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»Kann ich weiter lesen?«
»Ja, lesen Sie weiter.«
Sie saßen zusammen auf einer einsamen Bank aus Birkenstämmen, der Ginstermann den Namen »zum schlafenden Brahmanen« gab.
Über ihnen die grüne Flut der Wipfel, die sich schläfrig hin und her wiegte. Ab und zu fiel ein Stückchen Sonne, ein Stückchen blauer Himmel zu ihnen herunter.
Sie waren ganz allein.
Und Ginstermann fuhr fort:
Yester kehrte spät in der Dämmerung zurück.
Er trug einen Strauß blauer Glockenblumen und war so müde. Die Sonne, die ihm noch in den Augen brannte, hatte ihn müde gemacht. Er war am Bache gesessen und hatte dem Spiel der Fische zugesehen. Es war ihm so eigen zumute.
Fahl leuchtete das Haus zwischen den Birken, fahl leuchteten die Hyazinthen, in denen es stand.
Die Dämmerung machte alles bleich und bläulich dunstend.
Da stand Li! Da stand Li!
Sie hatte das Gewand abgestreift und stand durchsichtig wie Marmor und regungslos. In der Hand hielt sie eine Hyazinthe, das Haupt geneigt, ohne daran zu riechen. Sie stand schon lange so.
Yester näherte sich ihr mit leisen, bebenden Schritten und glitt vor ihr in die Knie. Da bemerkte sie ihn. Sie jauchzte, schlang ihre Arme um seinen Nacken und küßte seine Haare.
Er umschlang sie und küßte ihre Lippen.
»Li! Li!« flüsterte er.
Sie sah ihn an. »Deine Stimme ist ganz anders,« sagte sie.
Er lächelte und bettete ihren Kopf an seine Brust.
Lis Augen waren tief und voller Rätsel. Sie hatte den Wald in den Augen, mit all seinen scheuen Tieren, seinen weißen Blumen, seinen purpurnen Schatten.
Ein schwüler Wind hauchte. Die Hyazinthen neigten ihr weißes Haupt und atmeten schwermütig süßen Duft.
Da fing Li plötzlich an zu weinen.
Yester erschrak so sehr, daß er keine Worte fand, sie zu fragen, sie zu beruhigen.
»Li, Li,« flüsterte er in seiner Ratlosigkeit.
Li preßte die Wange an seine Brust und weinte.
Der Wind hauchte, und von den Bäumen fielen weiße Blüten auf ihre Haare, ihre Schultern. Die Birken sangen.
»O Li, o Li – Li, o Li?«
Li hielt im Weinen inne und lächelte zu ihm empor.
»Ich sehne mich so, Liebster,« sagte sie leise, ganz leise.
Immer noch fielen Blüten auf sie herab. Die Hyazinthen dufteten stärker, sie litten mit Li.
»Ist es nicht schön bei uns, Li?«
Li nickte.
»Ist der Wald nicht herrlich? Duften die Blumen nicht köstlich, glitzert nicht der Tau an den Rosen des Morgens?«
Li nickte.
»Und lieb ich dich nicht?«
»O Yester!«
»Und doch – und doch – Li?«
»Ich sehne mich so, Yester. Yester, ich sehne mich so ...«
Im Hain schlug süß ein Vogel. Bald nahe, bald ferne. Weit drinnen im Walde, da antwortete es ihm. Im selben süßen Tone. Nun waren es zwei, nun drei, nun waren es viele. Sie lockten sich mit schmelzender Stimme, sie antworteten einander mit ihrem süßesten Liede. Es sang der ganze Hain.
Da droben gingen die Sterne, gingen langsam die Sterne und lauschten.
Der Wald sandte seine Gerüche, die Wiesen, die Quellen. Schatten glitten durch die Büsche, jagten sich, fanden sich. Aus den Blüten sahen Augen, schöne, sanfte Augen.
In der Ferne schrie ein Pfau.
Da verstand Yester die Sehnsucht in Lis Augen.
»Li, Li,« schluchzte er.
Der Hain sang, der Wald sandte seine Gerüche, die Wiesen, die Quellen. Da droben gingen die Sterne, gingen langsam die Sterne und lauschten ...
Yester und Li wurde ein Knabe geboren. Es war zur Zeit, als blaue Tulpen das Haus umstanden, und deshalb nannten sie ihn »Blaue Tulpe«.
Alle Tiere des Waldes kamen, um ihn zu sehen. Die Hirsche, die Rehe, die Rotkehlchen, die Eidechsen, die Bienen. Elfen brachten ihm ein Gewand, das sie aus ihren Haaren gewoben, Erdmännlein golden Geschmeide und Spielzeug, das sie gefertigt.
»Blaue Tulpe« hatte die tiefen, klaren Augen Lis. Er hatte Lis Haare, Lis Stimme, er hatte Lis leichte Füße, Lis Lachen, er hatte Lis gütiges, goldenes Herz.
Von Yester hatte er die tiefe Farbe der Lippen, von Yester hatte er – die Art, Li zu lieben ...
Weiter vermochte Ginstermann nicht zu lesen. Tränen kamen in seine Stimme. Er mußte innehalten, um nicht in Weinen auszubrechen.
Sie saßen beide und waren stille.
Über ihnen rauschte die grüne Flut, die Stämme tönten.
Bianka stand auf. Ohne Ginstermann anzublicken, sagte sie: »Wir sind so allein.«
Und sie ging.
Ginstermann blieb noch eine Weile sitzen, die Hände vor die Augen gepreßt, dann stand er auf, ihr zu folgen.