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Die Leopoldstraße ist eine schöne Straße.
Jeder, der sie kennt, wird das zugeben müssen.
Zu beiden Seiten stehen Paläste und Villen in endloser Reihe, von Gärten umgeben, die ein geschulter Gärtner pflegt. Die Portale sind massiv, von kunstvoller Schmiedearbeit, vergoldet, jedes in seiner Art ein vollendetes Werk. Die Fassaden verraten das verfeinerte Auge des Architekten in Proportionen und Schmuck.
Das sind nicht Häuser, in denen die Menschen schlafen, kochen und sich vor Kälte und Nässe schützen, das sind Heime, in denen die Menschen leben.
Hier gibt es kostbare Gardinen mit verschwenderischen Falten, hier blickt das Auge in stilvoll eingerichtete Zimmer mit schimmernden Rahmen an den Wänden.
Feine Leute erscheinen an den Fenstern, feine Leute kommen die Stufen herab. Die Herren in Uniform, mit Seidenhüten, die Damen in süßfarbenen Toiletten mit geschmeidigen, wohltuenden Bewegungen, den Abglanz der Sorglosigkeit auf dem gepflegten Antlitze.
Die Pappeln stehen in geordneten Reihen, ehrwürdig, ein hundertjähriges Geschlecht, bilden sie Spalier, gleichsam um die Fußgänger vor den vorbeirollenden Wagen zu schützen und vor dem Anblick der rohen, schwitzenden Arbeit zu bewahren. Es ist, als ob die freie Natur, der Wald, das Feld hereingepilgert kämen. Sie sind der Anfang eines Weges, der auf die Wiesen führt, und man fühlt sich gleichsam entfernter von der fauchenden, surrenden, stauberfüllten Stadt.
Im beginnenden Frühjahr bot die Straße ein berückendes Bild. Die Bäume, die Sträucher schlangen ihre frischgrünen Zweige in zierlichen Tanzgesten um die harten Ecken der Häuser, so daß Paläste und Villen den Eindruck erweckten, als hätten die Maler sie ersonnen, nicht die Architekten gebaut. Die Pappeln begannen zu knospen, und ab und zu schlüpfte ein kleiner Vogel aus ihrem Geäste.
Ginstermann hatte an all dem Gefallen.
Schon früher war er gerne diese vornehme Straße hinabgegangen, in der letzten Zeit kam er öfter heraus. Wenn er gerade Zeit hatte. Des Mittags, um sich in der Sonne zu wärmen, des Abends, um die süße Luft zu schlürfen, die schon gewürzt war von dem Duft der Blumen und Sträucher, die noch gar nicht blühten. Und hier außen war die Luft auch klarer als in den Straßen der Stadt, die nach dem Dunste und Schweiße des Tages rochen.
Auch war es angenehm, hier zu gehen, wo man nicht von Vorbeieilenden angerannt wurde, wo nicht das ununterbrochene Rufen, Pfeifen und Klingeln jede Melodie ertötete, die leise aus dem Innersten des Empfindens sang.
Er wollte sich etwas erholen, sein Blut von den schädlichen Stoffen reinigen, die der dumpfe Winter und das ewige Zimmersitzen in ihm erzeugten. Deshalb gönnte er sich diese Spaziergänge. Zudem arbeitete er, während er ging. Er trug stets ein Notizbuch bei sich, in das er alles, was ihm bemerkenswert schien, verzeichnete. Und vielleicht würde er auch Fräulein Bianka Schuhmacher treffen. Ein Paar Worte mit ihr wechseln können, oder sie würde am Fenster stehen, und er konnte zu ihr hinaufgrüßen.
Jedesmal, wenn er sich ihrem Hause näherte, überschritt er die Straße und setzte auf der anderen Seite ebenso gemächlich seine Wanderung fort, als sei er ganz zufällig über die Straße gegangen, und stände dort drüben nicht eine Villa, deren Fenster man von hier aus unauffällig überfliegen konnte.
Dabei erfüllte ihn stets eine prickelnde Angst, der gefürchtete und ersehnte Moment könne eintreten. So sehr er sich freute, sie zu sehen, so unangenehm wäre es ihm auf der anderen Seite gewesen, von ihr gesehen zu werden.
Hie und da unternahm er auch noch des nachts einen Spaziergang hier heraus, um nachzusehen, ob das Eckzimmer beleuchtet war. Brannte Licht, so war er befriedigt. Er wußte, sie ist da droben, liest, schreibt oder träumt, verspotteten ihn aber die weißen Gardinen der dunklen Fenster, so wurde er unruhig und machte sich alle möglichen Gedanken.
Dazwischen wiederum vergingen Tage, ohne daß er sein Zimmer verließ. Hartnäckig blieb er zu Hause. Sein Betragen erschien ihm albern und kindisch. Sein Stolz erwachte. Sein wahnwitziger Stolz, der es für entwürdigend hielt, sich mit einer anderen Person zu beschäftigen als der eigenen.
Dieser Stolz rief ihm zu: Bist du es, Ginstermann? Bist du des Alleinseins schon müde?
Dann vergrub er sich wieder in seine Arbeit, grübelte er über seinen Problemen und wandelte er auf der freien, selbstherrlichen Höhe seiner Vernunft.
Aber da war eine Sehnsucht in ihm, die zuerst leise nagte, pickte, dann pochte, brauste, um endlich wie ein Sturm durch ihn zu fahren, der ihn vor sich hertrieb.
Er erschien wieder in der Nähe der Villa, morgens, mittags, nachts.
Er schrieb in Gedanken tausend Billette, um sich ihr zu nähern.
In trockenem, sachlichen Tone dankte er ihr darin für ihren Gruß und grüßte er sie wieder.
Hätte er nicht das Recht dazu? Hatte sie ihm nicht ebenfalls geschrieben?
Aber er zerriß sie auch alle wieder in Gedanken und warf die Schnitzel sorgfältig in den Ofen. Er, jener Ginstermann, der die dünkelhafte Flachheit des Weibes, sein halbtierisches Wesen in Aphorismen und Zynismen gegeißelt hatte, die die Runde in der Bohême machten, sollte ein Billet an eine junge Dame schreiben? Und wenn auch diese junge Dame zehnmal besser war als ihre Schwestern, lauerte nicht das Weib in ihr?
Was trieb ihn zu ihr? Weshalb hatte sie ihm geschrieben? Wer war sie?
Es waren stets die gleichen Gedanken, die in seinen Reflexionen wiederkehrten wie die Figuren eines mechanischen Theaters.
Seine Überzeugung ging dahin, daß es das beste sei, sich von diesen Ideen zu befreien, wenn er sich Klarheit über das Mädchen verschaffte. Würde er sie einigemal gesprochen haben, so konnte er sich ein sicheres Urteil bilden und demgemäß handeln.
Aber er vermochte sie nirgends zu finden. Vermutlich saß sie in einer Laube des Gartens, der über die Villa blickte, mit Büchern und Zeitschriften ihre Tage verbringend.
Zu Kapelli kam sie schon lange nicht mehr, die Büste war längst fertig. Ein paarmal hatte sie die Bildhauersleute besucht, aber stets zu einer Zeit, wo er abwesend war.
Endlich löste sich das Rätsel.
Er hatte eine halbe Nacht im Café zugebracht, um mittels Lektüre diese wie Schildwachen in seinem Kopfe hin- und hergehenden Gedanken zu verscheuchen, und wollte vor dem Nachhausegehen sich – wie er es nannte – nach ihrem Befinden erkundigen.
Da bemerkte er noch Licht in ihrem Zimmer. Aber es war kein Licht, bei dem man liest oder schreibt, es war gedämpftes, sorgfältig gedämpftes Licht, wie es in Krankenzimmern brennt.
Er erschrak bei dieser Wahrnehmung, als sei etwas Übernatürliches geschehen.
Nun wußte er es: sie war krank.
Der Schmerz übermannte ihn augenblicklich. Er nahm den Hut ab, stand starr wie eine Säule und flüsterte: Sie ist krank.
Er trottete nach Hause, immer wieder stehen bleibend und wiederholend: Sie ist krank.
In seinem kahlen, trostlos toten Zimmer angekommen, nahm er einen Blaustift und schrieb mit großen, stumm-wehklagenden Lettern an die Wand: Sie ist krank.
Er blies das Licht aus. Ach, wozu brauchte er Licht.
Er schritt in seinem Zimmer auf und ab, immerzu.
Seine Schritte sagten: Sie ist krank. Seine Uhr sagte: Sie ist krank. Krank, krank, knarrte eine lockere Diele.
Draußen sang der Südwind. Der Tag graute. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
Zwei Herren kommen die Granittreppe herab, gehen durch den Vorgarten hindurch.
Der eine ist alt, lächelt das Lächeln des Stoikers in seinen weißen Bart, der andere ist jung, hübsch und schmalbrüstig. Er hat die rosigen Wangen eines Kindes.
Ginstermann steht hinter einer Litfaßsäule und beobachtet sie. Er will aus ihren Mienen lesen, was in den Gehirnen dieser beiden vorgeht. Aber das Gesicht des Alten ist verschlossen und verbirgt alles hinter diesem stoischen Lächeln, das Gesicht des Jungen ist zu hübsch, um Gedanken verraten zu können.
Sie gehen an ihm vorüber. Der Alte sagt, mit dem Kopfe nickend, als sei er mit einer Stahlfeder am Rückgrat befestigt: Jawohl, jawohl, jawohl. Sein Handschuh entfällt ihm. Der Junge bückt sich rasch und gelenkig und hebt ihn auf.
Danke, sagt der Alte, – jawohl.
Sonst vernimmt er nichts.
Er folgt den beiden. Im Abstand von zwanzig Schritten. Aber ihre Gestikulationen sind korrekt und beherrscht, auch sie verraten nichts.
Hinter dem Siegestor ist der Junge plötzlich verschwunden, spurlos, als sei er in die Luft zerstoben. Der Alte aber geht langsam mit steifen Schrittchen die Straße hinauf. Er tritt in ein Haus, verläßt es nach einer Viertelstunde wieder. Er biegt in eine Seitenstraße, tritt abermals in ein Haus, verläßt es nach einer Viertelstunde wieder. Das wiederholt sich einigemal.
Endlich verschwindet er hinter einem Portale. Er kehrt nicht zurück. Ein großes Emailschild ist an dem Portale angebracht, darauf steht: Wirkl. Geheimrat Prof. Dr. von Gagstetter.
Ginstermann begibt sich in das nächstbeste Zigarrengeschäft.
»Pardon,« sagt er, »ich will nichts kaufen, ich möchte Sie um eine Gefälligkeit ersuchen. Das Adreßbuch, bitte sehr. Es ist da etwas vorgekommen, man braucht einen Arzt, einen Spezialisten.«
Eine Dame überreichte ihm das Buch. »Bitte schön,« sagt sie höflich, ihn mit dem Interesse der Teilnahme betrachtend.
G, g – g – a b c d – g
Gagstetter – Spezialist für Krankheiten der Atmungsorgane.
»Danke, vielen Dank!«
»Bitte schön.«