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Heute bin ich angekommen in Grünweide. Oh, wie mein kleines Haus an der Dorfstraße mich anheimelte, als ich es zu Fuß erreichte! Man hatte mir einen Wagen an die Bahn geschickt, aber ich ließ ihn kurz vor dem Dorf halten, um in ruhigem Wandern und möglichst unbemerkt meinen Einzug zu halten. Nun hat schon auf dem Herd das erste Feuer gebrannt – erster Lampenschein füllt das Zimmer – ja, schon Lampenlicht, denn wir haben ja bereits die kürzeren Augustabende, an denen man nicht mehr sagen darf, man »weiß nicht, wo der Leuchter steht«, was Jean Paul unter die vielen Kennzeichen des Hochsommers rechnet.
Übrigens, meiner wartete eine wohlgefüllte, sauber geputzte Lampe – ich fand überhaupt alles, alles bereit. Wer nur so für mich gesorgt haben mag, so mit Bedacht – ja ich möchte sagen, mit Liebe? Wie das am völlig fremden Ort wohltut, an so besonderem Wendepunkt des Lebens!
Hier soll ich nun ganz selbständig hausen und die Dorfjugend regieren! Werde ich es denn können? Müßte mir nicht bange sein?!
Ich bin hinausgetreten vor die Tür, denn wie ich vom ersten Lampenschein schrieb, fiel mir ein, daß ja jetzt, im August, die Zeit der Sternschnuppen ist. Ich wollte einen Wunsch bereit haben – und wie ich so von draußen durch das kleine berankte Fenster in mein helles Zimmerchen sah, was war natürlicher als der Gedanke: ›Oh, daß ich hier heimisch werden könnte!‹ Dann aber hatten sich schon meine Hände gefaltet zu der Bitte: »Lehre mich, Herr, wie ich lehren soll – ziehe mich recht, daß ich andere ziehen und zu dir bringen kann!« Da – schoß es hell und leuchtend über mir dahin. Nun bin ich getrost!
Heute gleich mit der Schule anfangen? Nein, ich muß doch wohl warten; es wird vielleicht jemand kommen und mich einführen.
Bis jetzt habe ich nur ein altes Weiblein gesehen, das zutraulich dabeistand, als ein kleines flachshaariges Dirnchen mit einem großen Topf erschien und sagte: »Ick bring' de Melk (Milch).« Wie gut, daß ich Plattdeutsch kann! Die Alte erklärte denn auch gleich: »Sei wull (wollte) nich allein her, ick müßt' mit.«
Nun wandte ich mich – schrieb Marianne weiter – zu der Kleinen: »Du büst doch nich bang' vör mi?« Da schüttelte sie den Kopf und sagte beherzt: »Nee, ick kam' ook tau Schaul (gehe auch in die Schule).«
Ich nahm sie nun mit in die Küche, wo sie ihre Schätze ablud, außer der Milch köstliche Butter und ein frisches Brot.
»Wer schickt dich?« fragte ich, und »Madam',« war die Antwort, »sei hett hüt (heute) backt.«
Ich bestellte Gruß und Dank zurück an diese unbekannte Dame und schickte mich an, auf dem Herd ein Feuer zu machen, denn ich mußte mir ja Kaffee kochen. Zu Hause brauchte man nur ein Gasflämmchen dazu anzuzünden – hier lag kleingemachtes Holz sauber geschichtet bereit und in einer Kiste Torf, den ich gar nicht kenne! Gestern hatte ich rechte Mühe damit; auch heute ging es langsam, und der Torf schwelte nur.
»Hei is woll natt (naß)?« sagte die kleine Stimme hinter mir in altklugem Ton; das Kind stand noch da, mich neugierig beobachtend, und ich dachte: »Die wird es nun ausbringen im ganzen Dorf: ›Füer (Feuer) kann's nich anböten‹ (anzünden).«
Ich schickte sie also freundlich nach Hause und wirtschaftete allein weiter. Zu Mittag wollte ich mir Eier in die Pfanne schlagen; mein großer Vorrat fordert dazu heraus. Dann noch Schinken – o diese ländliche Herrlichkeit in meiner Speisekammer! Ob im Gärtchen wohl Salat zu finden war? Natürlich! Einen krausen, dichtgeschlossenen Kopf konnte ich mir ausziehen. Dann schälte ich mir sechs Kartoffeln – eigentlich nur aus Neugier und Lust zur Sache – ich hätt' ja sonst ebenso gern Brot zu meinen Eiern gegessen. Aber, aber –! Zeugen diese meine ersten Aufzeichnungen von dem Eifer einer Lehrerin?
Ach, es war so allerliebst, meine eigene kleine Wirtschaft in Besitz zu nehmen – das darf mir niemand verargen! Ich verließ nun aber doch meine Küche und begab mich an den Arbeitstisch. Ein herrlicher Sekretär ist es, Altmahagoni und wundervoll gearbeitet! Mit wahrer Wonne habe ich ihn eingeräumt – getan aber doch noch weiter nichts daran, als in dies Buch geschrieben, und zuallererst einen Brief an die Eltern. Sie verfolgen mich ja doch unablässig mit ihren Gedanken, besonders du, Mama! Also sollst du schnell, schnell teilhaben an meinen ersten Eindrücken!
Dir war es ja nicht ganz recht, daß ich hierher ging. Zu jung fandest du mich für diese Selbständigkeit, zu einsam denkst du dir mein Leben in dem Dorf. Du, Vater, du verstandest mich und machtest mir Mut. Von dir hab' ich's ja gelernt, mit Kindern umzugehen. Du hast nichts weiter dazu gesagt als: »Die Kinder im Spital werden dich vermissen, Marianne, und ich auch!«
Freilich, aber dafür werde ich nun anderen Kindern dienen. Dazu habe ich ja doch gelernt und das Examen gemacht – weil Mutter nicht wollte, daß ich Krankenschwester würde, was zuerst mein Plan war. Immer schonen wollte sie mich und heiter, glücklich sehen! Oh, ich weiß wohl, in welcher Richtung für sie einzig das Glück zu liegen scheint; sie ist ja eine so sehr, sehr glückliche Frau – ihr Haus ihre Welt, Mann und Kinder ihr größter Reichtum.
»Nun, Mutterchen, deine Tochter ist ja noch jung,« sagte Vater, »laß sie immerhin erst dienen, damit sie dermaleinst richtig zum Herrschen gelangen kann.«
Oh, Vaters liebenswürdig schlaues Blinzeln dabei und Mutterchens zartes Erröten! Nein, herrschsüchtig ist sie wahrlich nicht, unser geliebtes sanftes Mutterchen, und Vater weiß das auch ganz genau. Aber ich, ich werde nun doch wohl einen kleinen Anlauf zum Herrschen nehmen müssen, denn dreißig Dorfkinder, die wollen regiert sein; in sanften Flötentönen wird man das nicht immer machen können.
Der Gemeindevorstand war da; zwei würdige Männer des Dorfes haben mich willkommen geheißen – in hochdeutscher Rede zwar, aber mit einiger Mühe, so daß ich unwillkürlich einmal plattdeutsch geantwortet habe. Da hat der eine überrascht und erfreut ein bißchen gelacht, der andere eher beleidigt ausgesehen. Ich muß mich also hüten, ihnen zu zeigen, daß ich ihnen keine Bildung zutraue. Sie haben mich dann in das Schulzimmer auf der anderen Seite des Hauses geleitet und mir jedes einzelne vorgestellt: die Wandtafel, voll Stolz eine neue Landkarte und einige Bilder für den Anschauungsunterricht.
»Hett all' de Entspekter bisorgt,« sagte einer von den Gemeinderäten, und der Hochdeutsche beeilte sich, hinzuzufügen: »Die Herrschaft is nämlich nich ein (da), sonst würden der Geheime Rat und das gnä' Frölen sich gewiß die Ehre geben.« Worauf wieder der andere: »Wenn noch wat fehlt, Frölen, denn wennen's sick an mi (wenden Sie sich an mich). Dint' is doch woll doar –« dabei guckte er in alle Tintenfässer – »un ook Krid' (Kreide)?«
Ich erfuhr nun, daß mein Gönner das Gasthaus im Dorf und zugleich einen kleinen Laden hält, den er mir für vorkommende Fälle empfahl, wenn einmal etwas in der Wirtschaft fehlen sollte. Ich sprach nun meine Freude aus, daß ich alles so wundernett eingerichtet gefunden und noch nichts entbehrt hätte. Da sagte Herr Thielke schmunzelnd: »Ja, sei is gaut, de Madam, un de Frölens hebben hier wirtschaft't, dat dat 'ne Lust wier (war). Die lütte Gnedige von'n Hof hat noch zuallerletzt Schmierseife bei mich gekauft. Äwerst nu sünd's wedder tau Schaul' und de Madam sitt (sitzt) mit 'n legen Faut (kranken Fuß) – is gistern tau Schaden kamen. Ja, und der Herr Verwalter, der hat zur Stadt gemußt, wieder vors Gericht,« erzählte der Hochdeutsche und machte dann eine bedeutsame Pause.
Jedenfalls wollten sie mir begreiflich machen, warum noch niemand »vom Hof« sich nach mir umgesehen hätte, und das erkannte ich als gut gemeint. Was es aber mit dem Verwalter vor Gericht für eine Bewandtnis hat, das weiß ich noch nicht. Der Knecht, der mich von der Station herfuhr, munkelte auch so was, aber ich mochte nicht fragen.
Sie gaben mir nun noch eine Liste, worin all' die Schulkinder mit Namen vermerkt sind, und ich hatte nachher Zeit, mir einzuprägen, wie viel Krischan, Korl, Marieken, Stiene und Mine ich zu erwarten habe.
So, der Anfang wäre gemacht, und es ist über Erwarten nett gegangen. Nach dem Gebet habe ich ihnen zuallererst eine biblische Geschichte erzählt und dann versucht, sie abzufragen. Einige antworteten tapfer, wenn auch unbeholfen; andere starrten mich mit offenem Munde an und brachten nichts hervor. Ein Mädchen in der hintersten Bank kicherte unausgesetzt und stieß die Nachbarin an, schon während ich erzählte. Diese Unaufmerksame gerade rief ich mir nachher auf. Natürlich wußte sie nichts, und ich hielt meine erste Ermahnungsrede. Eine Kleine aber, dicht vor mir, die tat es mir gleich an. Ihre großen blauen Augen ruhten unausgesetzt auf mir, aber nicht in neugierigem Staunen – ich möchte eher sagen, mit Hingebung. Sie verlor kein Wort, antwortete und sprach sogar zusammenhängend, obgleich ich sie für eine der Jüngsten hielt. Diese kleine Anning Kasten wird gewiß mein Liebling! Aber nun heißt es wieder sich hüten vor Bevorzugung!
Nachher kam dann Lesen, Schreiben, Rechnen; da waren die Leistungen sehr verschieden. Beim Rechnen taten sich allerdings zwei Buben hervor, und ich merkte mir, das waren Christian und Johann Thielke, jedenfalls die Söhne des einen der Gemeindeältesten. Die hatten in der Gaststube und im kleinen Laden gelernt, mit Zahlen umzugehen. Nette offene Gesichter haben sie, dagegen sitzt in der letzten Bank einer, dessen Ausdruck mich quält. Er wußte auch nichts, las zum Erbarmen, schrieb anscheinend nur mit Klecksen und antwortete auf Fragen überhaupt nicht. Stumpf blickten die Augen, und doch konnte plötzlich ein unheimliches Blitzen hineinkommen. In der Zwischenstunde hielt er sich abseits von den anderen, die zum Teil in dem abgegrenzten Schulhof lärmten – ohne aber meinem kleinen Garten zu nahe zu kommen – zum Teil mich in kleiner Entfernung umringten und beinahe ihr Frühstücksbrot vergaßen, weil sie mich immer beobachten mußten.
Plötzlich bekam der blöde Junge, den sie Hinrich genannt hatten, die Sprache zurück und meldete, daß in der Küche was überkoche. Ich hatte nichts bemerkt und in dem Bewußtsein, daß nur der Wasserkessel auf dem Herd stand, mich weiter nicht darum gekümmert. Als ich jetzt die Tür aufmachte, merkte ich einen ganz schwachen brenzlichen Geruch; schnell sah ich nach – ein wenig Wasser war auf die Herdplatte gespritzt. Ich begriff gar nicht, wie man das im Schulzimmer hatte riechen oder gar das Knistern hören können, und dachte darüber nach, wie wunderbar die Naturgaben verteilt sind. Dieser anscheinend im Geistigen so verkürzte kleine Mensch, zeigte plötzlich so auffallend scharfe Sinne!
Ja, ich hatte viel zu denken nach diesem ersten Schulmorgen. Im ganzen kann ich zufrieden sein. Die Haltung der Kinder, die in der unfreiwilligen Pause natürlich etwas verwildert ist, werde ich schon bessern. Einige hatten sich in der Bank recht hingeflegelt; die haben gleich ihre Ellbogen ein wenig fühlen müssen, womit ich sie auf den Tisch stuppste. Auch den kichernden Mädchen will ich es beibringen, daß sie die biblische Geschichte als das Heilige ansehen, dem man auch äußere Ehrfurcht schuldet.
Am Nachmittag habe ich Handarbeitstunde gegeben. Das war sehr hübsch! Ohne die Knaben war es doch weit einfacher, mit den Mädchen fertig zu werden, und wenn sie auch mal ein bißchen schwatzten, schadete es am Ende nicht. Sie hatten ihre Strickzeuge ganz leidlich in Ordnung; einige von den Größeren brachten natürlich auch die beliebten Häkelspitzen, je breiter, desto lieber. Die habe ich mir gleich freundlich verbeten.
»Häkeln könnt ihr schon ganz hübsch, wie ich sehe; das brauchen wir in der Schule nicht zu üben. Wir wollen lieber sehen, ob ihr einen Flicken einsetzen und Strümpfe stopfen könnt.«
Wieder ein Anstoßen und Lachen, auch wohl halblautes Murren, dann sagte eine von den Grüßten: »Uns' oll' Tanten hett uns ümmer häkeln lassen.«
Ich dachte, das sei freilich am einfachsten, aber ich kann es nicht sehen, wenn sie mit dem unnützen Kram die Zeit hinbringen. »Tanten« war die Schwester vom alten Schullehrer, die für die Mädchen des Dorfes ein übriges tat; eigentlich Lehrerin war sie wohl nicht. Ich sollte mir also kein Urteil erlauben über ihre Art, die Kinder zu beschäftigen. Ich selber aber muß natürlich meinen wohldurchdachten Arbeitsplan haben.