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III.

Ginstermann verlebte die folgenden Wochen in gewohnter Zurückgezogenheit.

Wie früher ließ er sich des Mittags seine Mahlzeit auf das Zimmer bringen, um nicht genötigt zu sein, in einem lärmenden Lokal zu speisen und mit gleichgiltigen Leuten ein Gespräch führen zu müssen. Nur des Abends, wenn die Dämmerung herabsank, und es dunkler war, als wenn alle Lampen in den Straßen brannten, verließ er zuweilen das Haus, um einen kurzen Spaziergang zu unternehmen. Diese Spaziergänge benutzte er dazu, sich in Gedanken auf die Arbeit des Abends vorzubereiten.

Die Ereignisse jenes Abends hatten ihm zu denken gegeben.

Zu nüchterner Vernunft zurückgekehrt, hatte er mit Erstaunen wahrgenommen, mit welcher Schnelligkeit er die Herrschaft über seine Seele verloren. Wenn er sich daran erinnerte, wie er hinter der Pappel stand und auf das schlanke Mädchen am Fenster blickte, so sah er gleichsam einen Fremden vor sich, dessen Gebaren er kopfschüttelnd und mitleidig lächelnd beobachtete.

Er erklärte sich diese Erregung als eine Reaktion seines Gehirns, das sich seit Jahren in rastloser Tätigkeit befand, immer auf der Flucht vor alten und der Jagd nach neuen Gedanken, sich kaum die notdürftigste Ruhe und Zerstreuung gönnend.

Jenes unscheinbare Erlebnis war für ihn das gewesen, was für den Nüchternen ein Schluck Wein ist, es hatte ihn berauscht. –

Ginstermann hatte früher ein Leben ohne Maß und Ziel gelebt, teils von seinen lebendigen Sinnen getrieben, teils von dem Wunsche, den Hunger seiner Seele an möglichst vielen Eindrücken zu stillen. Erst seine reisende Erkenntnis gebot ihm eine Regulierung seiner Lebensweise, wenn er seine Seele nicht durch Erinnerungen überlasten wollte.

Sie riet ihm zur Vorsicht angesichts der Empfindsamkeit seiner Seele, die eine Leidenschaft in jungen Jahren noch gesteigert hatte.

Jahre der Einsamkeit und Verinnerlichung ließen Erkenntnisse in ihm reifen, die ihm Welt und Menschen in neuem Lichte zeigten.

Er erkannte, daß das, was man im allgemeinen Leben nannte, ärmlich und nüchtern war gegen ein Leben in der Phantasie, gegen die Beschäftigung mit den ewigen Ideen, die geheimnisvoll die Jahrtausende regieren, das Tun der Menschen bestimmen.

Nach und nach war er zur gänzlichen Unfähigkeit gelangt, mit den Menschen zu verkehren.

Er verachtete, er bemitleidete sie.

Sie waren ihm zu wenig Luxuswesen, zu wenig Dichter, ohne freie Gefühle, ohne den Wunsch nach Flügeln. Ihre Ziele waren klein und kläglich und reichten nicht über den Tag hinaus. Die gesicherte Existenz im Himmel hatte sie vergessen lassen, daß der Mensch auch auf der Erde etwas zu vollbringen hatte.

Seine Geschlechtsgenossen waren ihm nicht sympathisch. Ihre rohen Sinne, ihre Lüsternheit, ihre vergiftete Phantasie stießen ihn ab. Die Widerstandslosigkeit, mit der sie sich den von der Masse diktierten Gesetzen und ihren Trieben unterwarfen, machte sie ihm erbärmlich.

Das Weib schien ihm erst auf einer Durchgangsstufe zum Menschen angelangt zu sein. Das Unklare, Vorurteilsvolle, das Spekulierende, das wenig Schöpferische, seine Freude an glitzernden Dingen ließen es ihm als ein Wesen erscheinen, das um tausend Jahre hinter dem Manne zurück war und sich nicht Mühe gab, diesen Vorsprung einzuholen. Es lebte von den Erkenntnissen des Mannes, ohne dies einzugestehen und ihm Dank zu wissen, es lebte von seiner Seele, ohne ihm etwas dagegen zu geben.

Auf die Suche zu gehen nach einem Gefährten, einer Gefährtin, hatte er schon lange aufgegeben, da ihn die Erfahrung lehrte, daß in jedem neuen Menschen wieder der alte steckte, dem er mißmutig und gelangweilt den Rücken gedreht hatte.

Nicht als ob er in Zeiten geistiger Ebbe nicht unter seiner Vereinsamung gelitten hätte. Es geschah manchmal, daß er des Nachts mit fiebernden Augen in die wogenden Visionen seiner Phantasie starrte, und gleichzeitig sein Herz in ihm vor Hunger und Sehnsucht pochte.

Er war entstanden aus Mann und Weib und deshalb zerklüftet. Er hatte das empfindsame, lebensfrohe Gemüt seiner Mutter geerbt und den hochmütigen Verstand seines Vaters. Diese beiden, Gemüt und Verstand, lebten in ungleicher Ehe. Er pflegte über seine weichen Empfindungen spöttisch zu lächeln. Er stand skeptisch jeder Erscheinung gegenüber und entkleidete sie des Tandes, mit dem gutmütige Dummköpfe sie geschmückt. Im Grunde seiner Natur aber lebte das Bestreben, alle Dinge wiederum zu verklären und mit einem Schmucke zu versehen, wie ihn seine Seele liebte.

In den folgenden einsamen Abenden, die ihm eine ruhige Sammlung seiner Gedanken erlaubten, gelang es ihm, die Fremdkörper wiederum auszuscheiden, die seiner Seele gefährlich zu werden gedroht hatten.

Er machte Nachträge in sein Tagebuch, revidierte seine Aufzeichnungen, blätterte in alten Manuskripten, ließ wieder und wieder die ewigen Fragen Revue passieren, nach neuen Gesichtspunkten, neuen Perspektiven suchend.

Indem er die Entwicklung seines inneren Menschen überblickte, erkannte er mit Deutlichkeit, daß sein Weg in die Höhe führte. Abgründe lagen zwischen ihm und der Welt. Und alle Brücken waren gefallen. Er hatte ihre Irrtümer und Götzen überwunden.

Mit Genugtuung bemerkte er, daß er gewachsen war, seit er sich das letzte Mal sah, daß seine Seele fortfuhr, ihr Licht in die Finsternis zu schleudern.

Und mit dieser Erkenntnis kam frischer Mut über ihn und neuer Stolz. Ein ungestümer Schaffensdrang erfüllte sein Wesen. Fiebernd vor Schaffensfreude und Finderglück verbrachte er seine Tage und Nächte.

Draußen schneite und stürmte es. Es war ihm gleichgültig, ob das Jahr vorwärts oder rückwärts ging.

Der Vorfall von neulich entwich in weite Fernen und verlor an Leben und Bedeutung. Das schlanke Mädchen tauchte nur dazwischen in seinen Gedanken auf und versuchte ihn mit großen, schimmernden Augen zu bannen. Aber sie brachten ihm keine Gefahr mehr. Blick und Farbe erloschen, sobald er es wollte.

Und nur, wenn sein Gehirn müde war von langer Arbeit, stieg der Wunsch in ihm auf, das Mädchen wiederzusehen, sich zu erfreuen am Klange dieser Stimme, der Klarheit dieser Augen. Aber des Morgens erwachte er stets heiter, sorglos und ohne Wünsche.

Der Wert jenes Weibes verringerte sich keineswegs in seiner Vorstellung. Er war überzeugt, daß sie einen reiferen, höheren Typus repräsentierte, als ihre Schwestern, die er kannte.

»In seinem Herzen jedoch wohnte die Sehnsucht nach einem Weibe hinter den Sternen. Singe hieß sie, das ist: ich bin nicht.«

Seine Gefühle gehörten den Gestalten, die er schuf, seine Gedanken gehörten ihnen.

Seine Seele gehörte seiner Arbeit, seinem Ziele.


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