den kleinen Magen mit Braten und Fisch und süßen Speisen überladen will? So bin ich also an diese Speisestunde nicht mehr gebunden, und nur diesem Umstand verdanke ich es, daß ich Dir schon diesen langen Brief schreiben konnte, meine gute Nell.

Nun nochmals zurück zum ersten Abend! Ich wurde in das Kinderzimmer geführt und mit allen Einrichtungen desselben vertraut gemacht. Die kleinen Luftfenster, die je nach dem Wetter zu öffnen und zu schließen sind, fand ich sehr nützlich, und entzückend geradezu die blanken Hähne über dem Waschtisch, die kaltes und warmes Wasser geben! Dann wurden mir alle Geräte vorgeführt, jeder Kamm, jede Bürste, Schwämme und Tücher. Als dann noch die Badestube besichtigt war, glaubte ich wirklich, es sei für heute genug. Aber da meldete das Mädchen: »Der Waschmann ist da.«

»Ach,« seufzte Frau Konsul, »gerade heute noch so spät? Das tut mir leid, Fräulein; Sie sind gewiß müde, aber ich will Ihnen nur mal eben zeigen, wie es damit hier gehalten wird.«

Es ging nun ins Schrankzimmer, wo die mächtigen Schränke für Kleider und Weißzeug stehen, und wo eben der Waschmann wahre Riesenkörbe mit schneeweißer Wäsche abgesetzt hatte.

»Heute zählen wir nur,« hieß es jetzt, und die Dame fing an, von dem Inhalt der Körbe auf den großen Tisch zu legen, wobei sie nach einer Aufzeichnung verglich und dann weiter erklärte: »Künftig werden sofort alle Stücke auf ihre Schäden geprüft und Kleinigkeiten ohne Verzug ausgebessert, wobei, wenn nötig, das Kleinmädchen hilft, damit möglichst bald alles in die Schränke kommt. Stücke, die größerer Ausbesserung bedürfen, werden zurückgelegt und an einem dazu bestimmten Tage vorgenommen. Nebenan ist das Nähzimmer. Da hat man alles hübsch beisammen.«

»Da fange ich also morgen damit an, diese Wäsche durchzusehen und für den Leinenschrank fertig zu machen,« sagte ich, um doch nicht immerfort stumm zu bleiben.

»Jawohl, Fräulein, nachdem Sie mit den Morgengeschäften fertig sind. Also Anziehen und Frühstück der Kinder, Kaffee und Tee für meinen Mann und mich – verstehen Sie, Toast zu rösten?«

Ich verneinte betrübt, aber schon ging es weiter: »Ich zeige es Ihnen, auch wie wir gewöhnt sind, die Eier zu essen. Vor Tische haben Sie die Tafel nachzusehen, ob gut gedeckt ist, ob Wein und Früchte auf der Anrichte stehen und Blumen in den Vasen zu erneuern sind. Nach Tisch machen Sie den Kaffee, abends später noch einmal Tee. Morgen zeige ich Ihnen alle Schlüssel und sage Ihnen noch Einzelheiten; heute scheinen Sie mir schon etwas müde, Fräulein!«

»Schon?!« dachte ich, ein klein wenig empört. Ich konnte mich kaum mehr auf den Füßen halten, und die Augen wollten mir zufallen.

»So ziehen Sie sich nur zurück; die Kinder können heute noch einmal vom Hausmädchen zu Bett gebracht werden. Gute Nacht, Fräulein.«

»Gute Nacht, Frau Konsul,« sagte ich und verbeugte mich zum letztenmal.

In meinem Zimmer sah ich nichts mehr an; ich wollte sofort die Kleider von mir werfen und ins Bett schlüpfen. Da fiel mir ein – ging denn das? Ich schlief ja bei den Kindern, und die wurden eben erst zu Bett gebracht! Es war auch gar nicht spät, erst eben acht Uhr! War das möglich? Mir schien er endlos, dieser Tag, vor allem die Unterweisungstunden, die sofort mit meinem Eintritt in dies Haus begannen.

Nun sah ich mich doch in dem kleinen netten Zimmer um, in dem ich allerdings nicht schlafen, aber meine Sachen aufbewahren und mich gelegentlich aufhalten kann. Am Fenster steht eine Nähmaschine; also ich darf auch hier arbeiten, nicht bloß im allgemeinen Nähzimmer, wo auch die Mädchen sitzen.

Jetzt wurde es still nebenan. Der kleine Kampf der Kinder mit dem Stubenmädchen hatte aufgehört: bloß noch ein Getuschel von Bett zu Bett war zu hören.

Als ich nun eintrat, stand in dem einen Bett eine Gestalt im langen Nachthemd aufrecht, und die kleine Sigrid zwitscherte mich an. Dagmar aber klagte: »Sie will nicht schlafen, und sie hat nicht gebetet, und es ist doch schon so spät!« Das klang weinerlich. Ich setzte mich zu der kleinen Verwachsenen aufs Bett, nicht achtend der Arme, die Sigrid nach mir ausstreckte, indem sie sagte: »Ach, Dagmy ist immer müde! Die hört doch nicht zu, wenn du noch mit ihr sprichst – komm hierher, Fräulein, und erzähl' mir was.«

Ich blickte auf Dagmar. Die lag ganz still mit geschlossenen Augen, aber sie hielt meine Hand fest und zuckte, sowie ich sie lösen wollte. Da küßte ich sie leise auf die Stirn und sagte: »Nun schlaf, liebes Kind; morgen spielen wir schön zusammen.« Da machte sie noch einmal die Augen auf, sah mich mit einem ungläubigen Blick an und ließ mich los. Ich steckte jetzt schnell Klein-Sigrid wieder ins Bett, wogegen sie sich noch ein paarmal wehrte; während ich endlich anfing, mich auszukleiden, rief sie mir noch fortwährend zu: »Beten! Ich habe noch nicht – mit Sophie mag ich nicht – bet du mal, Fräulein! Dagmy kann allein; du mußt mit mir beten – ich bin die Kleinste!«

Also, man war sich seiner Machtstellung genau bewußt: die Kleinste, der Verzug! Ich fürchte, das wird nicht so einfach für mich werden! Weiß ich doch gar nicht, ob ich überhaupt erzieherisches Geschick habe. Mit süßen, anschmiegenden Kindern umgehen, dachte ich mir immer beglückend, und gegen ein armes, von der Natur karg bedachtes Geschöpf gut sein, das ist doch wohl das Natürlichste von der Welt! So denke ich, ja – aber wieviel mag dazu gehören, alle guten Vorsätze durchzuführen! Ich betete recht aus tiefstem Herzen, als ich endlich im Bett lag; dann tat ich alle Gedanken ab und – schlief...

Liebe Nell, getreulich komme ich wieder zu Dir mit meinen Erlebnissen, denn es ist ja Hamburg, wo ich nun leben soll! Hamburg, das mich so sachte, sachte wohl ganz hinnehmen wird!

Schon jetzt spüre ich so etwas, ich dürfte nichts anderes denken, als »wie es bei uns in Hamburg Sitte ist!« Dies ist nämlich bei allem das dritte Wort von Frau Konsul.

O Nell, der Tag meiner Ankunft schien mir schon so riesig lang! Ich begriff abends nicht mehr, daß ich am Morgen noch in Grünweide gewesen war und in Muttchens kleinem Schlafzimmer von der Guten Abschied genommen hatte! Aber was der zweite Tag alles in sich barg, das war derartig, daß ich mich alle Augenblicke fragte: »Ist es immer noch heute?« Dabei will ich gar nicht behaupten, daß es zu viel ist, was man von mir erwartet! Man kann das gewiß alles mit der Zeit leisten; nur das Neue ist so überwältigend. Das riesige Haus, in dem ich noch immer neue Räume entdecke, die vielen Leute, die andersartige Tageseinteilung, und dann die Kinder auf Schritt und Tritt neben mir! Heute hat sogar Harald mit uns im Spielzimmer gegessen. Er sagte: »Bei den Großen ist es so langstielig, besonders, wenn die alten Tanten da sind – und essen darf man ja doch nicht von allem. Aber es geht nur heute; sonst bin ich ja um diese Zeit immer in der Schule. Darf ich Ihnen nachher mal meine Schulbücher zeigen, Fräulein?«

Wir haben dann wirklich etwas zusammen gearbeitet, und ich hatte wieder das Vergnügen, zu hören: »Fein, daß Sie so jung sind, Fräulein! Die Alten rechnen immer auf ganz andere Art; die können einem nie helfen. Verstehen Sie am Ende auch Mathematik?« Als ich bejahte, klatschte er vor Vergnügen in die Hände und erzählte: »Gudrun lernt es auch, aber sie mag nicht und gibt sich gar keine Mühe – hat überhaupt böse Nummern im Zeugnis – ich dachte, alle Mädchen machten das so! Hatten Sie immer feine Nummern, Fräulein?«

Ich mußte nun bekennen, daß drei auch nur das übliche bei mir gewesen sei, bloß einmal zwei bis drei. Doch das fand mein junger Freund schon wieder »fein« und ich stieg noch ein wenig in seiner Achtung.

Das Arbeiten mit ihm machte mir Spaß. Er ist so hell, munter und eifrig dabei; aber Frau Ohlstedt sagte mir später, nötig sei es nicht, daß ich mich um Haralds Arbeiten kümmere, lieber um Georges. Da merkte ich, daß der Vierzehnjährige, dem ich bald eine gewisse Schwerfälligkeit anmerkte, diese auch beim Lernen zeigte, besonders bei den fremden Sprachen. Nun, das war ja meine Vorliebe in der Schule; da will ich mich gern nützlich machen.

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Lotte Matersen richtete an Leonore Menkhausen einen umfangreichen Brief.

Was ich aber mit Gudrun anfangen soll, weiß ich wirklich nicht. Bis jetzt glitt jeder Annäherungsversuch von meiner Seite an ihr ab. Nur einmal haben wir auf Bestimmung der Mutter zusammen vierhändig gespielt, und ich wunderte mich über ihre Fertigkeit. Ich kannte die Sachen nicht, war also im Nachteil, da ich vom Blatt spielen mußte. Aber es ging recht gut, denn meine Lehrerin legte darauf immer besonders viel Wert. So machte es mir Vergnügen, und ich geriet ganz in Eifer. Da sah Gudrun mich etwas spöttisch von der Seite an und sagte: »Sie glühen ja förmlich! Übrigens – diese Sachen sind langweilig und eigentlich zu leicht für mich. Ich müßte sowieso Noten wechseln. Mama, kann ich wohl gleich in die Musikalienhandlung gehen?«

Frau Konsul saß nämlich zuhörend bei uns, und ich hatte einmal einen sehr freundlichen Blick von ihr aufgefangen; sie war also zufrieden. Jetzt sagte sie: »Wenn Fräulein dich begleiten will, Gudrun, darfst du gehen. Wie ist es, Fräulein, haben Sie Zeit?«

Sieh, in dieser Art überrascht sie mich öfter! Ich habe nicht für jeden Augenblick genaue Befehle; ich muß selber wissen, wie ich mit der Zeit und meinen Arbeiten auskomme. Aber das gefällt mir eigentlich.

Ich sagte also, daß ich gern gehen würde, und daß Georges erst in einer halben Stunde mit seiner englischen Arbeit zu mir kommen wollte. »Nun, wenn der auch ein wenig warten müßte,« warf Gudrun übermütig ein. Dann machten wir uns rasch fertig. Ich war diese Tage ja immer mittags mit den beiden kleinen Mädchen spazieren gegangen, aber nur in den schönen Anlagen unweit unseres Hauses, weil ich doch noch nicht weiter Bescheid weiß; Harald hat sich schon erboten, er müsse mich wohl einmal führen und mir die besten Wege und Verbindungen in der Stadt zeigen. Mit der ältesten Tochter war ich bisher noch nie unterwegs.

Sie schlug gleich einen sehr schnellen Schritt an und sagte: »Wir wollen mal an der Alster entlang gehen; ich muß ja doch nach dem Jungfernstieg wegen der Noten.«

Es war noch etwas hell, denn die Tage nehmen jetzt schon merkbar zu, aber die Straßenbeleuchtung strahlte bereits und spiegelte sich herrlich in dem schönen Alsterbassin, von dem Du, liebe Nell, so oft gesprochen hast. Wie wunderhübsch ist das, mitten in der Stadt solch große weite Wasserfläche, und ringsum die prachtvollen Straßen! Dann diese Läden, diese tausenderlei Herrlichkeiten!

Ich war ein paarmal versucht, stehen zu bleiben, denn mir ist so etwas völlig neu; aber da sagte Gudrun wieder spöttisch: »Ja, Fräulein, das geht hier nicht! Sie waren wohl noch nie in einer großen Stadt?«

Weh, o weh, ich war dieser jungen Dame zum Schutz beigegeben und mußte mich von ihr unterweisen lassen! Ich gestand schnell zu, daß ich noch keine größere Stadt kannte als die Residenz unseres kleinen Landes, und daß ich Hamburg so wundervoll finde. Das nahm sie denn doch gnädig auf und bestätigte: »Ja, es ist auch schön; Berlin hat mir nicht halb so gefallen.«

»Oh, Sie kennen Berlin auch schon?«

»Ja natürlich, Dresden auch; das ist nett, aber Kleinstadt gegen Hamburg.«

Ich staunte über diese Unterhaltung der Fünfzehnjährigen. In der Musikalienhandlung trat sie aber auch mit der Sicherheit einer Dame auf und trieb die jungen Leute nur so hin und her. Als sie gar zu viel Noten ausgesucht hatte – es waren auch zwei schwere Klavierauszüge darunter – befahl sie, daß man das Ganze schicken solle, obgleich ich dachte, wir hätten uns in die Last teilen können.

Als wir eben wieder die Straße betraten, stand plötzlich Dein Onkel Röding vor uns. Ich freute mich dermaßen über das erste bekannte Gesicht, daß ich gar nicht anders konnte, als die Hand ausstrecken. Er schüttelte sie mir auch freundschaftlich und sagte auf seine lustige Art: »Sieh, sieh, das kleine Fräulein aus Grünweide freut sich beinahe zu dem alten Onkel! Na, wie geht's denn in Hamburg? So eine grüne Weide ist das hier wohl nicht wie da draußen. Na, hab' mich gefreut – auf Wiedersehen, Kinderchen!« Er hatte einen Bekannten erblickt und war weg.

»Woher kennen Sie denn Konsul Rüding?« fragte Gudrun verwundert.

»Durch meine Freundin Leonore Menkhausen,« sagte ich mit freudigem Nachdruck; aber sie tat gleichgültig und entgegnete mir: »Sie soll ja so sonderbar geworden sein, die Elinor – nichts als Landwirtschaft im Kopfe – immer von Gänseschlachten und Wurststopfen sprechen und schon ganz häßliche Hände haben. Ich täte so was nie – igitt!«

Bei diesem echt Hamburgischen Ton des Abscheus mußte ich so an Dich denken, meine Nell! Ich wollte Dir früher immer diesen Ausdruck abgewöhnen, weil ich ihn häßlich fand – jetzt brauchst Du ihn, glaube ich, nie mehr – aber dann besann ich mich schnell, daß ich Dich verteidigen mußte, wenn man Deine Absichten und Deine gegenwärtigen Neigungen lächerlich machte. Ich sagte also: »Meine Freundin ist so geartet, daß sie alles, was sie anfängt, ganz tut, mit vollem Ernst, und ich glaube, das kann man nur loben – meinen Sie nicht?«

»Na ja, meinetwegen! Sie geraten ja förmlich in Harnisch, Fräulein; mir ist das, was Elinor treibt, völlig gleichgültig. Bei uns in Hamburg hat man eben andere Interessen.«

So, da hatte ich's und nahm mir vor, mit diesem ungezogenen Backfisch gar nicht wieder von meiner lieben guten Freundin zu sprechen!

15. Februar.

Heute wurde ich in das Empfangszimmer gerufen, es sei Besuch da, der mich zu sehen wünschte, und als ich sehr gespannt eintrat, saß da Deine Tante Fedders. Oh, wie ich mich freute! Ich lief förmlich auf sie zu und küßte ihr die Hand. Sie nahm mein Gesicht in die Hände und sagte sehr freundlich: »Ich muß doch mal nach Ihnen schauen, liebes Fräulein – freue mich, daß Sie munter aussehen! Vetter Rüding erzählte es mir auch schon. Eben habe ich meine Schwägerin gebeten, daß sie Sie einmal mit den Kindern zu mir schickt – nicht wahr, Sie kommen? Dann wollen wir uns von Grünweide und unserer lieben Nelli erzählen!«

Oh, wie mich das freute! Mir ging völlig das Herz auf. Aber ich sah mich doch verstohlen nach Frau Ohlstedt um, ob sie ihr »Fräulein« nicht zu ungebunden lebhaft finden würde. Denn nach alledem, was die liebe Frau Senator berührte, hatte sie mich noch nie gefragt.

Aber sie sah recht freundlich aus, wenn auch etwas kühl, wie immer; ein bißchen wirkliche Teilnahme an dem, was ich sprach, hatte sie sicher nicht. Doch das kann ich ja auch gar nicht verlangen. Wenn ich wirklich lange Zeit hier im Hause bleiben sollte, mag es vielleicht ein bißchen anders werden; Du hast mir das ja gleich gesagt, Neil, daß man hier nicht so schnell warm werden würde. Du bist überhaupt eine kluge Deern und hast mich auf manches sehr gut vorbereitet.

Auch auf die übermütigen Backfische, von denen ich gestern eine Menge kennen lernte, als Gudrun ihr Kränzchen hatte, und bei denen die Redensart »bei uns in Hamburg« oder »wir Hamburgerinnen« blühend im Gange war! Ich blieb bloß kurze Zeit dort, da Gudrun ihren Freundinnen allein den Kaffee auftragen und möglichst ungestört mit ihnen bleiben wollte. Ich mußte nur später die süße Speise bringen, hauptsächlich weil die Kleinen so »schrecklich gern« einen Augenblick zu den Großen wollten. Darum wünschte die Mutter, daß ich aufpaßte, daß man die Kinder drinnen nicht mit Süßigkeiten überfüttere.

Die Gefahr lag allerdings für Sigrid sehr nahe, denn das reizende Geschöpf ging gleich von einem Schoß auf den anderen und ließ sich gehörig verziehen, nicht aber ohne wählerisch zu sein, denn ich bemerkte wohl, wie sie hauptsächlich den Größten und Hübschesten zugetan war. Sie hat eine Art, sich einzuschmeicheln und ihre kleinen Künste anzubringen, die leider etwas so Bewußtes aufweist, daß es auf mich gar nicht mehr wirkt. Ich bin daher auch nicht mehr in Versuchung, ihr alles durchgehen zu lassen, sondern war schon ein paarmal ganz strenge, daß sie mich höchst erstaunt mit ihren großen schwarzen Augen ansah.

Hier in diesem Kreise mußte ich sie wohl gewähren lassen, behielt aber immer die Uhr im Auge und wollte sie in einem Augenblick wieder mitnehmen, als es ihr entschieden gar nicht paßte. Sie schlang ihre Arme fest um den Hals der großen schönen Marikita Stomarschen, die etwas Spanisches hat, und bettelte: »Ich will bei dir bleiben, Marikita – du bist hübsch – guck aber, ich hab' ebenso schwarze Augen wie du! Fräulein, geh du doch nur fort – ich brauch' dich nicht! Geh doch!«

Ich war erschrocken; so war die Kleine mir noch nie begegnet. Dazu lachten die jungen Damen, als wäre es ein köstlicher Witz, worauf die Kleine immer übermütiger wurde. Dagmar stand still neben mir, hielt mein Kleid und bat leise: »Komm doch, Fräulein!«

Ich faßte mir ein Herz und sagte: »Bitte, Fräulein Gudrun, sind Sie so gut, Sigrid in ein paar Minuten ins Kinderzimmer zu bringen, wie Ihre Frau Mutter es wünscht.«

Ungnädig sah Gudrun mich an. »Nehmen Sie die Krabbe doch selbst, Fräulein; sie muß Ihnen ja folgen. Wir wollen jetzt sowieso weiterlesen. Kita, laß die Lütte los!«

Noch ein kleiner Kampf, dann hatte ich meine widerspenstige Prinzeß und entführte sie ins Kinderzimmer, wo sie mir aber an diesem Abend das Leben immerhin etwas schwer machte.

Ich beschäftigte mich nunmehr mit Dagmar, die jetzt schon eher Zutrauen zu mir faßt, weil sie merkt, daß ich Sigrid nicht blindlings vorziehe, wie die meisten sonst. An diesem Abend flüsterte sie mir sogar zu, als sie schon im Bett lag: »Hast du mich ein bißchen lieb?« Ich küßte sie herzlich und hätte ihr gern noch etwas gesagt, wurde aber abgerufen, da Mademoiselle Marong gekommen sei, um Fräulein Marikita abzuholen. Unten im Dienstbotenzimmer waren schon mehrere Mädchen und Diener versammelt, die zum Abholen der jungen Mädchen kamen. Die Mademoiselle wurde an mich gewiesen; das war ganz natürlich.

Ich ging in mein kleines Wohnzimmer nebenan und freute mich, daß ich dort so nett jemand empfangen kann. Ein ältliches Persönchen wartete da auf mich, klein, mager, mit dunklen Augen im gelblichen Gesicht. Mit großer freundlicher Lebendigkeit begrüßte sie mich, um schon nach den ersten paar Worten in den Ruf auszubrechen: »Aber, Sie armes Kind, Sie sind ja viel zu jung für solche Stellung! Wie wollen Sie denn damit fertig werden?« So verzweifelt sah sie dazu aus, daß ich dachte, so habe sich doch noch niemand um mich gesorgt.

Beruhigend drückte ich ihr die Hand und sagte lachend: »Ich werde ja jeden Tag älter!«

Nun zeigte sie alle ihre Zähne und versetzte sichtlich erleichtert: »Oh, Sie sind lustig? Das ist gut! Dann hat man es leichter, und die Kinder lieben einen mehr!« Darauf seufzte sie wieder. »Ich – ich war immer traurig, als ich zuerst hierher kam, so weit ab von allen – oh mon pays

Ich fragte nach ihrer Heimatgegend, und wie lange sie nun schon fort sei.

»Dreißig Jahre!« sagte sie, »davon zwanzig Jahre in Hamburg! Das ist etwas!«

Ob sie die Heimat nun nicht bald wiedersehen werde für immer?

» Oh non, non – es geht nicht – es ist noch nicht genug! In meiner Heimat – meine Leute sind nicht reich, Jeanette muß Ersparnisse heimbringen. Darauf warten sie!«

Ich wurde ganz still. Dreißig Jahre gedient in der Fremde, und noch nicht genug Ersparnisse!

O Neil, ich war doch wohl recht kindlich, als ich dachte, wenn ich nur eine Stelle annähme, damit würde meinem Bruder geholfen! Es wird sicher noch lange dauern, bevor er etwas davon bemerkt. Aber immerhin: mehr als tausend Mark spart er jährlich an mir, und was ich von meinem Gehalt zurücklegen werde, läßt sich ja noch gar nicht ermessen.

Mademoiselle und ich kamen übrigens recht ins Plaudern; wir gefielen, glaube ich, einander gut und bedauerten, als es draußen lebendig wurde und der Backfischkranz sich aufzulösen begann. Wir sagten uns »auf Wiedersehen« und hofften, uns einmal auf dem Spaziergang mit den Kindern zu treffen.

 

Nun bin ich bei Deinen Verwandten gewesen, liebe Nell! Heute, am Sonntag, an dem die Essensstunden anders sind, schickte mich Frau Ohlstedt mit den beiden Kleinen gegen fünf Uhr hin, mit Harald als Führer. Frau Senator nahm mich wieder so liebenswürdig auf, daß Dagmar mich einmal heimlich fragte: »Ist sie eigentlich auch deine Tante?«

Bald kam der Herr Senator und war ebenso freundlich, wie neulich Dein Onkel Röding. Es hieß nun, ich müßte eine Tasse Tee mit ihnen nehmen; da Sonntag sei, hätten wir ja alle Zeit. Die Kinder sollten sich aufmachen und Mademoiselle suchen, daß sie den Tee bereite. Sie taten es auch, so recht natürlich, wie Kinder, die des Hauses Weise kennen; selbst die stille, scheue Dagmar kam mir hier natürlicher und netter vor, als zu Hause. Tante Fedders ist eben mit jedermann auf besondere Art lieb und gut.

Deine Base Alice war leider nicht zu Hause, aber jetzt kam Mademoiselle, von den Kindern Melle genannt, an beiden Händen gehalten und gezogen. Nun, Dir brauche ich sie ja nicht zu beschreiben: nur sagen will ich, daß sie mir sehr gefiel! Freilich auch ältlich wie jene andere, die ich neulich kennen lernte, aber fein und freundlich und in ihrem ganzen Benehmen, als sie nun Tee machte und uns alle bediente, so sicher und gewandt, recht wie eine, die sich schon lange in denselben Verhältnissen bewegt hat. Ich dachte wieder: Also so kann man werden, wenn man zwanzig Jahre in demselben Hamburger Hause bleibt! Denn so lange muß diese Mademoiselle doch wohl bei Frau Senator sein, wenn sie als bonne supérieure zu Alice und Henry gekommen ist, wie sie mir erzählte.

»Jetzt wäre ich ja eigentlich längst zu entbehren,« sagte sie dann, aber der Senator fiel ein: »Nicht – gar nicht sind Sie zu entbehren! Bilden Sie dem jungen Kinde da nichts ein, sondern zeigen Sie ihm lieber, wie man es macht, bei uns in Hamburg unentbehrlich zu werden!«

Mademoiselle Melanie Amhof errötete etwas und sah vergnügt aus, ich aber dachte: »Muß ich das wirklich von ihr lernen? Ist das mein einziges Zukunftsbild?« Aber ich will nicht undankbar sein, ganz gewiß nicht!

Ich fing an, von Fortgehen zu sprechen, da wurde noch Besuch gemeldet, und wer war es, der in den Empfangsraum trat? Dein lieber Papa, meine Nell!

Oh, wenn ich mich schon zu Onkel und Tante von Dir gefreut hatte, was sollte ich nun nur machen mit dem Entzücken, das ich fühlte, da ich das liebe, gute, prächtige Gesicht Deines Vaters sah! Ganz Grünweide stand zugleich vor mir; es war mir, als müßte auch Hermann hereinkommen und vor seinem Chef stramm stehen zum Bericht, als müßte ich Deinen Vater gütig loben hören: Nun, mein lieber Matersen, das haben Sie ja mal wieder fein gedeichselt!«

Statt dessen sagte er heute: »Na, Lottekind, nu komm mal her, gib mir die Hand und sage ehrlich, wie es dir hier gefällt?«

Ich hatte Tränen in den Augen und konnte nichts anderes herausbringen, als: »Ich schreibe alle Tage an Nelli, Herr Geheimrat!« Da lachte er ein bißchen und meinte, das sei ja kein schlechtes Zeichen, wenn ich so viel Zeit und auch Lust dazu hätte. Ich sah Frau Senator an und sagte entschuldigend: »Ich habe wirklich Zeit dazu, wenn die Kinder zu Bett sind und alles für den nächsten Morgen vorbereitet ist. Auch stehe ich gern früh auf.« Frau Senator lächelte und erwiderte: »Das kennen wir von unserer Mademoiselle; die hat auch Bände von Briefen in unserem Hause verfaßt.« Worauf die Schweizerin mit raschem Aufschlag ihrer dunklen Augen gestand: »Es ist das einzige Glück zuerst in der Fremde, Frau Senator; das haben Sie immer verstanden!«

»Gewiß,« sagte diese herzlich, »aber ich weiß auch längst, daß es jetzt nicht mehr das einzige Glück für Sie ist, meine Liebe, daß Sie ebensoviel Anhänglichkeit für uns besitzen, wie wir Freundschaft für Sie.«

Das klang ja nun alles sehr hübsch und konnte mir wohl Mut machen für später, aber ich kann noch nicht immer an das »später« denken, wenn ich ein ältliches erfahrenes Fräulein sein werde, das Faktotum vom »schwedischen Konsulat«. Ich habe doch auch das Recht, an die Gegenwart zu denken, und das Recht, einmal – Heimweh zu haben!

O Nell, meine gute Nell! Diesen Abend werde ich so leicht nicht vergessen, weil sie alle so gut zu mir waren, weil Dein Papa mich »Du« nannte, und weil mir immer von Grünweide sprachen! Plötzlich sagte er aber auch: »Hör mal, Lotte, die Geschichte mit deinem Bruder paßt mir eigentlich gar nicht! Will er denn schon bald heiraten?«

»Ach nein, Herr Geheimrat,« sagte ich ganz erschrocken; da unterbrach er mich lachend.

»Na, na, Deern, so böse ist es ja nicht gemeint! Natürlich gönne ich ihm sein Glück, erst recht, nachdem er so manches bei uns hat ausstehen müssen, und die kleine Froben ist ja ein prächtiges Mädchen. Aber – ich werde sie nun eben beide los! Na, man soll nicht so selbstsüchtig sein! Hat er denn schon irgend etwas vor, dein Bruder? Eine Pachtung soll es doch sein, nicht? Oder denkt er an Eigentum?«

»Ach nein, nein,« versicherte ich wieder, »sie denken beide vorläufig nur ans Warten!«

»Na, das ist vernünftig, wird aber nicht lange vorhalten – das kennt man!«

»Ach, die Güter sind ja so teuer jetzt,« seufzte ich.

»Sind sie das?« fragte Dein Papa. »Ja, ich glaube, zu der Zeit, als ich Grünweide kaufte, waren noch günstigere Umstände. Na, nun mach' nur nicht solch betrübtes Gesicht, Kind!«

»Wer ist betrübt?« fragte da eine mir sehr bekannt klingende tiefe Stimme, und auf einmal stand Dein Vetter Albert im Kreise. »Ich wollte dich abholen, Onkel,« sagte er, und dann zu mir gewandt: »Ich hörte schon, Fräulein Matersen, daß Sie jetzt Hamburgerin sind. Sie werden Nelli vermissen, nicht wahr?«

»Ach ja,« sagte ich wieder, und mir war, als hätte ich heute jeden Satz mit »Ach« und »O« angefangen. Das war das verborgene Heimweh, das da endlich herauswollte.

Albert beglückwünschte mich noch zu Hermanns Verlobung und sagte einige freundliche Worte über meine zukünftige Schwägerin. Ich aber war nun nicht mehr zu halten; ich zog schleunigst die Kinder an und nahm Abschied.

»Können wir Sie denn so allein hinauslassen?« fragte Herr Senator. »Verirren Sie sich nicht?«

»Nein, nein,« sagte ich nun ganz kühn und ohne »Ach«. »Harald hat mich sehr genau unterrichtet, mir auch die Elektrische bezeichnet, die mich bis dicht vor unsere Türe bringt.«

Aber nun fiel dein guter Papa ein: »Ich bin doch unruhig, Kinder; solch Landfräulein ist das nicht gewöhnt – und dabei die zwei Kinder hüten – Albert, geh du mit und setze Fräulein Matersen wenigstens in die Elektrische! Dann mag es gehen. Ich bleibe gern noch eine Viertelstunde hier – wenn du dann wiederkommen willst!«

Wir, Albert und ich, plauderten vergnüglich im Gehen, bald jedoch hieß es: »Nun aber – wenn Sie fahren wollen – da hält Ihre Elektrische. Kommt, ihr kleinen Deerns!« Er hob sie in den Wagen, sagte noch: »Sieht man Sie nicht auch mal in Onkels Haus?« und dann fuhren wir ab.

Das war ein hübscher Nachmittag! Aber als wir zu Hause ankamen, war meine Frau Ohlstedt zum ersten Male recht ungnädig. Wir waren zu lange geblieben; ich war selbst erschrocken, als ich auf die Uhr sah. Die Kinder, die in der Bahn schon übermüdet schienen, tauten freilich wieder auf und erzählten lebhaft, daß es sein gewesen sei, daß Onkel Menkhausen da war, und Onkel Albert auch.

Ich weiß nicht, irgendwie war es mir unangenehm, daß die kleine Sigrid so viel von Onkel Albert schwatzte, daß er sie in den Wagen gehoben und so weiter. Frau Konsuls Gesicht wurde noch einen Grad kälter, und sie sagte: »Also, Fräulein, künftig brechen Sie früher auf, so daß Sie noch allein Ihren Weg finden können. Es sind nämlich nicht jedesmal Begleiter zur Stelle!«

Das ärgerte mich nun; ich fühlte, wie ich über und über rot wurde, leider, und Frau Ohlstedt fragte argwöhnisch: »Kannten Sie übrigens den jungen Menkhausen auch schon?«

»Gewiß,« antwortete ich ruhig, »Herr Menkhausen war ja im Herbst in Grünweide.«

»Ach ja,« sagte Frau Ohlstedt nun gedehnt, »auf jener wunderbaren Jagd, von der ja nachher alle so viel redeten. Haben Sie auch meinen Neffen Henry heute getroffen?«

Ich verneinte und gab mir dann einen Ruck; diesem Verhör mußte ich jetzt die Spitze abbrechen. So sagte ich bescheiden: »Ich bitte sehr um Verzeihung, Frau Konsul – ich begreife, daß mein Zuspätkommen Ihren Unwillen erregt, und es geschieht nicht wieder! Heute hat mich die Freude, den Vater meiner lieben Freundin Nelli zu sehen, Zeit und Stunde vergessen lassen. Wir hatten soviel zu sprechen. Aber künftig passe ich besser auf.«

Jetzt mußte ich schon ein bißchen schlucken, und meine Stimme schwankte; da rief Sigrid auch noch zum Überfluß: »Onkel Albert sagte: zu Onkel Menkhausen soll Fräulein auch kommen. Dürfen wir mit?«

»Das wird sich finden,« versetzte die Mutter kurz, und ich fühlte mich entlassen.

Ich ging mit den Kindern ins Spielzimmer, und nun brach sich ihre Übermüdung in Ungezogenheiten Bahn; ich fühlte mich sehr schuldig. Essen wollten sie nicht mehr, sich auch nicht waschen lassen, wie sonst; ihre Haarbürste warf Sigrid mir vor die Füße und rief: »Laß doch bloß mein Haar – ich will nichts mehr – ich will schlafen!« Dagmar war still und verdrossen, und was sie lange nicht mehr getan hatte, sie machte eine unkindliche Bemerkung über Mama und mich: »Ja, du, so ist es, wenn das Fräulein gezankt wird! Immer können wir auch nicht alle Schelte allein kriegen! Mama war sehr böse, am meisten, glaub' ich, wegen Onkel Albert.«

Nun hatte ich aber genug. Ich machte mich rasch davon, ging in mein kleines Zimmer, und da habe ich bis jetzt geschrieben.

 

Es ist alles wieder gut. Frau Ohlstedt scheint mir nichts nachzutragen, und ich tue auch so, als wäre nichts vorgefallen. Mutter hat mir zu sehr eingeprägt: »Nur nicht empfindlich sein, wenn du auch einmal denkst, dir sei unrecht geschehen!«

Aber nein, ich hatte mich ja auch wirklich versäumt, und hatte dafür wohl einen Tadel verdient. Glücklicherweise hat es den Kindern nicht geschadet. Sie sind heute sehr munter und plaudern noch gern von gestern. Nur Dagmars kleine altkluge Bemerkungen über meine Freundschaft mit Onkel Menkhausen und Onkel Albert suche, ich möglichst zu überhören. Ich habe schon öfter bemerkt, daß sie gern über so etwas spricht, wahrscheinlich durch das Geschwätz der Mädchen veranlaßt.

Heute auf dem Spaziergang sind wir nun der Mademoiselle Marong mit den beiden kleinen Brüdern der schönen Marikita begegnet und ein Stückchen mit ihnen gegangen. Da sagte Dagmar nachher: »Siehst du, Fräulein, das wird Mama gern sehen; wenn mir mit denen gehen, dann dürfen wir auch mal zu spät kommen. Mademoiselle ist eine richtige Freundin für dich!«

Nun war ich wieder geärgert und schwieg. Ich sah hieraus, daß man in Gegenwart der Kinder Gespräche führt, aus denen sie entnehmen, daß irgendwelcher Verkehr mit den Verwandten oder Freunden des Hauses für mich nicht gewünscht wird; die Mademoiselles und Fräulein – damit soll ich zufrieden sein!

Ach, Nell, meine Nell, wenn Du nur hier wärest, wie würde es dann sein? Du würdest trotz allem zu mir halten, das weiß ich; aber angenehm wäre es doch auch für Dich nicht. Nun, vorläufig sitzest Du ja noch fest in Holstein, und ich kann kaum wünschen, daß Du auf länger herkommst.

 

Heute war ich am Meer und hörte die Brandung vom hohen Ufer aus. Aber nein – denke nur nicht an Kuxhaven oder gar an Helgoland – ich scherze nur! Ich war an der Börse. So oft habe ich schon diesen Vergleich gehört, daß das Stimmengeräusch dort mit Meeresbrausen verglichen wird, und habe es immer für übertrieben gehalten, bis ich nun selber die Erfahrung machte und den Vergleich zutreffend fand.

Vor einigen Tagen sagte Herr Konsul beim Frühstück: »Fräulein hat wohl eigentlich noch nichts von Hamburg gesehen, liebe Frau; willst du es einrichten, daß sie einmal tagsüber etwas Zeit zu einem größeren Ausgang hat?«

Nun antwortete Frau Konsul sehr lebhaft: »Fräulein hat immer Zeit, wenn sie sich einzurichten weiß!«

Das ist ja wohl wahr, Nell. Getan muß alles sein, was mir obliegt, und zwar gut getan, sonst wehe! Die erstaunt hoch gezogenen Augenbrauen dann und das entsetzte »aber Fräulein!« Also, getan muß es sein, aber wann und wie ich die Zeit zu allem finde, das ist ganz allein meine Sache! Gut, daß man von der Schule her noch an so strenge Zeitausnützung gewöhnt ist!

Als es nun also hieß: »Fräulein hat immer Zeit,« sagte der Herr Konsul nur: »Desto besser!« und seine Frau fragte: »Was für ein Unternehmen hattest du ihr zugedacht, Adolf?«

»Ich meine, sie müßte vor allen Dingen die Börse sehen; die ist doch für Hamburg bezeichnend. Sie könnten mit meinen Söhnen gehen, Fräulein; die Knaben wissen dort schon recht gut Bescheid, und Georges sagte mir, daß sie morgen vormittag zwei freie Stunden haben wegen Krankheit eines Lehrers. Wenn Sie sich dann bereit halten wollten, Fräulein?«

Ich bejahte hocherfreut; der Gang wurde dann wirklich gemacht, und er hat mich höchlich interessiert! Oh, ich hatte doch keine Ahnung von der gewaltigen Größe der Hamburger Handelswelt! Nun ist es mir aufgegangen, daß die in dem Menschengewühl der Börse zur Geltung gebrachten Interessen mit ihren Fäden die ganze Welt umspannen.

Wir saßen auf der Galerie und blickten in den riesigen Raum hinab, wo das Getöse von Zeit zu Zeit immer höher anschwoll. Meine kleinen Beschützer benahmen sich wieder sehr nett und wußten wirklich mich auf vieles aufmerksam zu machen. Einmal zeigten sie an einer etwas leereren Stelle einen alten Kapitän, eine vierschrötige Gestalt, so recht breitbeinig wie auf dem Schiffsdeck stehend. Er sprach mit einem jungen, sehr feinen Herrn, seinem Reeder, wie Harald erklärte, und als wir näher zusahen, war es Henry Fedders. Trotz der Entfernung erkannte ich ihn ganz genau. Aber es war mir lieb, daß eine Begegnung ausgeschlossen schien. Unten im Portal trafen wir dann aber Herrn Konsul, der mich freundlich nach meinen Eindrücken fragte, und ob seine Jungen sich auch als Führer gut benommen hätten. Da ich dies gern bejahte, sagte er freundlich: »Sie sind nun einmal frei und unterwegs, wollen wir noch einen kleinen Gang nach dem Hafen machen?«

Ja, liebe Nell, soll ich nun auch von dem Mastenwald, von den Schiffstraßen, von dem ungeheuren Getriebe sprechen? Du kennst das alles von klein auf; daß ich beinahe überwältigt war von allem, kannst Du Dir denken! Ich vermochte kaum etwas zu sagen, weil mir alles zu einfältig schien. Nur wenn die Knaben mich so auffordernd ansahen, nickte ich ihnen zu, und endlich brachte ich doch heraus, indem ich Herrn Konsul ansah: »Ja, Hamburg ist groß! Heute ahne ich seine Machtstellung in der Welt!«

Das schien Herrn Ohlstedt zu gefallen, den Knaben erst recht, und ich dachte mit voller Überzeugung: »Man kann ja gar nicht anders! Diese ungeheure Regsamkeit, dieses zähe Streben, die einem überall entgegentreten, die müssen einem ja Hochachtung einflößen! Und was einen zuerst nicht angenehm berührt – ich meine den Stolz, die Überlegenheit – das ist wohl eine begreifliche Folge dieses Lebens unter so weitem Horizont! Du, meine Nell, hast selbst früher davon gesprochen und zugegeben, daß Fremde sich zuerst davon zurückgestoßen fühlen mögen. Du bist ja auch eine echte Hamburgerin, und vielleicht auch nicht ohne diesen Stolz, da Dein Papa doch zu den Allerersten dieser Kreise gehört – aber Du sagst: »Das ist eben Papa! Auf den bin ich stolz mit liebevollem Herzen! Was bin aber ich? Auf wen dürfte ich herabsehen wollen?« Nein, Nell, Du tust niemand weh um der Größe Deiner schönen Vaterstadt willen. Ich sehne mich doch recht nach Dir! Deine einsame Lotte.


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