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Am Ende des Dorfes, etwas abseits, lag das Armenhaus. Fünf alte Frauen hausten zurzeit darin und hatten es wirklich auf ihre alten Tage recht gut in ihrer Art, wenn sie es auch nicht immer einsahen und recht oft was zu klagen, zu streiten und zu beneiden hatten. Eine angenehme Ausnahme machte darin die von Lotte erwähnte Mutter Conradsch. Sie war nicht nur eine hübsche alte Frau, die auf äußerste Sauberkeit hielt, sondern auch sehr verständig und von heiterer Gemütsart, ja mit einem gewissen Mutterwitz begabt.
Ein lautes, wenig anmutend klingendes Gespräch scholl den beiden jungen Mädchen entgegen. Aus drei Türen steckten die Nachbarinnen ihren Kopf hervor, jede mit einem braunen Kaffeetopf in der Hand, und alle über irgend etwas entrüstet. Es roch nach Kaffee, aber auch – nach gebratenem Speck, und das war wahrscheinlich im Augenblick der Zankapfel. Jetzt klang eine muntere alte Stimme dazwischen: »Wohrt jug (paßt auf), wi kriegen Bisäuk (Besuch). – Szüh, Lotting, dat's mal nett, dat du noch eens kümmst! Ich dacht' all, du reistest so af (fort).«
Die Kaffeetöpfe verschwanden; hier und da wurde eilig eine Schürze umgekehrt, ein Stuhl abgewischt, und dann trat die Mahlmann vor, die Jüngste von allen, die, durch einen Unglücksfall arbeitsunfähig geworden, schon so früh im Armenhause Aufnahme gefunden hatte wie sonst keine. Fühlte sie sich nun noch zu jung, oder glaubte sie sonst nicht zu den anderen zu passen, genug, sie war es eigentlich, die am meisten Ursache zum Unfrieden gab, mit ihren »giftigen Redensarten«, wie die Conradsch sagte. In diesem Augenblick aber war sie eitel Liebenswürdigkeit; sogar die Andeutung von einem Knicks brachte sie zustande, wobei sie sich nur an Leonore wandte: »Oh, das gnäd'ge Fräulein gibt uns auch die Ehre? Das können wir ja gar nich verlangen, wir armen Alten! Will gnä' Fräulein sich 'nen Momang setzen in meine Stube, oder is es bloß Frau Conrad zugedacht mit die Fisiten?«
Da sie ihre Tür weit aufgemacht hatte und es drinnen leidlich sauber schien, trat Leonore über die Schwelle, allerdings in ziemlicher Verlegenheit, was sie nun tun und sagen sollte. Lotte, die schwatzte schon drüben im anderen Stübchen; die ließ die Freundin im Stich. Diese brauchte sich übrigens nicht lange zu besinnen, denn Frau Mahlmann entfesselte einen wahren Redestrom, immer hochdeutsch. Nelli verstand sie also ganz gut, aber sie fühlte sich zugleich ziemlich abgestoßen von dieser Art, dem vornehmen jungen Fräulein zu schmeicheln und dann gleich wieder über den eigenen Zustand mit Bitterkeit zu klagen und alberne Vergleiche zu ziehen. Die Frau hatte ehedem in Herrschaftlichen Häusern gedient und sich dann in der Stadt verheiratet. Früh Witwe und sehr leidend geworden, hatte man sie in ihrem Heimatsort Grünweide ins Armenhaus genommen; aber sie spielte unter den Dorfweibern noch immer die Vornehme. Zu trösten und gut zuzureden, wie Nelli sich immer den Verkehr mit Armen gedacht hatte, war da nicht. Am besten war wohl, sie verlegte sich aufs Loben. Sie bewunderte also die Blumen, die in Töpfen am Fenster blühten, fragte, wen die Photographie über dem Bett darstellte, und erfuhr, daß es ein »Exzellenzenfräulein« war, bei deren Mutter die Mahlmann früher gedient hatte. Sie begutachtete sogar das Stück Speck auf dem Holzbrett, das die Frau gerade angefangen hatte in Würfel zu schneiden, um es auszubraten.
»Lassen Sie sich ja nicht bei Ihrer Arbeit stören,« sagte nun Leonore, die Mahlmann aber wehrte: »I, wo werd' ich, wenn ich so vornehmen Besuch hab' – so viel Zeit hat unsereins auch noch! So als ich man höre, reisen gnä' Fräulen ab; da hat man fürs erste ja nicht wieder die Ehre. Wollen Sie denn noch lange zur Schule gehn? Mich dünkt, gnä' Frölen sind schon so schön groß; da könnten Sie eher ans Heiraten denken. Na, das wird ja dann nachher auch nicht mehr lang' dauern.«
Leonore wandte sich geärgert ab. Lachen konnte sie gar nicht; diese Frau war ihr zuwider. Freilich hatte Lotte sie schon belehrt: »Diese Art Leute reden immer gern was vom Heiraten.«
Auch die Conradsch war diesmal wieder bei dem Unterhaltungsstoff, indem sie sich äußerte, daß ihr Liebling Hermann Matersen nun wirklich bald an eine Frau denken müsse.
»Nich, dat sin Mutting em (ihn) nich miehr versorgen künn, Lotting, äwer (aber) dat is nu doch so an de Tid (Zeit). Un so'n staatschen Kierl kann äwerall ankloppen!«
»Sogoar bi di, Conradsch,« neckte Lotte, und die Alte drohte: »Du nimmst mir dat doch nich äwel (übel), Lotting, dat ick so'n Snack (Spaß) malt (gemacht) heww (habe)? Eegg (sage) em dat man nich wedder, lütt Diern.«
Dabei lachte sie so herzlich, daß Leonore ganz eifersüchtig durch die offene Tür herübersah und von ihrer redegewandten bittersüßen Frau Mahlmann wegstrebte.
In dem anderen Stübchen fand sie die Alte mit einer großen Näharbeit beschäftigt, bei der sie sich auch durch Leonorens Eintritt nicht stören ließ. Von Lotte Matersen nahm sie sogar an, daß sie ihr ein paar Nähnadeln einfädle auf Vorrat. Als Leonore sich auch etwas schüchtern dazu erbot, sagte sie: »J ja, lütt Frölen, dat nehm' ick an' dat is so wat für junge blanke Oogen (Augen). Lotting, de weit (weiß) dat all, dat dat mit mi nich mihr so fix geiht (geht).«
»Haben Sie kranke Augen, Frau Conrad,« fragte jetzt Leonore freundlich. »Da müßten Sie wohl mal damit zum Arzt?«
»O nee, nee, Frölen, dat's bloß dat Oller (Alter)! Denn nimmt dat allens 'n bäten af (ein bißchen ab), dat Sehen un Hüren (Hören) un Lopen (Laufen); dat is nich anners. Blot dat Mulwark (Mundwerk), dat geiht noch, bisonners, wenn 'n so nüdlichen Bisäuk hett. Dat freut mi doch, dat Sei ook ens kamen sünd. So, nu is't ook naug (auch genug), Frölen! Mihr Neihnadels heww ick nich; mit dit Regiment kam ick oot ut bei (bis) morgen, denn denk' ick noch doarbi an de lütt Frölens.«
Leonore war entzückt.
»Was nähen Sie da eigentlich, Conradsch?« fragte sie, auf das grobe, dunkelblau karierte Zeug deutend.
»Bettzeug,« sagte die Alte wichtig, »'n bischen düster, denken Sie woll, aber das ist praktisch. Früher, da hatt' ich immer rosa Zeug, aber nu amesiert (amüsiert) mi dat nich mehr.«
»Reizend – einfach reizend,« flüsterte Nelli der Freundin zu, als die Alte aufgestanden war und horchend an die Verbindungstür trat, die zur Nachbarin führte.
»Nu dauhn's (tun Sie) mi den Gefallen un kiken's (sehen Sie) noch bi de oll (alte) Stillingsch in, Frölen. Dei liggt tau (zu) Bett un möt väl uthollen (muß viel aushalten); denn süht's ook giern (sieht sie auch gern) mal 'n fründlich Gesicht.«
»Ja, komm, Neil,« bat Lotte eifrig, »die Stilling wird dir gefallen.«
Im Nebenstübchen, das besonders sonnig war, lag eine uralte Frau im Bett, von der Gicht verkrümmt und fast bewegungslos. Nur die eine Hand hob sie auf wie in Freude, als sie Lotte erkannte.
»Büst du dat, Lotting? Wen hest du denn doar mitbröcht (mitgebracht)?«
»Das Fräulein vom Hof,« sagte Lotte sehr laut, so daß Leonore merkte, daß diese Alte fast taub war. Deren Augen lagen zudem tief in den Höhlen und hatten so matten Blick, daß hier die Frage nach dem Augenarzt Nelli wieder angebracht schien; aber sie sah jetzt eine große Brille auf dem aufgeschlagenen Gesangbuch und fragte nun, sich tief herabbeugend: »Können Sie noch lesen, Frau Stilling?«
Da wurden die Augen etwas größer und die Alte antwortete: »Väl (viel) nich, äwer (aber) in min schönes Bauk (Buch), wat de Herr Entspekter mi bisorgt hett, dat hett so'n groten (großen) Druck. Doar schlag' ick mi wat up, wenn ick den Anfang weit (weiß) un nich wider (weiter) kann. Nich so, Conradsch, wi seggen (sagen) uns männigmal wat up (was auf)?«
Die Nachbarin nickte. »Stillingsch weiß am meisten von uns; dat is ihren ganzen Trost.«
Die Kranke hörte jetzt nichts; sie fingerte mit der einen, leidlich beweglichen Hand an der Brille, denn sie wollte ihrem Besuch was vorlesen zum Beweis, daß sie noch nicht ganz unfähig sei. Lotte sah, wie sie sich mühte, und bange, daß sie sich mit dem Brillenbügel am Auge oder Ohr verletze, nahm sie ihr das Glas ab und setzte es ihr rasch und geschickt auf. Nelli schaute so aufmerksam zu, als wolle sie sich jede Handbewegung der Freundin merken, wie sie ihr schon so manches abgeguckt hatte. Jetzt hatte die Kranke mit kundiger Hand das Buch aufgeschlagen und las mit der lauten eintönigen Stimme der Harthörigen ein Lied.
»Was hier kranket, seufzt und fleht,
Wird dort frisch und herrlich gehen;
Irdisch werd' ich ausgesät,
Himmlisch werd' ich auferstehen.«
Bei diesem Verse sah sie nicht mehr ins Buch, sondern richtete den Blick auf die beiden Mädchen. »Dat's min Trost, Kinnings (Kinder), ›frisch und herrlich gehen‹! Oh, was ich mich dazu freu'!«
»Ja, Ollsching, denn löppst (läufst) du uns noch all' vörbi (vorbei),« sagte die Conradsch und trocknete heimlich die Augen.
»Wär's man bald so weit,« sagte wieder die Kranke, aber die andere redete zu: »Nahwersch (Nachbarin), dat hett noch Tid (Zeit). Bliw (bleibe) man noch 'n bäten (ein bißchen) bi uns; wi bruken (wir brauchen) di noch.«
»O wat, wer brukt mi noch?«
»Ick, Stillingsch! Du büst för mi as 'n Preister (wie ein Priester), von di lihr' (lerne) ick Geduld und allens.«
Wie sie so laut und deutlich sprach, erschien im Gang vor der Tür wieder die Mahlmann horchend und bemerkte zu der etwas blöd und gleichgültig dreinschauenden Derlinsch, der vierten Bewohnerin des Armenhauses: »Doar ward wull all wedder predigt?«.
Ziemlich spöttisch sah sie dazu aus, als aber die jungen Mädchen herauskamen, fragte sie wieder ergebenst: »Gnä' Fräulein haben sich wohl recht erbaut bei Stillingsch?«
Die Freundinnen traten jetzt ins Freie, und Leonore sagte tief seufzend: »O Lotte ich bin ganz zerknirscht! So kann es sein, wenn man alt wird?! Und wie verschieden tragen sie es alle! Aber sag mal, Lotte: glaubst du, daß sie es hier verhältnismäßig gut haben, oder könnte noch mehr zu ihrer Erleichterung geschehen? Wenn ich später ganz hier wohne, dann will ich mich doch recht viel um alles kümmern – ja ganz gewiß – und wenn die rührende alte Stillingsch dann nicht mehr lebt, ist sicher wieder ein anderes altes Würmchen da, dem man mal eine besondere Freude machen kann.«
Lotte war gerührt über den Eifer der Freundin und dachte: »Was ist die Nell doch für ein gutes Ding, trotz ihres gelegentlichen Übermutes!« Sie faßte sie unter und fragte herzlich: »Meinst du wirklich, daß du hier später ganz wohnen wirst, Nell? Wird dein Vater das zugeben?«
»Ich weiß nicht,« sagte die andere träumerisch, »aber ich wünsche es mir. Sieh, Lotti, ihr redet doch alle immer so viel von Beruf und Tätigkeit; in der Pension tun sie das ebenso. Wenn auch einige da sind, die nur von Reisen, Theater und Gesellschaften schwärmen, es ist doch die kleinere Zahl, und ich – ich möchte nicht mehr zu ihnen gehören. Die anderen wollen alle etwas werden, Lehrerinnen, Erzieherinnen, Künstlerinnen oder so was. Zu dem allem würde mein Papa ja nun nie seine Einwilligung geben, und ich habe auch gar keine Lust dazu. Aber Gutsherrin, eine richtige, tüchtige, die alles kennt, was zu ihrem Besitz gehört, an alle sorgend denkt, die für sie arbeiten – das – das denke ich mir schön! Glaubst du, daß ich es bewältigen kann?«
Lotte nickte nachdenklich. Noch nie hatten die jungen Mädchen so ernsthaft miteinander gesprochen, wie heute nach diesem Besuch im Armenhause.
»Bald kommt unser letzter Tag hier,« sagte zuletzt Lotte, »weißt du wohl noch, Nelli, wie wir vor vier Wochen anfingen mit Zank und Böswilligkeit!?«
»Erinnere mich nicht daran,« fiel Nelli rasch ein. »Ich war ein Schaf! Aber ganz allein meine Schuld war's nicht, Lotte, das glaube mir.«
»Das weiß ich, Nell! War es deine eigene Schuld, so hätten wir uns nicht so schnell in Freundschaft wiedergefunden.«