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Dreiundzwanzigstes Kapitel: Bei der Tochter zu Gast

Marianne Froben fuhr zur Bahn, um ihren lieben Gast abzuholen. Als sie eine Stunde später wieder durch das Dorf kam, sagten die Leute zueinander: »Dat Frölen hett sick woll 'ne Swester afhalt (abgeholt)? Dit (dies) kann doch nich de Mudder sin (sein)!«

Und doch war es Frau Doktor Froben, die da, klein, zierlich und weiß verschleiert, neben ihrer Tochter saß. Mit ihren zarten Zügen und dem etwas fragenden Ausdruck ihrer blauen Augen machte sie allerdings einen besonders jugendlichen, ja fast mädchenhaften Eindruck. So war es nicht zu verwundern, daß im Gespräche öfter die Anrede »kleine Mama« wiederkehrte, wenn auch im zärtlichsten Tone.

Beim Absteigen half Marianne mit ein paar kräftigen Griffen dem zierlichen Frauchen, um es dann gleich im Hausflur ein paarmal rundum zu drehen mit dem jubelnden Ruf: »Willkommen im Schulhäuschen! Meine Mama bei mir daheim!«

Da schob sich aus der Küchentür ein flachsblonder Kinderkopf, – Marianne besann sich und fragte würdevoll: »Na, Anning, kochen deine Kartoffeln schon?«

»Ja, Fräulein, ich kann sie gleich abgießen,« antwortete das Kind ernsthaft, und Marianne nickte zufrieden.

Anning Kasten war mit einer großmächtigen Küchenschürze angetan und vertrat würdevoll die Schulköchin. Während Frau Doktor Froben in äußerster Verwunderung diese liliputanische Magd ansah, erklärte Marianne: »Alles übrige steht in der Heukiste, Mama; Anning hatte nur die Weisung, um halb eins die Kartoffeln aufzusetzen, damit wir sogleich nach deiner Ankunft essen können. Und siehst du, das hat sie pünktlich befolgt; ich darf mich auf meine Schülerin und Stütze verlassen. Nun komm, Mama, und setz dich an meinen Tisch! Oh, das ist ein süßer Augenblick für mich!«

Sie betete, legte dann der Mutter vor, und nun erst konnte die Frau Doktor Worte finden. So lange hatte sie sich immer nur in gerührtem Staunen umgesehen. Jetzt lobte sie das kleine, freundliche Zimmer, Mariannes gute Speisen und vor allem ihr blühendes Aussehen.

»Wahrlich, nicht nach schlechter Kost und Überanstrengung,« sagte sie, und Marianne fragte mit einem kleinen, stolzen Lachen: »Warum sollte ich mich denn schlecht ernähren, Mutter? Ich habe hier mein gutes Brot, und ich kann doch kochen; du hast es mich ja zur rechten Zeit gelehrt. Und Überanstrengung? Na, jetzt sind ja Ferien, aber auch sonst, – weißt du, in der Dorfschule darf man weder sich noch den Kindern den Geist überladen! Bei mir ist es im Augenblick wohl auch mehr das Gemüt, das was zu leisten hat – o Mama, was muß ich dir alles erzählen!«

»Ich kann es mir schon denken, Kind; Vater hat mir ja seinen Brief gezeigt. Als ich mich eben über den meinen so recht herzlich gefreut hatte, in dem du ausnahmsweise einmal von jugendlichen Erlebnissen schriebst, da mußte ich gleich wieder von diesem schrecklichen Dorfjungen hören. Marianne, daß du den immer um dich hast, mit ihm allein bist und Verhöre anstellst! Ich hätte mich ja zu Tode geängstigt, hätte ich das vorher gewußt!«

»Aber warum denn, Mama?« fragte Marianne sanft. »Mir tut er doch nichts!«

»Wer will das wissen? Er konnte doch auch bei dir Feuer anlegen!«

»Auf dem Herd, ja, da hab' ich es oft dankbar angenommen, aber sonst –«

»Du bist immer so sicher, Kind, aber ich finde doch manches schrecklich. Zum Beispiel, daß du ganz allein im Hause schläfst...«

»Mama, der Nachtwächter ist mein Freund; den höre ich manches Mal in meinem Vorgarten husten – mitunter allerdings auch schnarchen,« setzte sie in schelmischem Flüsterton hinzu, und die Mutter klagte wieder: »Siehst du, das ist dein ganzer Schutz!«

»Meine Fenster sind innen mit Holzläden versehen, und meine Haustür hat eine Sicherheitskette. Außerdem, wer bricht wohl ein beim Schulmeisterlein? Da sind doch keine Schätze zu holen!«

Die Mutter schüttelte noch einmal den Kopf.

»Ich kann es doch nie ganz begreifen, Marianne, daß du dir diesen Platz im Leben erwähltest! Da schreibst du uns von schnapstrinkenden Maurerleuten, zu denen du ins Haus gehst, die kränkliche Frau zu besuchen – von einem Schuster, mit dem du dich über Bücher unterhältst! Schließlich soll ich mich wohl noch freuen, daß der Nachtwächter dein bester Freund ist –«

»›Bester‹ habe ich nicht gesagt,« unterbrach Marianne lachend, aber zugleich einen kleinen, träumerischen Blick ins Unbestimmte sendend, und die Mutter fuhr fort: »Ich sehnte mich förmlich, einmal von angemessenem Verkehr zu hören.«

»Nun, hat dir die Jagdgesellschaft nicht gründlich Eindruck gemacht? Und der Backfischkaffee?«

»Ja, ja, aber vorher stand da noch einmal was von einem jungen Kollegen, den du beim Herrn Pfarrer trafst – Marianne, einen Dorfschullehrer wirst du doch niemals heiraten? Das gäbe ich nicht zu!«

Nun brach Marianne in ein lautes, herzliches Lachen aus.

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Ich kann es mir schon denken; Vater hat mir ja deinen Brief gezeigt.

»Nein, diese Mama – diese kleine Mama,« rief sie immer wieder, »Hab' ich dir nicht gleich im Brief auch Luischen Blank vorgestellt, die Braut des Lehrers Langreuther? Da konnten dir doch solche Sorgen gar nicht erst kommen!«

Die Mutter mußte nun selber lachen, blieb aber doch dabei, daß sie sich nie an den Gedanken gewöhnen würde, wie ihre Tochter sich ihr Leben zu zimmern gedachte.

»Ich hätte das alles nie gekonnt,« sagte sie kleinlaut, worauf Marianne zärtlich erwiderte: »Nein, du nicht, Mutterherz – von dir hätte das auch niemand verlangt! Dich nahm einfach der Vater und trug dich auf Händen! Dazu ist aber deine Tochter wohl nicht leicht und zart genug; sie steht zu fest auf den Füßen, und die wollen selbständig gehen. Du darfst auch glauben, es ist kein schlechter Weg, so zwischen Wald und Feld! Du wirst ihn ja nun ein paar Tage mit mir gehen und sehen, daß manche Blume an meinem Wege blüht.«

Das sorgenvolle Antlitz vor ihr hellte sich auf; es war ja nicht möglich, dieser frohen Zuversicht, diesem ganzen, so köstlich gesunden Wesen Mariannes zu widerstehen.

Diese nahm sich aber doch vor, nicht zu viel von dem, was sie eigentlich jetzt am meisten beschäftigte, zur Mutter zu reden, um nicht immer neue Aufregung hervorzurufen. Sie dachte im stillen: »Es nützt ja doch nicht viel. Der Vater müßte es jetzt sein, mit dem ich jenen Fall durchsprechen könnte! Mama soll nur hören, was ihr Freude macht, und dann soll sie mir erzählen, von ihrem lieben schönen Ältesten, zum Beispiel, der ihr mehr Vergnügen macht, als ich mit meiner Unbegreiflichkeit.«

Nun war sie schon dabei, die kleine Frau Doktor, und berichtete vom Sohn, der, vor kurzem noch flotter Student, soeben sein Referendarexamen gemacht und fürs erste Beschäftigung am Amtsgericht der Heimatstadt gefunden hatte. Hübsch und schneidig sehe er aus und bringe ordentlich Leben in das stille Doktorhaus. Schwester Marianne – nein, die könne er auch nicht ganz begreifen, aber er meinte zugleich, ihren eigenen Kopf habe die »Kleine« ja schon immer gehabt. Übrigens werde er wohl einmal kommen und sich nach ihr umsehen, nur nicht jetzt gleich.

Diese Aussicht erfreute natürlich Marianne, aber die Frage nach dem Vater konnte sie hierbei nicht unterdrücken. Wollte der denn nicht auch einmal Umschau bei ihr halten?

Hierzu machte die Frau Doktor ein drollig verschmitztes Gesicht und gab nicht recht Antwort.

Marianne aber wußte schon Bescheid. Wenn Mama ein Geheimnis hatte, verriet sie es nie – o nein – aber daß eins vorhanden war, sah man ihrem Gesicht an!

So wartete sie es geduldig ab und erlebte, daß am anderen Vormittag die Mutter erklärte, einen kleinen Spaziergang machen zu wollen.

»Allein?« fragte Marianne erstaunt. »Ich kann nicht mit; ich muß auf mein Mittagessen achtgeben, darf nicht so ohne weiteres herumschwärmen.«

»Natürlich nicht,« sagte lächelnd die Mutter. »Du hast ja heute für zwei zu sorgen! Koche nur ja nicht zu wenig Kartoffeln! Ich habe großen Hunger und muß doch von deiner eigenen Ernte mit Verständnis kosten, denn wir wollen ja vielleicht einen kleinen Handel machen, nicht wahr?«

Marianne nahm die Mutter zärtlich beim Kopf und sagte, sie küssend: »Nun willst du mir einen Gefallen tun, indem du auf meine bäuerlichen Neigungen eingehst! Gelt, ich kenn' dich? Na, nun mache nur deinen Spaziergang und verirre dich nicht!«

»Nein, ich nehme den Weg, den wir gestern fuhren; der gefiel mir so gut.«

»Also nach dem Bahnhof,« dachte Marianne, und eine Ahnung durchblitzte sie. Sie sagte aber nichts, sondern machte sich nur mit erhöhtem Eifer an ihr Mittagessen.

Ein feistes Häschen hing ja da, schon abgezogen und gespickt; so war es ihr aus dem Herrenhause in die Küche gelaufen – und Marianne dachte: »Unter diesen Umständen ist es auch für eine Lehrerin keine Kunst, Hausfrau zu spielen. Werde ich nicht geradezu verwöhnt? Und da will Mama mich noch beklagen!«

Das Häschen fing an, sich lieblich zu bräunen; nun hieß es, ganz bei der Sache sein. Wenn jetzt nur niemand sie störte! Sie hatte wirklich für nichts und niemand weiter Sinn.

Aber bald klinkte das Gitterpförtchen. Dann ging die Haustür – ein fester Schritt – ein leises Lachen – das waren Mamas liebe Töne – und der Schritt?

Marianne horchte nicht mehr, sondern lag schon im Arm des Vaters. Groß und stattlich war er in die Küche getreten, und seiner Tochter schien es, als fülle er den kleinen Raum fast aus mit seiner machtvollen Persönlichkeit.

Daneben zwitscherte die zierliche kleine Frau: »Habe ich nicht das Geheimnis gut bewahrt? Den Augenblick des Zusammentreffens gut abgepaßt? Eine Viertelstunde vor dem Dorf schon kam er mir entgegen, unser Wandersmann – also genau die Zeit und den Weg berechnet!«

»Was sonst gar nicht deine Stärke ist,« neckte der Doktor und lobte vor allem die Verschwiegenheit seiner Frau. Dann zog er Marianne abermals an sich, hielt sie wieder ein Ende von sich ab und bekannte: »Prächtig siehst du aus, Mädel – bin zufrieden mit dir!«

»O Vater« – Marianne hatte schnell einmal nach den: Hasen gesehen – »und ich bin überglücklich, daß du da bist, gerade jetzt!«

»Wirklich? Na ja, kann mir's schon denken! Wir müssen ja gewissermaßen kollegialisch was besprechen. Ich will dir gestehen, ich bin hauptsächlich wegen dieses kleinen ›Füerböters‹ gekommen. Denn hier muß nun zunächst ein ärztliches Gutachten abgegeben werden, obgleich der Fall Stoppsack beinahe auch deinen juristischen Bruder reizte. Doch sagt er ganz richtig: ›Jugendgerichte haben wir noch nicht hierzulande – also muß es zunächst vor ein anderes Forum.‹«

»O Vater, wie dank' ich dir, daß du gekommen bist! Ich war schon so in Unruhe, was nun geschehen müsse, denn bis jetzt haben wir eigentlich noch nichts im Auge gehabt als die Freude, die für Hermann Matersen aus dieser Aufklärung erwächst. Aber über den Jungen und sein Schicksal hat noch niemand etwas gesagt. Auf dem Hof ist das Haus voll Besuch, ein beständiges Kommen und Gehen in diesen Tagen –«

»Ich weiß,« unterbrach schmunzelnd der Vater. »Mama war ja selig über deinen Bericht von Tanz und Spiel. Sie fürchtet immer, du alterst hier vor der Zeit!«

»Aber du fürchtest das nicht?« fragte sie strahlend.

Der Vater strich sachte über ihr blühendes Gesicht. Die Mutter stand dabei und schmollte ein wenig.

»Lacht ihr mich nur aus, ihr beiden! Ihr seid natürlich viel großartiger! Aber jeder hat seinen Standpunkt.«

»Und der deine kann unter Umständen sehr hoch sein,« neckte der Doktor, hob seine Frau einfach auf und trug sie in die Stube, was sie sich strahlend gefallen ließ.

Lachend kam Marianne hinterdrein und rief: »Nein, so ein drolliges Bild hat doch mein ernstes Studierzimmer noch nicht gesehen! Gut, daß Ferien sind! Im Dorf glaubt sowieso kein Mensch, daß das meine Mutter ist, die ich mir gestern von der Bahn holte. Sähen sie euch jetzt, hieße es ganz gewiß: ›Dat Frölen hett 'n Brutpoar (Brautpaar) tau Bisäuk (zu Besuch).‹ Nun bitte, setzt euch, daß ich auftragen kann! Das dritte Besteck liegt ahnungsvoll bereit!«

Sie fand große Anerkennung mit ihrem Mittagessen. Des Vaters Hunger ließ nichts zu wünschen übrig. Zugleich fiel ein kleines Lob für die Mutter ab, die ihre Tochter, ehe sie sich den Wissenschaften widmete, so gut für die Häuslichkeit vorbereitet hatte.

Nun strahlte die kleine Frau wieder und gönnte es den beiden, ihre anderen Angelegenheiten zu erörtern, bei denen sie doch nicht recht mitkonnte oder mochte.

Frau Doktor Froben stammte aus anderer Zeit, aus Verhältnissen, wo die Erziehung der Töchter zu ernster Arbeit noch nicht so verbreitet war, wie heutzutage. Sie war ein sogenanntes »armes Fräulein « gewesen, letzter Sproß einer früher begüterten Adelsfamilie, die durch Verluste aller Art in schwer bedrängte Lage gekommen war. Nach verwöhnter Kindheit hatte schon die erste Jugend ein anderes Gesicht gezeigt, als die Kleine vielleicht träumte. Dann aber lernte sie am Krankenbett ihrer Mutter den Mann kennen, der die Schwerleidende mit Aufopferung und Selbstlosigkeit behandelte, und mit achtzehn Jahren war sie schon die Braut des Doktor Froben, der das zarte, weltunkundige Mädchen in einen sicheren Hafen führte, bevor es noch einen Begriff hatte von den Schwierigkeiten, die seiner sonst geharrt hätten in einem Leben voll Dornen und Sorgen, auf das es in keiner Hinsicht vorbereitet war.

An der Seite des trefflichen Mannes, der bei dem schweren Ernst seines Berufslebens sich gern den kleinen Sonnenstrahl für sein Haus einfing, durfte Frau Doktor Froben dies immer bleiben, das kindlich heitere sonnige Wesen, dem man gern alles Trübe aus dem Wege räumte, soviel es ging. So war es erklärlich, daß diese verwöhnte kleine Frau der so ganz anders gearteten Tochter nicht gleich und immer folgen konnte, als diese anfing, sich im Kopf das eigene Leben zurechtzulegen.

Unter des Vaters Augen und Händen entwickelten sich ja früh die von ihm geerbten Anlagen. Marianne war bald seine kleine freiwillige Hilfe im Kinderhospital. Aber für immer Krankenpflegerin werden? Nein, das gab die Mutter nicht zu, und auch der Vater bestand durchaus nicht darauf. So wurde denn der Lehrberuf ins Auge gefaßt; man dachte an eine städtische Schule, an nette Erzieherinnenstellen. Da machte ihnen dieses Mädchen den Streich und meldete sich aufs Dorf hinaus!

Und der Oberschulrat? Ja, der tat noch ein übriges mit besonderer Empfehlung, so daß die Anstellung wirklich zustande kam. Nun mußte man sich dareinfinden, die Tochter in einer Umwelt zu sehen, so ganz, ganz anders, als man gedacht und für selbstverständlich gefunden hätte ...

Nach Tisch, als die Eltern noch ein kurzes Nickerchen gemacht hatten, fragte Marianne den Vater, wie lange er bleiben könne. Sie hörte, daß er allerdings mit dem Abendzuge zurück müsse, da am nächsten Tage eine Operation bevorstehe. Nun hieß es jeden Augenblick ausnutzen! Hinrich Stoppsack vor allem mußte herbei.

Marianne hatte sich Anning Kasten für alle Fälle bestellt, für etwaige kleine Hilfeleistungen oder Botengänge. So schickte sie das Kind schleunigst in das Haus der alten Frau und schärfte ihm ein, Hinrich unbedingt zu bringen; wenn er etwa sich dagegen wehrte, sollte Anning ihm versprechen, daß in des Fräuleins Küche noch »was Schönes« für ihn zurückgelegt sei.

Das Kind sah die Lehrerin mit den großen blauen Augen fragend an, und diese versicherte rasch: »Für dich natürlich auch, Anning! Lauf nur und kommt beide schnell wieder; ich habe sogar Kuchen aus der Stadt.«

Es reihte sich nun alles. Die Kinder wurden in der Küche mit Kaffee und süßem Gebäck gefüttert. Dann spülte Anning Geschirr, Hinrich aber mußte in die Stube zum Arzt, der nun auf die unverfänglichste Weise Fragen stellte und auch körperliche Untersuchungen vornahm. Schließlich brachte er den Jungen selbst zu seiner Großmutter zurück, um auch mit dieser allerlei zu besprechen.

Zitternd und weinend ließ die Alte alles über sich ergehen, ergab sich der gebietenden Persönlichkeit Doktor Frobens und versprach, in alles einzuwilligen, was etwa über den Enkel in nächster Zeit bestimmt würde.

Marianne, die hierbei zugegen war, wollte nun gern die Eltern mit den hiesigen Freunden bekannt machen und wußte doch nicht recht, wie das anfangen, weil sie auf dem Hofe noch viel Besuch vermutete. Da kam ihr schon Leonore entgegen, und sagte freundlich: »Ich wollte mir eben erlauben, Ihrer Mutter meinen Besuch zu machen, Fräulein Froben, und auch Ihnen gleich erzählen, was Papa zu der Geschichte gesagt hat. Er meint, zunächst müsse man wohl mit dem Jungen zum Arzt –«

»Der Arzt ist zur Stelle,« warf Marianne schnell ein. »Mein Vater – Fräulein Menkhausen!«

Überrascht reichte Leonore Doktor Froben die Hand und rief: »Sie kommen ja wie gerufen! Ich war nur auf Fräulein Frobens oft genannte Mama gefaßt – nun sind Sie auch da, in doppelter Eigenschaft hochwillkommen!«

So in natürlich liebenswürdiger Lebendigkeit ging Leonore mit bis zum Schulhause, machte sich ebenso mit Frau Doktor Froben bekannt, von der sie sichtlich entzückt war, und bat dann Mariannes Eltern, sie nach dem Hof zu begleiten, da Papa jetzt allein und gut zu sprechen sei.

»Unsere alten Damen machen nämlich eben eine Spazierfahrt,« sagte sie. »Papa hatte nur den Verwalter da zu wirtschaftlichen Besprechungen, aber der stört ja nicht – im Gegenteil, – Herrn Matersen geht das ja in erster Linie an, was uns augenblicklich so sehr beschäftigt. Nicht wahr, Fräulein Froben, davon kann auch der liebste Besuch Sie gegenwärtig nicht ganz ablenken?«

»Nein,« gestand Marianne, »und es ist auch meines Vaters Hauptzweck. Nicht meinetwegen ist er diesmal hier, sondern Hinrichs wegen!«

Als sie nun so in lebhaftem Gespräch durch das Dorf gingen, bekam Marianne so viel Grüße und freundliche Blicke, daß selbst Frau Doktor Froben zugestand: »Beliebt scheinst du hier ja sehr zu sein, Kind, und das ist auch was wert.«

»Viel,« sagte Marianne heiter und fuhr dann fort: »Mit dir, Mama, möchte ich am liebsten zuerst zu Frau Matersen gehen,die hatte doch hier die allerersten Freundlichkeiten für mich, so daß sie mir die nächste dazu scheint, meine Mama kennen zu lernen. Ihr seid beide so ein paar echte Mütter, durch und durch ...«

Die Mutter drückte ihren Arm und entgegnete: »Das hast du gut erraten! Bei den Auseinandersetzungen der Herren brauche ich gar nicht dabeizusein.«

So traten sie denn, womit auch Leonore einverstanden war, zuerst ins Verwalterhäuschen, und sehr herzlich war die Begrüßung, die die beiden Frauen miteinander tauschten. Dann kam auch Lotte hinzu, und als Frau Doktor Froben dies liebliche, frisch-kluge Mädchen sah, bat sie es im stillen ihrer Tochter ab, daß sie ihr Unzufriedenheit mit dem kleinen Verkehrskreise von Grünweide gezeigt hatte.

Leider blieb diese reizende Lotte nur nicht immer hier, war bloß ein Feriengast! Aber jedenfalls – dies kleine Haus war im ganzen urgemütlich, und die alte Frau Matersen schien ja eine wahre Hochachtung vor Marianne zu empfinden. Allerdings begegneten sich Hermanns Mutter und die Lehrerin so herzlich, wie noch nie; das machte die Freude, die sie gleichermaßen heute beseelte.

Nach einem fröhlich verplauderten Halbstündchen führte dann Marianne die Mutter hinüber ins Herrenhaus.

Die Herren waren schon mit ihrer ernsten Beratung fertig – alles klipp und klar, was um so schneller gegangen war, als Doktor Froben einen wohlüberlegten Plan dem Gutsherrn unterbreitet hatte, der dessen Billigung fand. Der Arzt wußte von einer Anstalt, dessen Leiter ihm gut bekannt war; dort fanden schwachsinnige Kinder jeder Art Aufnahme und genossen in leiblicher wie geistiger Hinsicht die sorgsamste Überwachung und Behandlung. Es war aber weder eine Idiotenanstalt noch ein sogenanntes »Rauhes Haus«, sondern ein besonders geartetes Unternehmen, das ein Menschenfreund ins Leben gerufen hatte und mit allen Mitteln stützte.

Trotzdem konnte der Aufenthalt nicht ohne erhebliche Kosten sein, da es eine Privatanstalt war. Doktor Froben hob das gleich hervor, um zu sehen, ob der Gutsherr auch gewillt sei, so viel an den armen verwilderten Jungen zu wenden. Herr Menkhausen überlegte nur kurze Zeit und sah dabei seine Tochter an. Leonore, die der ganzen Unterhandlung mit lebhafter Aufmerksamkeit gefolgt war, verstand den Blick und sagte ohne Zögern: »Ich weiß, was du denkst, Papa – dies müßte meine Sache sein, nicht wahr? Wenn das Gut mit allen Leuten dereinst in meine Hand kommt, warum sollte ich nicht schon heute eine einzelne Aufgabe übernehmen, bei der ich nichts zu leisten, sondern nur zu geben hätte?«

»Bravo,« bemerkte Doktor Froben, und auch Hermann Matersen blickte heimlich gerührt auf das junge Mädchen; Herr Menkhausen aber entgegnete: »So meinte ich es allerdings, meine Deern – wollte mal sehen, ob es mehr als Schwärmerei ist mit der Leidenschaft für das Gutswesen – kein bloßes Strohfeuer!«

»O Papa,« rief Nelli mit blitzenden Augen, »prüfe mich – nimm mein ganzes Taschengeld und bezahle damit jene Anstalt!«

»Damit du mir Schulden machst, nicht wahr?« neckte der Vater. »Nee, so geht es denn doch nicht, aber etwas niedriger muß ich dein Taschengeld allerdings bemessen.«

»Natürlich! Was soll ich überhaupt in Holstein mit dem vielen Geld? Waschkleider und große Schürzen, das ist der rechte Putz für einen Wirtschaftslehrling – nicht wahr, Herr Matersen?«

Der junge Verwalter gab zu, die beste Tracht sei es allerdings.

»Na also,« sagte Neil, »da kann ich mir gut einen etwas kostspieligen Zögling erlauben. Nämlich.« fuhr sie zutraulich zu Doktor Froben gewandt fort, »mein Papa gibt mir ein beträchtliches Monatsgeld, wovon ich alle Anschaffungen für mich selber bestreiten muß, damit ich mit Geld umgehen lerne, wie es heißt – und nicht wahr, Papa, mein Buch stimmt immer ganz gut, wenn ich es dir am Ersten vorlege?«

»Na ja –« der Vater schmunzelte – »hast eben doch auch etwas Kaufmannsblut in dir, obgleich du hauptsächlich nach der Großmutter artest, die mit Leib und Seele Landwirtin war.«

Jetzt flüsterte Leonore ihrer Lotte zu: »Ist dieses Geld nicht tausendmal besser angewandt, als wenn es fortgesetzt in jenes Genfer Pensionat ginge?«

Lotte nickte mit glänzenden Augen. Jene Institutserziehung war nicht mehr nötig für die liebe Nell; die zeigte nun schon das Zeug, daß sie ihren Platz im Leben einst tüchtig ausfüllen würde.

Die Herren rauchten noch gemütlich eine Zigarre zusammen und machten mit den Damen einen Gang durch den schönen alten Garten. Frau Doktor Froben hatte den jungen Verwalter an ihrer Seite, und wieder, wie vorher bei seiner Schwester, mußte sie denken: »Es gibt doch ganz andere Leute auf dem Dorf, als ich dachte! Sieht dieser junge Landwirt nicht fast ebenso schneidig aus wie mein Referendar?« Und das war das Höchste, wozu das stolze Mutterherz sich bis jetzt aufschwingen konnte.

Marianne lächelte still in sich hinein, als sie die Mutter mit dem jungen Verwalter in so angeregtem Gespräch sah. Herr Matersen traf auch gleich den Ton, der bei der anmutigen Frau angebracht war: ritterlich – fast ein wenig beschützend – und mit seinen Beleuchtungen ländlicher Zustände so recht beruhigend und versichernd zu wirken bemüht. Dabei hatte er jetzt einen köstlich offenen, ruhigen Gesichtsausdruck, daß Marianne mit einiger Genugtuung empfand: »Nun scheut er sich nicht mehr, neue Bekanntschaften zu machen, weil in den Gesprächen peinliche Anspielungen lauern könnten!«

Doktor Froben mahnte schließlich zum Aufbruch und sagte dann im Gehen zu Marianne: »Ich muß meine Tochter noch ein wenig für mich haben – nur als alter Papa vom Mariandel, nicht bloß von der ehrwürdigen Dorfschulmeisterin, oder vom Untersuchungsrichter, wie deine junge Herrin sagt! Hör mal, das ist übrigens ein vortreffliches Mädchen! Dieser Vater kann sich ebenso gratulieren, wie ein gewisser Doktor.«

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Na ja, hast eben auch etwas Kaufmannsblut in dir.

Marianne errötete.

»Oh, Papa, du hast Lotte Matersen nicht gesehen – ich weiß nicht, wo sie steckte –«

»Nee, aber den Bruder.«

»Kehr doch noch mal um – Lotte gefällt dir vielleicht am allerbesten von uns dreien!«

»Das glaube ich zwar nicht – aber ansehen will ich sie mir – ah, da ist auch die Frau Mutter!«

Sie traten nicht mehr ein; nach kurzer freundlicher Begrüßung drängte der Doktor zum Abschied. Man mußte zu Abend essen und dann zur Bahn.

Marianne fuhr mit, denn zurück zur Eisenbahnhaltestelle sollte der Vater nicht zu Fuß. Herr Menkhausen hatte den Landauer befohlen; so fuhren Vater und Tochter gemütlich zusammen dahin, noch hin und wieder ein herzliches Wort tauschend oder auch dem Zauber dieses kühlen, mondhellen Herbstabends still sich hingebend.

»Also hier bist du nun zu Hause, mein Mariandel,« sagte der Vater schließlich. »Ich lasse es gelten und freue mich, solange es dich freut. Sollte der Winter dich doch zu anderen Ansichten bringen, dir dies Leben zu beschwerlich werden, na, da weißt du ja, wo du wieder unterschlüpfen kannst!«

»Vater, ich glaube nicht, daß ich so bald fahnenflüchtig werde – trau mir nur und steh mir auch gegen Mama bei!«

Frau Doktor Froben blieb noch einige Tage, ohne aber sich recht einzuleben. Marianne stellte dies mit Bedauern fest, ließ jedoch sich selbst nicht davon beeinträchtigen; sie sah vielmehr mit Genugtuung dem Ende der Ferien entgegen, um endlich das Alltagsleben wieder aufzunehmen.

»Jetzt muß ich Ernst machen,« dachte sie. »Nach all den Abwechslungen und Lustbarkeiten der letzten Woche will ich nun ein ganz ehrpusseliges Schulmeisterlein sein!«

Alle Gäste waren abgereist, als letzte Lotte, die erst am siebenten Oktober wieder in ihre Klasse mußte. Vorher weilte sie noch einen ganzen Tag im Schulhause, kochte und speiste mit Marianne, war in den Schulstunden zugegen und verlebte endlich noch einen traulichen Abend mit Marianne. Dabei erfüllte sich denn auch ihr Wunsch, daß diese ihr das schwesterliche »Du« anbot. Nun gehe das Herzausschütten noch einmal so gut, versicherte Lotte, indem sie sich innig an die ältere Freundin lehnte und immer noch etwas und noch etwas zu sagen hatte.

Was Lotte jetzt so sehr beschäftigte, nachdem die eine sich auf ihren Bruder beziehende Angelegenheit so über Erwarten sich geklärt hatte, das waren ihre eigenen Zukunftspläne und Aussichten.

Sie gestand Marianne, daß es sie oft drücke, ihrem Bruder noch immer sozusagen »auf der Tasche zu liegen«.

»Der arme Hermann kommt ja nie dazu,« sagte sie ernsthaft, »für sich selbst etwas zu erübrigen, wenn er noch immerfort Schulgeld und teure Privatstunden außer der Pension für seine Schwester bezahlen muß. Ach, Marianne, es ist doch schlimm, daß unsere Ausbildung jetzt schon fast ebensoviel kostet, als die der Brüder!«

»Schlimm, sagst du,« versetzte die Ältere lächelnd, »aber andere rufen triumphierend: ›Endlich Gleichberechtigung!‹«

»Ach, ich habe mir das eigentlich nie gewünscht,« gestand Lotte träumerisch; »du doch auch nicht, Marianne?«

»Wer weiß?« gab diese schalkhaft zurück. »Ich gelte in meinen heimischen Kreisen schon fast für emanzipiert!«

»Ach, Unsinn,« eiferte Lotte, »das sind dann altmodische Beschränktheiten bei deinen Bekannten!«

»Manchmal allerdings. Aber wir wollten von dir sprechen, Lottchen! Also du machst dir für deinen Bruder Sorgen wegen der Kosten? Ich habe nun zwar den Eindruck, als täte der nichts lieber, denn seiner Schwester sorgend den Weg ins Leben hinaus zu ebnen.«

»Ja, gewiß – du mußt mich nicht mißverstehen! Hermann ist von einer Selbstlosigkeit ohnegleichen – braucht für sich fast nichts! Aber –« sie zögerte mit einem kleinen schelmischen Blick – »es kann doch nicht immer so bleiben. Er möchte mit der Zeit diese Stellung hier aufgeben –«

»Jetzt auch noch?« unterbrach Marianne enttäuscht, worauf Lotte rasch erklärte: »Nicht ›deshalb‹ mehr, auch nicht heute oder morgen – aber mit der Zeit hofft er doch ein Gut pachten zu können. Denn sieh, die Abhängigkeit auf immer, das ist nichts für ihn.«

»Natürlich, die eigene Scholle –«

»Ach, eigen, daran wird wohl nie zu denken sein! Aber immerhin doch etwas mehr, als nur Verwalter für andere sein!«

»Ich begreife das,« sagte Marianne mit einiger Zurückhaltung, und Lotte fuhr erregter fort: »Hier kann er ja nicht mal heiraten!«

Eine kleine Pause entstand; dann antwortete Marianne wieder: »Aber Lottchen, deshalb wirst du doch ruhig erst deine Studien vollenden können!«

»Das sagst du wohl – es sind immer noch über drei Jahre nach diesen strengen neuen Vorschriften. Sieh mal, da werde ich zwanzig Jahre alt, ehe ich einen Pfennig verdiene. Was hat da manch anderes Mädchen schon für die Seinen geleistet!«

Marianne war gerührt. Sie kannte ja genug vom Leben, um solche Sorgen zu verstehen, wenn sie ihr persönlich auch noch nicht nahegekommen waren. Ihr Vater, als äußerst geschickter und beliebter Arzt, hatte stets bedeutende Jahreseinnahmen. Der Zuschnitt des Hauses war, aus eigener Wahl, immer einfach gewesen, aber für die zwei Kinder konnte alles geschehen, was zu ihrer gründlichen Ausbildung gehörte. Daß also ein junges Mädchen sich Sorgen machte, ob das Schulgeld den Angehörigen nicht zu große Lasten auferlegte, war selbst ihr, der so viel Reiferen, völlig neu.

»Hinzu kommt noch,« fing jetzt Lotte wieder an, »daß ich auch gar nicht so ungeheure Lust habe, Lehrerin an einer Schule zu werden.«

»Nicht? Ich denke, du hast Kinder so gern, Lotte?«

»Hab' ich auch! Aber als eine von den Hamburger Damen neulich diese selbe Frage tat, erklärte ich ihnen, ich möchte lieber wirklich mit Kindern leben, statt sie täglich nur einige Stunden zu unterrichten und ihnen doch nie näher zu kommen. Ich würde sie gern auch pflegen und miterziehen. Da sahen sich die alten Damen bedeutsam an, und die nette Frau Senator Fedders sagte: Mein liebes Fräulein, für solche Neigungen und Anlagen – ich nehme an. daß Sie auch praktisch und hauswirtschaftlich etwas geübt sind – da gibt es in Hamburg zahllose Gelegenheiten. Fast in jedem großen Hause unserer Kreise sind solche Mädchen gesucht. Beste Bildung, wenn auch nicht gerade mit Diplomen bekräftigt, und häusliches Geschick! Wir werden gern an Sie denken, sollten Sie einmal einen solchen Platz zu haben wünschen.‹ Und siehst du, Marianne: Hieran muß ich nun immer denken! Ob das nicht ein Fingerzeig ist, meinen Weg von jetzt an zu ändern? Das Examen brauche ich dann nicht zu machen; meine übrige Bildung würde, glaube ich, für solche Stellung genügen, und was das Häusliche betrifft – Kochen ist in solchem Fall nie nötig, aber Schneidern erwünscht, oder wenigstens mit der Nadel bewandert sein. So sagt Nelli, die mir auch erklärt hat, daß diese Art Stellen in einem großen Hamburger Hause gut bezahlt werden und überhaupt keineswegs zu verwechseln seien mit den landläufigen Begriffen von der Stütze der Hausfrau.«

»Rät deine Freundin dir denn dazu, Lotte?«

»Halb und halb. Sie findet es etwas seltsam, daß wir beide dann so ganz die Rollen tauschen würden, ich in Hamburg leben und sie auf dem Lande – aber das ist ja Nebensache; zusammen bleiben wir ja doch nicht. Außerdem sagt sie aber, daß man in diesen Stellungen zu Anfang wohl etwas zu kämpfen hat und erst mit der Zeit so recht eigentlich zur Familie gezogen, dann aber auch öfters fürs Leben treu in ihr gehalten wird. Das käme eben auf die Persönlichkeit an.«

»Wie überall im Leben,« versetzte Marianne gedankenvoll. Dann bat Lotte: »Rate du mir, Mariandel – soll ich diesen Weg versuchen und Hermann ein paar tausend Mark ersparen?«

»Wird es dir nicht schwer,« fragte Marianne ausweichend, »die weitere wissenschaftliche Ausbildung aufzugeben? Du sagtest noch neulich, die Stunden bei eurem Deutschlehrer würden jetzt immer fesselnder.«

»Freilich, das ist auch so! Aber ich denke, gerade Deutsch, Literatur und alles, was dazu gehört, kann man, wenn schon eine gewisse tüchtige Grundlage gelegt ist, gut für sich allein weiter treiben. Besonders in einer großen Stadt, wo es doch so viel Anregungen durch Vorträge, Theater und so weiter gibt!«

»Wenn man sie besuchen darf und kann,« warf Marianne ein. »Die Gelegenheit wird sich selten bieten.«

»Oder man liest und bildet sich in der Stille weiter.«

»Wenn man Zeit hat,« hieß es abermals.

Nun sagte Lotte etwas kleinlaut: »Du willst mich abschrecken?«

Herzlich erwiderte Marianne: »Das nicht, mein liebes Mädchen, aber wohl überlegt muß der Fall werden! Ich möchte nicht, daß du dir für die Zukunft etwas abschnittest, wonach du doch einst Sehnsucht empfinden könntest, wenn jener andere Weg dir nicht genügt.«

Ein wenig seufzte Lotte, und nun fragte die Freundin: »Hast du mit deinem Bruder schon von diesen Plänen geredet?«

»Ganz flüchtig einmal nach jenem Gespräch mit den alten Damen, ehe ich selbst tiefer darüber nachgedacht hatte. Da warf er es weit weg, fand mich vorläufig zu jung dazu und überhaupt diese Art Stellung nicht gut genug für seine Schwester.«

»Dann mußt du doch wohl auf ihn hören!«

»Ach, ich sage dir ja, Hermann denkt immer nur an andere, an den eigenen Vorteil nicht! Ich will ihm doch gern sparen helfen, möchte endlich für mich selber zu sorgen anfangen!«

»Endlich?« neckte Marianne. »Es wird auch hohe Zeit, du Backfisch!«

»Sage das nicht, Marianne! Ich bin nicht sehr weit mehr von achtzehn –«

Jetzt kam Hermann, um Lotte abzuholen, und es gab einen zärtlichen Abschied zwischen den beiden neuen Duzschwestern.

Hermann stand dabei und dachte, daß er nun wohl weniger von Fräulein Froben sehen würde, wenn seine Schwester als Bindeglied fehlte; zugleich wurde es ihm deutlich, daß dies eine Entbehrung sei – gerade jetzt, da ihm war, als müsse er ihr immer aufs neue seinen Dank bezeigen für ihr kluges Vorgehen. Nicht in schönen Worten wollte er danken, denn das mochte sie ebensowenig wie er, aber man kann es ja auch anders zeigen!


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