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Viertes Kapitel: Die Familie des Verwalters

Wenn Lotte Matersen mit der Kindheitsgespielin auch ganz in den lustigen, ungebundenen Ton einstimmte, hatte sie doch schon manches vom Ernst des Lebens kennen gelernt. Als jüngstes Kind, sozusagen Nachkömmling der Familie, hatte sie nicht mit Bewußtsein die Zeiten mehr erlebt, in denen auch ihre Heimat ein stattliches Haus auf einem großen Gutshof war. Zwei Schwestern waren schon verheiratet, der einzige Bruder hatte eben das Gymnasium verlassen und sollte auf ein Jahr zur Universität gehen, als die großen Veränderungen in Roggenfelde kamen. Schlechte Jahre mit Mißernten und Viehsterben brachten einen bedrohlichen Rückgang in den Verhältnissen des Kammerpächters Matersen.

Er mußte die Pachtung abgeben und zog nun einstweilen in eine kleine Stadt, wo es sich billig lebte, wo er aber seine gewohnte vielseitige Tätigkeit schwer entbehrte und sich gar nicht wohl fühlte. Seine Gesundheit verschlechterte sich zusehends. Die kleine Lotte, das geliebte Nesthäkchen des Vaters, war gerade vier Jahre alt, als dieser gute Vater starb, und nur eine ziemlich undeutliche Erinnerung behielt das Kind an die Gestalt des Vaters, der groß und breit, meistens ernsthaft und nur gegen seine Kleinste allezeit freundlich und wohl auch zu kleinen Scherzen aufgelegt war.

Bruder Hermann sollte ihm ja so ähnlich sehen, sagte oft die Mutter, und so kam es, daß die kleine Lotte den großen Bruder von früh wie eine Respektsperson ansah, zugleich aber mit einer bewundernden Zärtlichkeit.

Hermann hatte nach dem Tode des Vaters gleich sein akademisches Jahr abgebrochen und war in eine praktische Lehre getreten. Da er in einem großen landwirtschaftlichen Betrieb aufgewachsen und von klein auf des Vaters Kamerad auf dem Felde wie in den Ställen gewesen war, zeigte er sich früher als mancher andere befähigt, einen verantwortungsvollen Posten anzunehmen. Mit noch nicht fünfundzwanzig Jahren bot sich ihm die Stellung eines völlig selbständigen Verwalters auf dem schönen großen Besitztum des Geheimen Kommerzienrats Menkhausen und zugleich, o Glück, die Möglichkeit, die geliebte Mutter zu sich zu nehmen!

Frau Matersen, die durch die Schicksalschläge äußerlich wohl früher gealtert war, als ihre Jahre anzuzeigen hatten, besaß doch noch große Entschlossenheit und rüstige Arbeitskraft. Ebenso wie ihr Mann im letzten Jahr, hatte sie schmerzlich das weite Arbeitsfeld einer Gutswirtschaft vermißt, so daß sie es tief aufatmend begrüßte, als Hermann eines Tages mit der Nachricht kam: »Mein Mutting, du kannst wieder aufs Land!«

Dankbar ging sie auf alle Bedingungen ein und rief: »Hermann, mein Junge, das ist wahrlich ein Glücksfall! So kann ich doch bei dir bleiben, bis – nun ja, bis jemand anders die Sorge für dich übernimmt, eine junge Frau bei dir einzieht!«

»Na ja, Mutting, und damit hat es gute Wege fürs erste, denn einen verheirateten Verwalter will Herr Menkhausen nicht halten; das steht in den Bedingungen. Aber meine Mutter darf ich mitbringen.«

So wurde die elfjährige Lotte in der Stadt zurückgelassen, in einer einfachen Pension, wo sie nie das Heimweh überwinden lernte. Goldene Lichtpunkte wurden nun die Ferien, in denen es nach Grünweide hinausging, wo sie außer Mutter und Bruder meistens auch Leonore Menkhausen sehnlich ihrer wartend fand.

Herrlich waren diese Zeiten der Kinderfreundschaft gewesen, bis durch Leonores Eintritt in die Genfer Pension alles anders wurde. In dem folgenden Sommer kam sie nicht auf das Gut, vielmehr reiste der Geheimrat in die Schweiz, um sein Töchterchen für ein paar Wochen der Pension zu entführen und mit auf schöne weite Ausflüge zu nehmen. Geschrieben hatten sie einander inzwischen wenig.

So war es nicht unnatürlich, wenn die Freundinnen, trotz aller Freude auf das Wiedersehen, unbewußt auch auf ein kleines Fremdgefühl gefaßt waren, was nun durch die besonderen Umstände und allerlei unvorsichtige Reden noch genährt war, bis sie mit der alten Unbefangenheit sich wieder zusammenfanden. Wohl entdeckten sie allerlei Veränderungen aneinander. Lotte war ernster, als Nelli gedacht hatte, und diese wiederum wagte oft nicht, ihrem Übermut so die Zügel schießen zu lassen, wenn die Freundin ihren »gesetzten« Tag hatte. Daß dies jetzt öfter vorkam, war nicht unnatürlich.

Noch immer lastete ja der Druck wegen der unaufgeklärten Brandstiftungen auf dem kleinen Hause, und immer wieder erhoben sich allerlei Redereien. Ja, man machte sogar den Gerichten den Vorwurf, daß sie die Angelegenheit nicht weiter verfolgten, sondern jetzt einfach ruhen ließen.

Nachdem Geheimrat Menkhausen sich zuerst gründlich erregt und geärgert hatte, beruhigte er sich jetzt. Der Schaden focht den reichen Mann nicht viel an. Eine neue Schafherde war eingestellt, die Versicherung wieder abgeschlossen, die neue Scheune schon im Bau begriffen, und sein junger Verwalter erwies bei allem die größte Umsicht und Tüchtigkeit. Ruhig und zielbewußt ging er seines Weges. Nur die Frische und Freudigkeit seines Wesens war weg, und die Mutter dachte oft: »Wer nimmt uns das wieder ab, daß mein Sohn vor den Schranken gestanden hat?« Herr Menkhausen merkte dies wohl und tat alles, die Stellung seines jungen Verwalters zu heben, indem er ihn, soviel es nur anging, in seine Nähe zog und ihn auch an der nachbarlichen Geselligkeit teilzunehmen ermunterte.

Der Geheimrat selbst hatte sein Vergnügen an der Rolle des Gutsbesitzers wiedergefunden, die er nur kurze Zeit im Jahr spielen konnte. Er ging fleißig auf die Jagd, ritt und fuhr auf die Nachbargüter und sah auch bei sich gern Besuch, so daß Frau Matersen manches Mahl fein anzurichten hatte und sich von den beiden jungen Mädchen gern helfen ließ, beim Schmücken der Tafel und so weiter.

Hermann Matersen aber, wenn er einen Wildbraten in die Küche geliefert oder das Fischen in den Teichen beaufsichtigt hatte, fand immer Einwendungen und Ausreden, um an der Geselligkeit nicht teilzunehmen.

Lotte war oft recht traurig darüber und umgab Hermann mit schmeichelnder Zärtlichkeit, ohne jedoch viel mehr zu erreichen, als daß er ihr über das Haar strich und sagte: »Arme kleine Dirn, hast gar nichts mehr von dem großen Bruder?«

»Viel ist es ja nicht,« gestand sie dann kleinlaut. »Nell klagt auch, daß du nicht mehr so nett bist wie früher.«

»Kindchen, die Zeiten ändern sich,« sagte er dann wohl obenhin, während er heimlich dachte: »Kann das kleine Fräulein sich wundern über Zurückhaltung meinerseits? Hat es nicht gerade zuerst mir eine verächtliche Miene gezeigt?«

Der gute Hermann übertrieb natürlich. Wäre er nicht immer noch in einem gewissen gereizten Zustande gewesen, hätte er sich sagen müssen, daß Leonore Menkhausens Benehmen am ersten Tage aus einer kindlichen Unsicherheit entsprang, an der sie viel weniger schuld war als ihre Umgebung. Das hätte er nun längst begreifen und verzeihen müssen, und er selbst glaubte auch eigentlich, so weit zu sein; aber, wie gesagt, die heimliche Empfindlichkeit blieb, und es kamen Augenblicke, in denen er den Gedanken erwog, ob er nicht besser täte, seine hiesige Stellung aufzugeben und in eine ganz andere Gegend zu gehen. Aber – nicht rasch und unüberlegt durfte er das Sichere aufgeben, ehe er etwas Entsprechendes wieder hatte. So blieb nur die Hoffnung, daß es seinem unablässigen stillen Forschen gelingen müsse, schließlich doch noch den geheimnisvollen Brandstifter herauszubringen, damit er, auf den dann nicht mehr der leiseste Schatten eines Verdachts fallen konnte, den Kopf wieder hoch tragen durfte in jedem Augenblick.

Zuerst hatte Lotte ihn noch oft mit Fragen beunruhigt, mit gutgemeinten Tröstungen gequält oder auch mit Mutmaßungen, wie man der Sache auf den Grund kommen könnte, zum Lachen gebracht. Er neckte sie dann wohl, die Schwester solle doch Jura studieren; da stände ihr vielleicht eine erfolgreiche Laufbahn als Untersuchungsrichter oder Staatsanwalt in Aussicht. Das konnte dann Lotte ganz ernst nehmen und versichern, solche Möglichkeiten gäbe es jetzt ja wirklich für »die Frauen«, wie sie großartig sagte – zu Hermanns Ergötzen, der in der siebzehnjährigen Schwester noch immer das »Kind« sah. Diese wußte sich schadlos zu halten, indem sie der Freundin möglichst zu »imponieren« suchte durch ihre Kenntnis von modernen Frauenberufen und den Wegen, wie man dazu gelangte.

Leonore fand das wohl auch ganz interessant, aber in bezug auf den Brand in Grünweide war es ihr etwas zu weit aussehend, daß Lotte Matersen als findiger Jurist dahinterkommen sollte. Lieber erging sie sich in Phantasien, wie man, wenn durch einen Zufall jetzt doch bald der Täter entdeckt werden sollte, den verunglimpften Verwalter feiern und ein Fest im Herrenhause geben müsse, dessen Held Hermann Matersen sein würde.

Darauf entgegnete jedoch Lotte ziemlich trocken: »Das wäre nun wenig nach meines Bruders Sinn, Nell – es sähe ja aus, als müsse man durch äußeres Anfeiern seine innere Ehre wieder rein waschen.«

Dann schalt Leonore die Freundin pedantisch und schloß damit: »Die Matersens nehmen alles viel zu ernst! Ein anderer als Hermann dächte längst nicht mehr an die dumme Geschichte.«


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