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Siebenundzwanzigstes Kapitel: Die große Frage

Endlich kam Hermann die Dorfstraße entlang. Da er seine Schwester am Fenster des Schulhauses sah, klopfte er entschlossen an die Tür und fragte: »Wollen wir nicht noch einmal einen Spaziergang machen? Fräulein Froben, haben Sie Zeit? Der Tag ist so freundlich, wie wir an der Schwelle des November keinen mehr zu erwarten haben.«

»Ich habe Zeit,« entgegnete Marianne, »nur die Schuhe möcht' ich noch wechseln –«

Damit ging sie hinaus, und Hermann rief ihr nach: »Aber feste Stiefel, denn ganz trocken sind die Waldwege nicht – und warm anziehen!«

Im grünen Lodenanzug kam sie gleich darauf zurück; dann wanderten die drei einträchtig dem Eichhorst zu. Sie sprachen von dem Sonntag, da sie den ersten Spaziergang hierher zusammen machten.

Hermann erinnerte daran, daß Marianne damals gewünscht hatte, diese Spätsommertage möchten unablässig fortdauern, und daß er daraus schloß, sie fürchte sich vor dem einsamen Winter im Dorf.

»Aber das tue ich gewiß nicht,« fiel Marianne lebhaft und warm ein.

Nun entdeckte Lotte eine junge Eiche, die, im Gegensatz zu den anderen kahlen Bäumen, noch viel goldbraunes und purpurnes Laub trug. Mit ein paar Sprüngen schlug sie sich seitwärts in die Büsche, um einen Strauß davon zu pflücken, indem sie sich dabei an den Jagdtag erinnerte und im Gehen sang: »Ich schieß' den Hirsch im wilden Forst –«

Indes sagte Hermann, an Mariannes, letztes Wort anknüpfend: »Nein, Sie fürchten sich nicht, weder vor dem Winter noch vor ländlicher Einsamkeit; allzeit sind Sie die Mutige und Freudige! So wage auch ich es getrost –« Und nun kam es heraus, was er so lange schon sagen wollte, daß er sie lieb habe über alles.

Lotte pflückte und pflückte, als müsse der ganze Baum geplündert werden. Als sie sich dann endlich zurückwandte, sah sie die beiden am Waldessaum stehen, vor sich das offene Feld und die kleinen Dorfhäuser. Sie sah Hermann mit der Hand darauf deuten, als sagte er: »So wird unser Leben aussehen, so schlicht und still;« dann sah sie ihn den Arm um Marianne legen. Da kam sie herangesaust mit weiten Sprüngen und schwenkte den farbenprangenden Strauß über ihren Köpfen; Hermann aber faßte den allerletzten grünen Eichenbruch als Zeichen des glücklichen Jägers.

Bald darauf empfing sie im Verwalterhäuschen eine tief gerührte Mutter, und nun gingen alle so natürlich und innig miteinander um, als hätten sie es längst gewußt, daß es nur so und nicht anders habe kommen können.

Hermann ritt noch durch das Dunkel des Herbstabends zum Bahnhof, um eine Drahtnachricht an Mariannes Vater aufzugeben, und wartete dort gleich die Rückantwort ab. Er hatte von Doktor Froben schon vor drei Tagen brieflich die Erlaubnis eingeholt, um seine Tochter zu werben, und dieser antwortete, er lege ihr Schicksal ganz in Mariannes eigene Hand, denn »wo meine Tochter vertraut, da können auch wir Eltern dies ruhig tun.«

Mariannes Augen leuchteten, als Hermann diese Briefstelle erwähnte. So fühlten sie nun beide sich schon wie im Besitz des elterlichen Segens und stellten sich einfach im Telegramm als Brautpaar vor. Ein Ruf frohen Einverständnisses klang denn auch zurück, dem aber, jedenfalls von Mama, der strenge Befehl hinzugefügt war: »Sofort kommen!«

»Zum Sonntag, nicht wahr?« sagte Marianne lächelnd. »Noch bin ich ja meiner Schule verpflichtet!«

Lotte siedelte am selben Abend mit ins Schulhaus über, denn sie behauptete, sich nicht gleich wieder trennen zu können von der neuen Schwägerin, und diese bekannte auch offen, daß sie mit ihrem vollen Herzen nicht gern ganz allein bliebe. So saßen denn Marianne und Lotte noch die halbe Nacht auf, fragend und erklärend und sich von neuem wundernd, lachend und zugleich ein Tränlein vergießend, wie das bei solchem Ereignis so Brauch ist.

Am anderen Morgen aber gab es in der Schulstube einen Jubel, als der Herr Verwalter, der gekommen war, um einmal wieder zuzuhören und zu prüfen, wie er sagte, dann plötzlich das liebe Fräulein einfach bei der Hand nahm und als seine Braut vorstellte.

Beinahe aus Rand und Band ging die kleine Schar, und das Hurraschreien mußte schließlich verboten werden, weil die Leute auf der Dorfstraße schon stillstanden.

Als es dann nach einiger Zeit hieß, wie sonst nur an Kaisers Geburtstag: »Kinder, ihr könnt nach Hause gehen, heute ist frei!« da hob das Geschrei noch einmal an. So trieb Marianne sie schnell hinaus und ging mit Hermann hinterdrein, denn er meinte, sie wollten sich nur sogleich »dem Volk zeigen«, wie er sich scherzend ausdrückte, da durch die Kinder das große Ereignis ja doch ausposaunt würde, und die Alten dann auch gern ihren Glückwunsch anbrächten.

Wenn sich nun auch ausnahmslos allenthalben Freude zeigte, so äußerte sie sich doch verschieden bald ernst, bald neckisch, wie: »Das hätte man sich schon längst gedacht!« Dann machte Hermann ein strenges Gesicht und versetzte, wie sie sich erlauben könnten, so etwas von der Schullehrerin zu denken, worauf denn der Schuster ehrbar, aber mit einem kleinen Schalk im Auge feststellte, so was dürfe man immer denken; Fräulein Froben sei doch auch ein junges Mädchen, und zwar – mit Verlaub –- ein sehr hübsches!

Köstlich war die alte Konradsch, die einfach beteuerte: »Je, Herr Entspekter, dat Frölen hett densüllben Eesmack als wie ick! Wat heww ick ümmer seggt (was hab' ich immer gesagt)? So 'n staatschen Kierl (stattlicher Mann), de kann awerall ankloppen (überall anklopfen)! Ick kann em ja doch nich mihr fliegen (heiraten)!«

Sehr erheitert von diesem Gang langte das Brautpaar auf dem Hof bei der Mutter an, und diese konnte nicht genug im stillen Gott danken, daß sie ihren Sohn so glücklich sehen durfte. Marianne beschloß dann, gleich am Nachmittag einen Besuch beim alten Pfarrer Treumund zu machen, ehe er von anderen die Neuigkeit erführe. Hermann meinte zwar, das könne schon geschehen sein, denn die »Dorfpost« reite schnell. Aber Marianne solle doch nur gehen und zuerst allein mit dem ehrwürdigen Herrn sein; er komme dann nach und hole sie ab.

Nicht so freundlich war dieser Tag wie der gestrige, hatte eher ein trübes Novembergesicht, so daß Hermann fragte, ob er nicht anspannen solle. Aber die Braut wollte das nicht haben, sondern erwiderte fröhlich, daran müsse sie sich beizeiten gewöhnen, bei jedem Wetter durch dick und dünn zu gehen. Bei solchen Bemerkungen sah Hermann immer besonders glücklich aus, weil stets von neuem ihm darin die Gewähr zu liegen schien für Mariannes anspruchslosen Sinn, der es auch mit einem Leben voll Mühe und vielleicht Entbehrung an seiner Seite aufnehmen würde.

Nun saß Marianne wieder in dem traulichen Gelehrtenstübchen, das sie vor wenigen Wochen zum ersten Male betreten hatte, und der alte Pfarrer, der dies junge Mädchengesicht auch erst ein paarmal vor sich gesehen, äußerte seine Freude über ihre Mitteilung so herzlich, als gehöre sie schon von jeher zu seinen Pfarrkindern.

»Gut nur,« äußerte er schalkhaft, »daß ich noch zur rechten Zeit mein Amt als Schulinspektor einmal ausgeübt habe; nun dauert es ja nicht mehr lange, dann haben die Kinder von Grünweide es vielleicht die längste Zeit gut gehabt, wie man zu sagen pflegt. Aber, mein liebes Kind, wie ich Sie in Ihrem ersten Amt als treu und tüchtig erkannte, so denke ich mir auch, daß Sie eine gute Gattin und Hausfrau werden, und die gönne ich dem Hermann Matersen von Herzen!«

Nun sprach er von dem, was eine Braut am liebsten hört, von den trefflichen Eigenschaften des Verlobten, und gerade, als er recht im Zuge war, kam Hermann, um Marianne abzuholen. Zuerst wurde er neckend gefragt, welches Ohr ihm unterwegs geklungen habe, ob er mit recht gutem Gewissen hier eintreten könne; dann aber wurde der alte Herr ernst und sagte zu dem ihn frei und offen anblickenden Hermann: »Fragen Sie Ihre Braut, was ich, der ich Sie länger kenne als dies liebe Mädchen, von Ihnen gesagt habe! Fragen Sie mich, wie ich über diese hier denke, und hören Sie beide meine Überzeugung: Ich glaube, ihr seid einander wert! Der liebe Herrgott segne euch tausendfältig!«

Innig bewegt verließen die beiden das trauliche Zimmer, nicht ohne daß Marianne ein Sträußchen Nelken und Reseden vom Fensterbrett neben dem Lehnstuhl des alten Pfarrers hatte annehmen müssen.

Im Dorf trafen sie auf Lehrer Langreuther, der ihnen sofort den Brautstand ansah. Fröhliches Necken flog hin und her, und es kam natürlich die Rede auf die demnächst stattfindende Hochzeit.

»Wir, Marianne,« sagte Hermann, als sie dann wieder allein ihren Weg heimwärts nahmen, »wir haben ja noch zu warten – nicht wahr, das wußten wir beide? Ich darf dir nicht versprechen, daß wir schon nächstes Jahr unseren Herd gründen können.«

»Oh, wir haben viel Zeit, zu warten,« sagte Marianne zuversichtlich. »Wir sind jung und gesund, und zunächst muß ich noch vieles lernen. Mit der Bücherweisheit hat's nun ein Ende. Du glaubst doch, daß man mich zu Weihnachten aus meiner Stelle hier entläßt?«

»Weihnachten schon?« konnte Hermann nicht lassen bedauernd zu fragen, da das ja erste Trennung bedeutete. Aber Marianne sagte, daß ihre Mutter wohl darauf bestehen würde, sie nun sobald und solange wie möglich noch zu Hause zu haben, und das mußte man ja begreifen.

Die erste Reise zu Mariannes Eltern, wo Verlobung gefeiert wurde, machte Lotte fröhlich mit und beteuerte immer wieder: »Seht ihr, wie gut es ist, daß ich nun gerade frei und zu haben war! Manne, nun gib mir doch einmal recht und freu dich ein bißchen, daß die Schule mich nicht mehr festhält!«

»Es ist wahr, Schwesterlein,« gestand Hermann. »Leb du noch ein Weilchen ganz für uns und mit uns, ehe die fremden Leute dich bekommen!«

Jetzt war nun schon öfter von der Hamburger Stelle die Rede. Lotte hatte mehrmals mit der Frau Konsul Briefe gewechselt und sich endlich zum ersten Februar verpflichtet. Von Neujahr an wollte sie noch allerlei Praktisches lernen und zu dem Zweck in ihre alte Pension in der Stadt zurückkehren. Die nächsten Wochen bis zum Fest aber gehörten ganz dem lieben Grünweide mit Mutter und Brautpaar. Sie wohnte jetzt ständig mit im Schulhause, was allen Angehörigen, hier wie dort, ein angenehmer Gedanke war. Mehr als einmal schrieb sie auch an Leonore Menkhausen von dem idealen Leben, das sie mit der Schwägerin führte, und erinnerte an die Zeit, in der sie beide das Schulhaus einrichteten und sich vor Neugier auf die neue Lehrerin nicht zu lassen wußten. Und nun heute? Was hatte man inzwischen erlebt!

Das fand ja Nelli auch, aber ihre Antworten auf Lottes schwärmerische oder sprudelnde Briefe klangen mitunter ein wenig kläglich. Ihre Lehrzeit schien doch nicht so einfach.

Lotte, der außer der glücklichen Gegenwart von Grünweide auch ihr Hamburger Zukunftsplan mehr im Sinn lag, als sie zeigte, fühlte sich häufig getrieben, gerade mit Nelli über Verhältnisse und Gebräuche ihrer Heimatstadt zu sprechen und sich bei ihr im voraus über allerlei zu unterrichten. So kamen diese beiden, die früher nicht recht was von eifrigem Briefschreiben wissen wollten, diesen Winter miteinander in Briefwechsel wie noch nie.

Im übrigen aber hatte jetzt Nadelarbeit den größten Reiz für Lotte. Sie mußte ja der lieben Schwägerin bei der Ausstattung helfen! Fand Marianne es auch eigentlich viel zu früh, da an Hochzeit noch lange nicht zu denken war, so eiferte Lotte: »Laß mich doch, Marianne! Wer weiß, ob ich später noch Zeit dazu habe, wenn die Fremden mich erst ganz mit Beschlag belegen!«

Während so Lotte noch recht mit Bewußtsein das Zuhause genoß, suchte Nelli sich tapfer in Lindenholm einzuleben. Es war nicht leicht für sie, denn die Verhältnisse waren ganz anders, als die ihr bisher bekannten. Die Verwandten waren alt und von Sorgen bedrückt, der Großonkel leberleidend und oft verstimmt, die Tante sanft und müde; die bejahrten beiden Töchter hatten ein freudloses Leben hinter sich und begriffen die junge Base nicht, die es bei ihrem Reichtum in Hamburg so ganz anders haben konnte, und nun freiwillig mit ihnen all die Arbeiten einer Gutswirtschaft teilte. Oft war unter ihnen davon die Rede, wie es »später« werden sollte, wenn der Vater einmal nicht mehr war und das Gut verkauft würde. Hierauf horchte Nelli und baute in aller Stille einen Plan, von dem sie aber nichts verriet.

Einmal hörte sie in dieser Zeit durch Tante Pine, daß es ihrem Vater nicht ganz gut gehe; er scheine recht nervös. Da faßte das junge Mädchen eine Unruhe und das dringende Verlangen, sich nach dem Teuren umzusehen. Als es mit kurzem. Entschluß die Reise machte und unangemeldet in Hamburg erschien, merkte es wirklich auch etwas von »Nerven«, denn der Vater freute sich ja kaum über sein Mädel, sondern schien mehr erschrocken, als ob es wieder mal einen Streich gemacht hätte. Und sie, Nelli, war doch so vernünftig jetzt! Das mußte selbst Vetter Albert zugeben, mit dem sie ganz ernste Unterredungen hatte, sogar über geschäftliche Dinge. Daß aber die Hauptsorge für den lieben Papa die Verwalterfrage für Grünweide war, daß er das Gut am liebsten verkaufen wollte, wenn Herr Matersen fortging, das machte Nelli solchen Schmerz, daß sie alles daran setzte, den Vater davon abzubringen. Es gelang ihr auch. Herr Menkhausen empfand so sehr die Einwirkung der kindlichen Zärtlichkeit, daß er sich beruhigte und sogar einen Besuch in Holstein versprach, worauf Nelli in der Stille weiter an ihren Plänen für Lindenholm baute.

Sie war noch nicht lange von Lindenholm zurück, da erhielt sie den ersten Brief von Lotte aus Hamburg, und von nun an begleiteten ihre Gedanken treulich die Freundin in den neuen Verhältnissen, in denen ja niemand besser Bescheid wußte als Nelli selber.


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