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Der letzte Tag.
Ginstermann stand fröstelnd am Fenster und sah ihn grau über die Dächer kommen. Und voller Bangen frug er ihn in sein verschlossenes Antlitz hinein: Was bringst du mir?
Er hatte versucht zu schlafen, umsonst. So war er wieder in seine Kleider geschlüpft und auf und ab gegangen in seinem Zimmer, auf und ab, diese dunkle, ewige Nacht voller seltsamer Rufe und gequälter Schreie hindurch.
Was wird morgen sein, was wird morgen sein? frug seine Qual.
Bianka war für ihn ein großes Feuer, durch das ihn das Geschick peitschte. Wie würde er hervorkommen? Würde es ihn verbrennen?
Liebe Freunde, er wollte sich ja zusammennehmen. Er wollte ja ringen, soweit seine Kräfte reichten. Aber tief in seinem Innern, da lebte eine verzweifelte Überzeugung: er sah einen schwanken und stürzen. Er wollte kämpfen, so lange es ging.
»Wer gab dir diese Macht, Bianka?« rief er aus. »Ein Lächeln von dir kann mich selig machen, du kannst mich in ein Land schicken, von dem kein Schiff mehr zurückkehrt. Mache meiner Qual ein Ende, so oder so, heute mache ihr ein Ende. O Vernunft, wie ohnmächtig bist du!«
Alle Kämpfe der letzten Monate tobten in ihm, alle zugleich, und diese dunkle Einsamkeit stand vor ihm, starr, unerbittlich, riesengroß, wie sein Schicksal selbst, zu dessen Füßen er lag.
Dumpf schlugen die Uhren. »Hörst du«, rief er, »nun treiben sie die Nägel in deinen Sarg. Das Schicksal hat seinen Pfeil auf dich abgedrückt, du magst dich krümmen und winden, wie du willst, er wird dich erreichen.«
Da draußen stöhnte die Nacht. Es waren die Todesschreie der Getroffenen, die auf der unendlichen, dunklen Wahlstatt sanken, die Leben heißt.
All die Kämpfe – und zuletzt doch verzweifeln! Und doch verzweifeln!
So war sein Leben: er ward und ging und geriet in ein Bordell. Er entkam und ging und geriet in das Herz eines jungen Mädchens. Immer geriet er, immer geriet er. Der Mensch geht nicht, er gerät! Das ist die letzte Wahrheit.
Und hier sollte er enden. Er, der noch vor kurzem über sein Leben gesehen hatte wie über weite, weite Ebenen!
Er sah seine gespenstisch flackernden Augen im Spiegel und nickte. »Jaja, du bist gezeichnet!«
Aber vielleicht, vielleicht würde sich die dunkle Wand doch teilen und ihm einen schmalen Pfad zeigen, auf dem er entweichen konnte?
Vielleicht, vielleicht würde er Bianka auch wiedersehen? Da sah er einen vor sich, der von Dorf zu Dorf zog, in den Schenken sang und lustige Verse deklamierte, um seine Schlafstätte zu verdienen. Er wanderte nach Süden, immerzu nach Süden.
Es gab wohl hundert Möglichkeiten, Hunderte und abermals Hunderte von Zufällen.
Da ist ein Theater, vollgepfropft von Menschen. Was spielt man? Man spielt: Yesters Tod. Wißt ihr, was Liebe ist, ihr Leute? Nun tritt einer vor die Rampe und verbeugt sich. Sein Lächeln ist traurig, seine Augen erstorben. Ich habe mein Herzblut für dieses Stück gegeben, ihr da drunten, das ihr applaudiert. In der ersten Sitzreihe – er verbeugt sich tief und lächelt ...
Da ist der Kurgarten eines Weltbades. Die elegante Welt promeniert, die Kapelle spielt. Aus Tristan und Isolde. Sie spielt gut, sie spielt für verfeinerte Ohren. Auf einer Bank am Wege sitzt ein Bettler. Er kam zu Fuß hierher, seine Schuhe sind zerrissen. Grau und welk ist sein Gesicht, vom Trunk verwüstet seine Augen. Er hat sein Ziel verfehlt, er ging zugrunde. Einst war er ein König. Die Allee herauf wandelt eine schlanke Frau am Arme ihres Gatten. Sie sind glücklich, sie sind vornehm, hinter ihnen geht ein Diener mit silbernen Knöpfen. Die schlanke Frau streift den Bettler mit einem kurzen Blick. Sie ist reich, sie ist glücklich, was kümmert sie der Bettler? Heute, morgen, jeden Tag. Die Kapelle spielt sanfte Weisen, die vornehme Welt zieht vorbei. Die schlanke Frau sieht in des Bettlers verwüstete Augen. Er hat sein Ziel verfehlt, einst war er König. Was kümmert sie der Bettler? Und heute – heute kommt ein Diener mit silbernen Knöpfen an die Bank am Wege und spricht: »Jemand interessiert sich für Sie. Man bittet Sie, Ihren Namen zu sagen.« Da erhebt sich der Bettler und geht. Weit, weit, so weit ihn seine Füße tragen ....
Endlich graute der Tag.
Er wuchs, er wuchs, es wurde ganz helle.
Ginstermann hätte sich gerne von irgend einem Gotte eine kleine Ewigkeit erbeten, um sie zwischen Nacht und Tag zu schieben. Nur eine kleine Ewigkeit. Aber unaufhaltsam flogen die Minuten. Keine Macht der Welt hielt auch nur eine Sekunde auf. Ja, man mußte eilen, um mitzukommen.
Es war ein trüber Tag. Zeitweise regnete es.
Aber Bianka würde kommen, so konnte sie unmöglich von ihm gehen.
Den Vormittag über saß Ginstermann auf den Treppen des Monopteros. Als die Glocken zu Mittag läuteten, begab er sich in die Stadt, weit hinein, um die Zeit zu verscheuchen, die ihm nun endlos deuchte. Er trieb sich auf dem Bahnhof herum, sah Züge gehen, hereinbrausen, er ging zur Parade an der Feldherrnhalle, hörte die Wache mit Rumtata und vielen Kommandorufen aufziehen, betrachtete sich die Fremden, die auf den Staffeln herumsaßen und lauschten.
Kurz vor drei stieg er wieder den Hügel zum Monopteros hinauf.
Bianka stand schon oben.
»Ich bin etwas früher daran« sagte sie, sich gleichsam entschuldigend.
Seit wann sie schon da sei?
Ungefähr zehn Minuten.
Wenn er es nur geahnt hätte!
Bianka trug ein graues Kleid und graue Glacé, so grau wie der Himmel.
Sie lächelte, aber ihr Lächeln war nicht wie früher.
Der Park war wie ausgestorben, die Wege naß und aufgeweicht. Das Gras lag am Boden, die Blätter hingen schlaff. Aus den grauen Tüchern da droben fielen vereinzelte Tropfen, ein weißer Fleck, wie ein transparenter Öltropfen auf grauem Papier, zeigte den Stand der Sonne.
Bianka brach ein Zweigchen zwischen den Fingern.
»Wir werden kein hübsches Reisewetter haben.«
Aber es sei kühl. Wie qualvoll wäre doch die Hitze in den Waggons.
»Ja, das ist allerdings ein Vorteil.«
Nach und nach kamen sie in ein leidliches Gespräch. Sie sprachen von ihren Zusammenkünften, bei Kapellis Fest angefangen. Sie ließen alle diese herrlichen Tage an sich vorüberziehen, ergänzten ihre Erinnerungen und lachten wohl auch über dies und jenes. Ja, sie lachten. Ginstermann kam in die Laune, Scherze zu machen, die er stets einigemal wiederholte. Und Bianka lachte mit. Eins wie das andere war bemüht, möglichste Alltagsstimmung vorzugeben, ohne zu erwarten oder zu wünschen, daß der andere sie für ernst nehme.
Hier geschah das, hier sprachen Sie das, sagte Bianka, während sie die bekannten Wege schritten.
Auch die Stelle passierten sie, wo Ginstermann einst im Wahnsinn das Kreuzchen eingegraben. Er schloß die Augen, um es nicht zu sehen.
Was wird morgen sein, was wird morgen sein, dachte er, und jedesmal zerriß sein Herz. Seine Lippen aber scherzten in gleichgültigem Tone.
Es begann zu regnen. Rings um sie rauschte es.
»Wollen Sie nicht Ihren Schirm aufspannen?«
»Nein, nein.«
»Wollen Sie nicht ins Restaurant treten?«
»Nein, nein.«
So schritten sie im Regen, der ihre Hüte zerweichte.
»Ich reise gar nicht gerne«, sagte Bianka, »gar nicht gerne.« Dann lachte sie nervös und fügte hinzu: »Morgen um diese Zeit bin ich in Mailand, im schönen Mailand.«
»Und übermorgen in Nizza?«
»Voraussichtlich.« Sie blieb stehen und schüttelte den Kopf, um das Wasser aus dem Hutrande zu schaffen.
»Aber Sie bleiben doch nicht immer in Nizza?«
»Nein, Papa trägt sich mit dem Gedanken, nach Kairo überzusiedeln.«
»Nach Ka–iro!«
Seine Zähne schlugen aufeinander, während er dieses Wort wiederholte. Er biß sich in die Lippen und hieb mit dem Stocke Blätter vom Gebüsch.
Dann lachte er heraus.
»Das ist ein kleiner Katzensprung – das ist ein kleiner Katzensprung!« rief er aus.
Bianka sah ihn an und bat ihn mit den Augen, sich zu fassen.
»Das ist ja in Afrika!« lachte er. »In Afrika!«
Tränen traten ihm in die Augen, so sehr er auch dagegen ankämpfte.
Bianka nahm seine Hand und flüsterte: »Bitte.«
»Bitte«, flüsterte sie.
Er hatte sich auch sofort wieder und ging plaudernd neben ihr her. Aber seine Gedanken waren nicht bei seinen Worten. Er dachte daran, daß Bianka nach Kairo übersiedeln würde. Da gab es zwei Wege: einen übers Meer, einen über Kleinasien.
Heizer, Steward?
Ah, es war ja vorbei. Er würde es nicht ertragen. Morgen würde er schon verzweifeln.
Da stand Bianka still und sagte: »Wir müssen nun Abschied nehmen.«
»Ja«, sagte er rauh, »einmal muß der Teufel aus der Schachtel.«
Bianka blickte zu Boden, sie war ganz bleich.
Sie soll nur auch leiden, weshalb ließ sie mich nicht in Ruhe, dachte Ginstermann und richtete sich straff auf, ein bitteres Lächeln auf den Lippen.
Dann ging sie weiter, um bald wieder stehen zu bleiben.
»Wollen wir nicht noch einmal zu unserem Monopteros hinaufsteigen«, fragte sie und lächelte.
»Wie Sie wünschen.«
Nun galt es, sich zusammenzunehmen. Seine Hände bebten bei jedem Pulsschlag, in seinem Kopfe wimmelten verrückte Einfälle. Um keine Torheiten zu begehen, fing er an, von seinen Plänen zu sprechen.
»Nun werde ich arbeiten, arbeiten, viel arbeiten. Ich habe da so etwas im Kopfe. Da kommt einer drinnen vor, der im Sterben liegt. Aber zuvor will er sich noch den Spaß machen, seiner Umgebung die Wahrheit zu sagen. Er zertrümmert alle Heiligtümer, macht ein halbes Dutzend Menschen unglücklich. Nun empfehle ich meinen Geist in Gottes Hände, höhnt er und ist tot. Punkt. Hoffentlich wird es nicht verboten ...«
Da tauchte der Monopteros vor ihren Blicken auf, und jäh brach er ab.
Jetzt kommt der Abschied, jetzt kommt der Abschied, rief es in ihm. Zorn, Wut, Schmerz schüttelten ihn, er hätte niederstürzen mögen und jammern wie ein Kind.
Sie waren oben.
Bianka sah über den Park hinüber nach den Türmen der Stadt, deren Spitzen blinkten.
Die Sonne arbeitete sich durch die Wolken, und Milliarden Fünkchen fielen durch ihre Strahlen. Irgendwo begann ein Fink zu rufen. Auf dem Wege drüben gingen zwei Herren. Ein braungefleckter Hühnerhund sprang in großen Sätzen über die Wiese. Irgend jemand pfiff, aber der Hund kümmerte sich den Teufel um seinen Herrn.
Bianka wandte ihm den Blick zu.
Blässe bedeckte ihr Gesicht, ihr Haar sah ganz golden aus. Die schmalen, durchsichtigen Lippen waren halb geöffnet, die Pupillen ihrer Augen groß.
Da gewahrte er, daß sie litt, ja, daß dieses Leiden nicht von heute war. Diese Stunde ließ es ihn erkennen. Vielleicht hatte sie ebenso gerungen wie er.
Aber das hielt kein Mensch länger aus, er wandte das Gesicht ab und sah dem Hühnerhund auf der Wiese drunten zu.
Bianka legte ihm die Hand auf die Schulter. Diese leichte Hand drückte ihn fast zu Boden. Aber er war mutig und lächelte, obschon er ihr hätte zu Füßen stürzen und ihre Knie umklammern mögen.
»Wir müssen uns jetzt adieu – sagen,« flüsterte sie. So leise. Es war nur ein Hauch.
»Ja«, sagte er, laut.
»Wir müssen jetzt voneinander gehen«, flüsterte sie, so leise wie vorhin. Ihre Augen wurden größer, ihr Lächeln erstarrte.
Sie nahm die Hand von seiner Schulter und blickte in die Sonne.
»Es ist so schön. Gerade jetzt.«
Die Sonne hatte die Wolken durchbrochen und leuchtete aus einer phantastischen, ungeheuren Grotte von blendendem Bernstein.
»Ja, es ist schön«, wiederholte Ginstermann ohne Gedanken.
In allernächster Nähe sagte jemand unvermittelt laut: Das ist ja nicht möglich, das ist ja nicht möglich! Und ein anderer lachte und hustete.
Das ist schon möglich, Sie Esel, dachte Ginstermann.
Die Sonne überstrahlte Biankas Antlitz, so daß es durchgeistigter, ätherischer erschien. Die Sonne tauchte bis auf den Grund ihrer Augen.
Bianka streckte ihm die Hand hin, von der sie den Glacé gestreift hatte.
Ginstermann lächelte schmerzlich, dann nahm er mit raschem Griffe ihre Hand und sagte:
»Adieu!« So tapfer als möglich sagte er es. Adieu! –
Bianka blickte ihn an, ein unnennbarer Ausdruck erfüllte ihr Gesicht, jede Linie verändernd.
Im nahen Laubgang pfiff jemand einen Gassenhauer.
Bianka zog ihn sanft an die Brust und küßte ihn auf die Lippen.
Ihr Herz pochte gegen das seine.
Er gab ihr den Kuß zurück.
»Liebster!« hauchte sie, und ihre Augen glänzten in Tränen.
Dann wandte sie sich rasch, sprang die Stufen hinab und verschwand im Laubgang.
Ginstermann stand betäubt. Er stand ganz im Licht.
Ein braungefleckter Hühnerhund springt über die Wiese.
Ein braungefleckter Hühnerhund springt über die Wiese ....